Magische Verbindung

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Bisher habe ich keine positive Antwort bekommen und verlasse mich nicht darauf. Mit einem Trick versuche ich nun, über einen Umweg in München anzukommen. Ich habe eine Zusage zum Studium an der Theologisch-Philosophischen Hochschule in Passau, einem Jesuitenkolleg, in den Fächern Philologie, Philosophie und Biologie. Wenn ich dort anfange, kann ich vielleicht in die Medizin überwechseln.

Meine Vision für die Zukunft: Ich fange in Passau an, bekomme dann eine Zusage und kann mit dem Medizinstudium beginnen.

Von einer Bekanntschaft besonderer Art sollte ich nicht vergessen zu berichten. Ich wurde von dem Inhaber eines Verlages, der zufällig in seinem Geschäft anwesend war, als ich eine Landkarte kaufte, im Laufe einer Unterhaltung zu einem privaten Faschingsfest eingeladen; wie ich dann sah, kam ich in eine feudale Gesellschaft, es war eine lockere Fete, in der ich mich mit einem jungen Mädchen gut unterhielt, das mit seinen Eltern da war. Im Verlauf von Gesprächen lud mich ein Herr X. – wie ich mich erkundigte, Chef einer großen Bank, der solo da war – nach St. Moritz zum Skilaufen ein, ich wandte ein, zu einer solchen Reise kein Geld zu haben, er sagte, selbstverständlich sei ich eingeladen, mir ging ein Licht auf, er und der Verleger waren mehr als befreundet und ich hatte wohl ihr Interesse geweckt. Ich schreckte zurück und zog mich aus der Affäre. Das attraktive Mädchen jedoch war mir nicht gleichgültig, sie wohnte in einer herrschaftlichen Villa im Süden Frankfurts mit einem Rondell voller Blumen davor und einer Anfahrt. Als ich dort erschien, wurde ich jedoch höflich abgewiesen, die Tochter sei nicht zu Hause, ich konnte mir denken warum, sie hatten mich ja bei den Homos getroffen. Mich verließ der Mut, sie weiter zu verfolgen. Ich hoffe, ich höre mal wieder von dir.

Dein E.

N.: Ein Homo bist du wirklich nicht, ich kann es nachfühlen, für mich ist es auch unverständlich und eine genetische Abnormität, das körperlich wie geistig anziehende Weibliche so zu verachten, obwohl sie doch einen Teil davon haben.

E.: Ich merke, du bist mir doch ähnlich.

Die Winter damals waren noch echte, Schnee auf dem Feldberg war üblich und der Siegfriedschuss eine fast alpine Strecke, als sie noch nicht verbreitert war. Skilaufen, wenn auch noch nicht alpin, war seit meinem siebten Lebensjahr mein winterliches Vergnügen, meine Mutter und ich, später mit meinen Schulkameraden, G. G., G. F., besuchten den Bilstein, es waren Hickory-Bretter, auf die mit dem Bügeleisen Wachs aufgebracht wurde, die Bindungen waren aus Leder und die Ferse war nicht fixiert. So konnte man nur Kurven im Telemarkstil fahren. Es gab keine Pisten, immer nur Tiefschnee. Schwarzenberg und Weißkammer hatten die steilsten Hänge.

Unsere Bretter gaben wir später als Spende der Wehrmacht und erst nach dem Krieg ergatterte ich mir, wer weiß woher, ein Paar Eschen-Skier, die ich mühselig mit Stahlkanten armierte, vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter lange Schienen, die mit kleinen Schrauben auf den ausgekehlten Seiten der Bretter fixiert wurden und von kleinsten Steinen beim Gleiten ausrissen. Herr F., ein Zahnarzt, der wohl in der deutschen Meisterschaft mitgemischt hatte, suchte die steilsten Hänge aus und da die Fersen jetzt fixiert werden konnten, gelang der geübte sogenannte Temposchwung, bei dem man hinten die Skier abhob und sozusagen um die Spitzen mit parallelen Skiern drehte. Eine Art, die den Telemark hinter sich ließ. Skischuhe machte mir Herr B. aus Chromleder, vorn eckig, meine Mutter hatte das Leder irgendwie erhandelt.

Der »Siegfriedschuss«, von Herrn P. E. bevorzugt, hatte den Nachteil, dass bald spitze Basaltsteine die Stahlkanten abrissen. So kam ich zu meinen Skiern aus Fuchsmetall, soviel ich weiß, dem ersten Metallski überhaupt, er war schwerer, aber unverwundbar. Im Keller steht er noch und ist museumsreif.

Es kamen die ersten amerikanischen, man würde heute sagen, Musicals, nach Frankfurt: die Broadway-Jazz-Parade, die Broadway-Revue in drei Teilen, eine Albert-Palmer-Produktion, und Filme wie »Hallo Fräulein« mit Margot Hielscher.

Radio Frankfurt, Symphoniekonzert, 12. Dezember 1948, pünktlich 17.00 Uhr. Winfried Zillig, Brahms Klavierkonzert Nr.1 d-Moll, Solistin Frieda Kwast-Hodapp, Symphonie Nr. 1 c-Moll. Eine Notiz von mir dazu: Mich muss wohl eine Blonde beeindruckt haben, es steht auf der Rückseite des Programms, ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, und das in Englisch.

Little Blondie,

I hope I shall see you once more on Sunday, or I will seek for you the whole town restlessly until I have found you. When I saw you, you were escorted by three boys walking up the street to the Main-Station. Like Sherlock Holmes I sneaked along the line of houses on the other side of the street, I lost sight of you, darling, at the station, I could find you no more in the streets either, but the first glimpse went into my heart, bye, bye, darling honey.

Offensichtlich war ich sehr beeindruckt.

N.: Ich muss sagen, dein Englisch war gar nicht so schlecht, der Beamte aus Wiesbaden war ungerecht.

E.: Ein Lob von dir, bist du etwa krank?

So packte ich meine Siebensachen in Frankfurt und fuhr nach Passau. Aufenthaltsgenehmigung und Wohnungszuweisung für eine bestimmte Zeit waren nötig und mit Stempeln versehen. Die Hochschule, ein altes Gemäuer, meine Lehrer Jesuiten mit dem berühmten Kragen, die kein Problem mit dem Protestanten hatten. Ein Kommilitone nahm sich meiner an, ich wurde in katholische Kreise eingeführt, alles perlte wie immer an mir ab. Der Lichtblick war eine hübsche Lehrerstochter aus H., sie ging noch zur Schule, ihr Abitur stand bevor, ich hatte sie auf dem Bahnhof getroffen, mich traf es auch wie ein Blitz, sie war Fahrschülerin. Manchmal wurde ihre Freundin als Alibi gebraucht, wenn wir uns abends trafen, ich erinnere mich noch genau, wie wir meinen ersten Tokajer in einer gemütlichen Schenke tranken. Ich wohnte bei einer Witwe, die natürlich nichts merken durfte. Ich fuhr mit zu ihren Eltern und blieb über Nacht dort, der Herr Lehrer wollte sich wohl ein Bild von mir machen, sein Urteil ist mir nicht bekannt geworden. Nach dem Abitur war ihr Wunsch, Modedesignerin zu werden. Um es vorwegzunehmen, als ich wieder in Frankfurt war, besorgte ich ihr eine Stelle in einem Modeatelier, damit sie ihre praktische Zeit absolvieren könne, anschließend sollte sie auf die Modeschule gehen, ihre Eltern wollten sie aber nicht in eine so verrufene Stadt geben. So wurde nichts aus der Fortsetzung unserer Liebe; außer einigen Briefen und Bildern, auf dem einen, ein später geschicktes Pressefoto, erscheint sie als Model, sie war in der kurzen Zeit noch hübscher geworden, ist mir weiter nichts geblieben als eine Erinnerung.

N.: Wie so fremde Entscheidungen die Weichen umstellen können, was wäre aus euch geworden.

E.: Keinen bissigen Kommentar, nach dem Motto, was hat sie für ein Glück gehabt! Ich nehme an, daran hast du gedacht!

Überraschend erreichte mich die Nachricht, dass ich an der W.-G.-Universität doch noch angenommen worden sei. Ich packte meinen großen Schrankkoffer und konnte mein altes Zimmer bei Fräulein in S. wieder beziehen. In Erinnerung blieb mir, wie die Flammen aus den Schloten der Degussa bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof, als wir den Main überquerten, ein Freudenfeuer für mich waren.

Frankfurt war noch weitgehend zerstört, die Gebäude sowohl der medizinischen Fakultät auf der Sachsenhäuser Seite als auch die in Bockenheim. In den vorklinischen Semestern fand Anatomie im dachdefekten anatomischen Institut, Biochemie im Speyerhaus, Biologie, Physik, Chemie, Botanik in Bockenheim statt. Die Obermainbrücke war nur für Fußgänger und Radfahrer passierbar, wir mussten sie im Eiltempo überqueren, um zu den theoretischen Vorlesungen zu kommen, in denen wir meist nur Plätze auf der Fensterbank ergatterten, so überfüllt war der Hörsaal. Wie schon in meine Abiturklasse, so kam ich auch zum Studium zu spät, alles war in vollem Gange, ich musste mich beeilen und auch die schon erfolgten Abgaben in Anatomie nachholen. Ich habe es wohl geschafft, wenn auch einmal ein Vorpräparator, Herr Dr. Sch., nicht mit mir zufrieden war und mich zum gefürchteten Prof. St. zitierte. In seiner Anwesenheit prüfte mich dieser über die Anatomie des Kniegelenks, wie es der Zufall will, war ich glänzend informiert und mit »Was wollen se denn, Herr Sch.« triumphierte ich über Herrn Dr. Sch. Jeder Mediziner kennt den Präparierkurs, bei dem peinlich genau Nerven, Gefäße und anderes dargestellt werden muss. Das Dach des Saales war undicht, wenn es regnete, tropfte es auf die Leichen und uns, und das Formalin verstärkte seine Wirkung auf den Olfactorius. Der Spalteholz tat mir gute Dienste. Allmählich bekam ich wieder Übersicht, die Gesichter der Kollegen und Kolleginnen nahmen Form an, ich hielt Ausschau nach sympathischen Typen. Es gab Grüppchen, die wahnsinnig strebsam waren, Einzelgänger, schon älter, und auch wenig attraktive Unauffällige. Von den Damen erschienen mir Verwöhntem nur zwei bemerkenswert. Ich wählte eine aus und versuchte, sie auf mich aufmerksam zu machen. Mit meinem Fahrrad – es fiel mir soeben der Besitzausweis in die Hände über das Panther Original-Fahrrad, Fabrik Nr. 627752, geliefert am 24. Juni 1939 – gelangte ich etwas schneller als die anderen über den Main in die Uni und konnte so in den theoretischen Fächern fast immer noch einen passablen Platz im Hörsaal ergattern, den ich dann für sie reservierte. Von meiner Mutter, die wusste, dass ich Schokolade über alles mochte, bekam ich Pakete, und so konnte ich ihr auch dies bieten. So kamen wir uns näher. Sie wusste nichts über meine Verhältnisse, ich nicht, ob sie liiert war, bis ich allmählich erfuhr, dass sie einen Freund in der Uni hatte. Inzwischen hatte ich aber Feuer gefangen und bemühte mich intensiver um sie. Heute weiß ich, dass viele meiner Kollegen mich um meine Wahl beneideten. Auf dem berühmten Medizinerfaschingsball in Bad Vilbel kamen wir uns dann näher, es erübrigt sich, alle Einzelheiten zu berichten, es erging uns wie vielen Verliebten, wir waren unzertrennlich, bedingt auch durch unsere Vorbereitung zum Vorphysikum, Physikum und Staatsexamen, aber auch durch unsere Planungen für eine gemeinsame Existenz. Das Verlangen, ungestört zu sein, wurde dadurch gestillt, dass wir eine Dachkammer in der Scheidswaldstraße ausbauten, ich mit dem Wissen, wie man eine Mauer um einen Türrahmen errichtet, ein Fenster einputzt und Löcher in der Schräge der Mansarde verschließt, H., wie man sie einrichtet, zwar ohne elektrischem Licht und festem Herd, jedoch mit einem Kanonenofen, der gut wärmte, einer Petroleumlampe, um am Abend zu lesen, und einem Spirituskocher, der warmes Essen ermöglichte. Ein Bett nahm fast den gesamten Raum ein. Aus unserer Sicht war es sehr komfortabel. Ich hatte natürlich noch mein Zimmer in Sachsenhausen. H. war in einem Weinkeller beschäftigt, füllte Barletta-Rotwein ab und komponierte mit dem Chef Liköre und »Asbach Uralt«, wenn Zeit dazu war, ich arbeitete in den Semesterferien bei meinem Onkel auf dem Bau. Heute noch kann ich die Schornsteine auf Häusern am Affentorplatz zeigen, die wir errichteten, Steine und Mörtel wurden die Treppen hinaufgetragen, nicht mit Aufzügen transportiert. Die Maurer kamen aus dem Westerwald täglich mit dem Zug. Zwei Brüder aus Niederbrechen sind mir in Erinnerung, deren Namen ich nicht mehr weiß. Später, am großen Bau der Dresdner Bank, waren natürlich viele andere beteiligt. Ein großer Kran war hier schon installiert, der auf Schienen die Hausfront entlangfuhr. Als ich einmal in der Nähe der Schienen beschäftigt war, traf mich in gebückter Haltung ein Vierkantholz, das aus dem ersten Stock gefallen oder geworfen war und brachte mir eine Fissur des Beckens bei, mit Abriss eines Teiles der Rückenmuskulatur und einem großen Hämatom in der Nierengegend, ich musste einige Tage das Bett hüten. Ich lag wohl einige Sekunden auf den Schienen, vielleicht mit einer leichten Commotio, jedenfalls kam ich zu mir, bevor die Räder des Krans mich überrollten.

 

Durchgangsarzt Dr. H., 30-10-50, arbeitsunfähig. H. pflegte mich und verkürzte mir die Zeit.

Ich habe leider unser erstes Vorlesungsverzeichnis verlegt, aber in einem späteren sind noch die gleichen Professoren aufgeführt, die uns lehrten. Im Vorlesungsverzeichnis steht unter Anatomie: St., ein Gesicht wie ein Bruder von Churchill, nur größer von Gestalt, zeichnete mit beiden Händen symmetrisch Nerven und die Entwicklung von Organen mit farbiger Kreide. O., mit spitzer Nase. Physiologie: W., klein, streitsüchtig, spitzfindig. Physiologische Chemie: F., vollendet angelsächsischer Gentleman, sein wertvolles Buch im Druck, ich ergatterte die Druckfahnen, sozusagen im Loseblattsystem. Botanik: C. M., eine Orchidee. Zoologie: G. Physik: Cz., Spezialität: Schwarze Strahler. Pharmakologie: L., zerfahren und voller Fantasie. Die Wirkung von Coffein beschrieb er so: Stellen Sie sich einen grünen Rasen im gepflegten Park an einem Nachmittag im Frühsommer vor, eine mit Sèvres-Porzellan gedeckte Kaffeetafel, an der Damen sitzen, deren Geschnatter weithin hörbar ist, eine nach der anderen verschwindet hinter den Büschen, das ist Coffein. Das Physikum glücklich hinter uns, 1951, der kleine W. machte einige Schwierigkeiten, denn er konnte es nicht leiden, dass Frauen in die Medizin gingen, wo doch seine Tochter auch Medizin studierte, dann ging es ins Klinische mit neuen Gesichtern.

Die Ordinarien, deren Hauptvorlesungen Pflicht war – die Beteiligten wurden bei Stichproben aufgerufen und zum Katheter zitiert –, waren Prof. H. in Innerer Medizin, Prof. G. in Chirurgie. Die Herren erschienen mit ihren Vorlesungsassistenten und einem Oberpfleger, die die Vorzeigekranken hereinbrachten, an denen dann versucht wurde, die Krankheit durch Vorgeschichte, klinische Untersuchung und Laborbefund zu diagnostizieren und die Therapie festzulegen.

Standard in der Chirurgie war das Demonstrieren von Operationspräparaten, auf einem Tablett serviert vom Pfleger, Herrn H., sozusagen die Trophäen der Operateure, Gallenblasen, Blinddärme, Magenreste, Fremdkörper u. v. a. mehr. Prof. G. trug dies alles mit näselnder Stimme und etwas hängender linker Schulter vor, »nicht wahr«, rügte und scheuchte er seine Hiwis, ein Zwinkern zu uns ließ erkennen, dass sie es nicht ernst nahmen. Zu Röntgenbildern wurde Herr St. gebeten, der sie analysierte, jedoch oft nicht in Übereinstimmung mit dem großen Chirurgen, es kam zu unserem Vergnügen zum Streit.

Herr Prof. H., Innere, souverän, wichtig, zuweilen ironisch, er zeigte seine Überlegenheit mit gutem Recht, denn er konnte, was heute von Apparatemedizin und Labor in Einzelbefunden und Deutungen im Puzzle wieder zusammengesetzt werden muss, sozusagen aus der Lamäng klinisch klären. Es gab natürlich Laborbefunde, Röntgenbilder und Mikroskop als Hilfsmittel, er hatte die Gabe, die einzelnen erhobenen Befunde mithilfe seiner pathophysiologischen Kenntnisse einem Krankheitsbild zuzuordnen, es mit Anamnese und Klinik zu vergleichen, dass allein die klinische Untersuchung für ihn ausreichte, sozusagen im Cross-Check seiner Hirnspeicher das Nötige zu extrahieren und in die Matrize der klinischen Erscheinungen zu gießen. Seine Logik in einem Satz: Wenn ein Vogel auf der Straße an Pferdeäpfeln nagt, ist es mit Wahrscheinlichkeit ein Spatz und keine Nachtigall, es sollte heißen, immer das Naheliegende annehmen bei ähnlichen Befunden.

Prof. G., mehr spezialisiert auf Mikroskop und Detail und klinische Chemie, war ein sanfterer Mann, sehr zurückhaltend und bescheiden. Blut war sein Hobby. Prof. H., ein lebhafter, schon mit modernerer Rhetorik arbeitender, mehr dem Kölsch ähnlicher Typ, wartete immer mit bildhaften Beispielen auf, zum Beispiel im Perkussionskurs, um ein Geräusch zu deuten: Man muss Pfiffi bellen gehört haben, um Pfiffi zu kennen.

Es gehörten noch weitere zum Lehrkörper: Sch., La., Sie. und W, mit ihren verschiedenen Kursen. Prof. N., Geburtshilfe und Frauenheilkunde, war ebenfalls ein eindrucksvoller Lehrer, der sehr anschaulich seine Vorlesung gestaltete, es war ja auch kein trockenes Thema, das unter der Gürtellinie. Seine Darstellung einer Zangengeburt zu Hause, die er mit rollenden Augen untermalte, bei der der Geburtshelfer an der Zange zog und, als er nicht genug Kraft hatte, den Vater des zutage zu fördernden Kindes um Hilfe bat, der sich an ihn hängte, ist mir noch deutlich vor Augen, und dass beide dann rückwärts in einer Kommodenschublade landeten, entsprach seiner Komik. Im Gegensatz dazu Prof. V., ein vollendeter Gentleman mit entsprechend gewähltem Ausdruck.

Prof. de R. und seine Oberärztin Frau W. als Pädiater waren eher unauffällig, er trug einen Bart und wirkte dadurch unzeitgemäß, außerdem gab er unserer Gruppe im Staatsexamen eine schlechte Note, wir konnten übereinstimmend feststellen, dass unsere Antworten auf seine Fragen wirklich korrekt und vollständig waren.

Prof. Z., Psychiatrie und Neurologie, in seiner Darstellung der Fälle ähnlich dramatisch wie Prof. N., spezialisiert auf die pathologischen Reaktionen infolge des Zusammenlebens auf engstem Raum der Wohnraumknappheit in der Nachkriegszeit wegen, wie etwa die der Dame S., die ihr Kind aus dem Fenster geworfen hatte. Mit Prof. L. war er selbst bei Visiten im Streitgespräch über Krankheitsdefinitionen, Schizophrenie und Hebephrenie, fast wie bei Philosophen, deren Spitzfindigkeiten ich nicht folgen konnte.

Augenheilkunde, Prof. Th., ein Tyrann und Choleriker comme il faut, die ganze Klinik zitterte auf Klingelzeichen, mit denen seine Assistenten gerufen wurden, zum Glück hatte er zwei Gegenpole, Prof. K. und Gr., Haut und Liebe, Prof. G., er hatte wohl sehr gelitten unter den Nationalsozialisten und war geflüchtet, man durfte seine Vorlesung nicht in Schaftstiefeln besuchen, ein bisschen Hass war verständlicherweise stets gegenwärtig. Sein Zögling St. beeindruckte uns sehr, seiner trotz seines jungen Alters steilen Karriere wegen.

Von Prof. B. und L., HNO, lernte man, in den Löchern die Diagnose zu finden.

Wie ich erwähnte, ist mein Schubladengedächtnis nicht gut gefüllt, was meiner Kombinationsgabe zugutekommt, so muss ich mich hiermit zufriedengeben.

N.: Diese Zeit so kurz abzuhandeln ist wieder einmal typisch für dich, dabei muss dich doch etwas mehr beeindruckt haben! Als Leichenfledderer in der Anatomie, kein Mitleid mit den kranken Menschen, die sich in der Vorlesung zeigen mussten mit ihren Leiden, die als Objekte dienten, um an ihnen zu üben, tasten und sie zu beklopfen, in ihre Höhlen zu gucken und vieles mehr.

E.: Seit wann bist du so einfühlsam, man meint, du hättest es erlitten. Natürlich hatten wir dafür Verständnis und nahmen Rücksicht auf ihre Persönlichkeit, wie auch unsere Lehrer. Deine Kritik ist die der Öffentlichkeit.

Etwas Wichtigeres: Kauf meiner 500er RS BMW. Notizen damals:

Zu beachten beim Kauf der 500er BMW: Fragen, wie ist es mit der Abnutzung der Hinterradfederung, Rennprofilreifen, Richtungssignallampen, Fußgangschaltung mit Doppelhebel, Rennsattel, Aufbockgriff, Sturzstangen, Renntank.

August 1951. Führerschein auf der eignen Maschine, zuerst Kurven im ersten Gang im Hof des Autohauses G. an der Galluswarte und los ging es. Die erste Kurve als Führerscheininhaber ist mir noch in Erinnerung, Zeppelinallee, Miquelallee am Palmengarten entlang, aus der ich mit zu viel Gas ziemlich hinausgetragen wurde, nicht gefährlich, aber der Respekt vor den 24 PS mit der Aufrichttendenz des Boxers wurde mir damit abgenötigt. Ein teures Vergnügen, 3.600 DM, so viel wie ein Luxus-VW. Woher das Geld kam: Meine Ausbildungsversicherung, von meiner Mutter vorgesorgt, 25.000 RM, abgewertet auf 2.500 DM, ein bisschen von meiner Mutter dazu, der Rest von meinem verdienten Geld als Bauhilfsarbeiter. Von nun an war es leichter, von der Vorlesung zur Arbeit zu gelangen, ich als Messenger und Dispatcher zur »Neuen Zeitung«, amerikanische Zeitung für Deutschland, sie als Buchhalterin zur Buchhandlung Kaiser. Eine geschäftige Zeit, morgens bis nachmittags Vorlesung, 18 Uhr bis 1 Uhr Zeitung. Als Boten hatten wir ein Auto mit Fahrer zur Verfügung, um von AP, UP und anderen Agenturen die Nachrichten zu holen, die Fahnen in die Druckerei zu bringen und vieles mehr. Der schwarze Buckel-Ford wurde von Walter und Friedel wie ein Rennwagen gefahren, Fritz, der cholerische Fotoreporter interessierte mich für die Fotographie und mit der Spiegelreflexkamera, einer Pentacon, machten wir die ersten Bilder, natürlich in Schwarzweiß. Von ihm lernte ich auch das Entwickeln und unsere Bilder machten wir dann selbst. Nach einer Weile besaßen auch Fritz und Friedel ein Motorrad, eine 600er-BMW und eine 350er-Horex. Ein Geschwindigkeitsvergleich wurde auf der Autobahn vor Bad Homburg gefahren, meine 500er war mit gestoppten 154 km/h die schnellste, worüber sich Fritz nicht beruhigen konnte, die BMW-Presseabteilung, die er sehr gut kannte, wurde beschimpft, sein Motorrad auseinandergenommen mit dem Resultat, alles sei in Ordnung, er war untröstlich und bei einer späteren Diskussion zerbrach die schwarze Glasplatte unseres Herztisches durch seine Faust. Eine Schwarzwaldfahrt mit Zelt war unsere erste Reise, alles geschickt verpackt auf dem Gepäckträger. Es folgten dann Reisen in die Schweiz und 1953 die Reise bis Rom, wobei dann auf der Rückfahrt vor München der hintere Reifen seinen Geist aufgab, der Mantel war gerissen. Mit einer Einlage kamen wir bis vor Langen, dann war er wieder platt. Ein netter Mann nahm unser Gepäck und H. in sein Auto, ich fuhr mit plattem Hinterrad in Schlangenlinien vor ihm her bis zum Goetheplatz, wo H.s Eltern wohnten. Inzwischen war die »Neue Zeitung« eingestellt worden, Chefredakteur war Herr W., früher Ullsteinverlag in Berlin und geflüchtet vor der Verfolgung, stellvertretend Herr C., Innenpolitik, Außenpolitik, ich kann mich nicht mehr an alle Namen erinnern, aber einige Gesichter sind mir noch in Erinnerung, Sport ein Herr W., im ewigen Clinch mit Fritz, und ich glaube, ein Herr B. Wenn Fritz mal uns besuchen kommt, er kennt sie noch alle.

Mit unserem Motorrad waren wir sehr beweglich und besuchten meine Mutter, die die Bäckerei mit Herrn H. führte, nicht zu vergessen Nuschka, die liebe Chow-Chow die sogar auf dem Motorrad zwischen uns beiden sitzend mitfuhr zum Baden in H., es ihr aber von anderen nicht gegönnt wurde: »Das ist nur für Mönschen, nicht für Hünde!«, bemerkte ein Badegast.

Ich überlege gerade, ob es sinnvoll ist, dies alles niederzuschreiben, aber vielleicht interessiert sich in fünfhundert Jahren mal einer für die Wirklichkeit unserer Zeit, Fernsehdokumentationen sind nicht real, da sie immer auf vorgegebenen Tendenzen aufbauen, sozusagen die Fakten dafür auswählen, die Subjektivität, das Individuelle ist das Interessante. Tagebuchartige Notizen habe ich dann doch nicht eingefügt, obwohl es meine Absicht war.

 

N.: Mein Lieber, du hast recht, wie gesagt, alles landet auf dem Müll, du Optimist glaubst noch an interessierte, reflektierende Menschen.

E.: Man soll die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl die zweittausendjährige Berichterstattung zeigt, dass sich im Grunde nichts verändert hat; kann sich auch nicht, denn die Variation der Eigenschaften in den Genen beherrscht uns, wie schon gesagt, mit den unendlichen Möglichkeiten ihrer Mischung. Eine Veränderung wäre nur abzusehen, wenn man sie anders zusammensetzen könnte, grundlegend zu verstehen an dem Auftreten von Gut und Böse.

N.: Ich will versuchen, dir etwas zu erklären: Das Gute und Böse ist miteinander verschränkt, und je nachdem, wie man es betrachtet, erscheint das eine oder andere. Was in dieser Welt das Böse ist, ist in einer anderen gut und umgekehrt.

E.: Na ja, aber es existiert doch prozentual mehr Gutes als Böses, woher kommt dann der Überschuss an Gutem?

N.: Das scheint nur so, das Böse lauert versteckt im Menschen. Man muss ihm nur Gelegenheit geben, das Böse zu tun, es ist ein glücklicher Zufall, wenn in ihm kein Böses überwiegt.

E.: Du hat recht.

Bei Verwandten waren wir viele Male zu Gast, oft waren wir klatschnass, wenn wir mit dem Motorrad kamen.

Unsere Rennstrecke, die Autobahn, war uns so vertraut, man konnte damals das Gas bis zum Anschlag aufdrehen, den R.-Berg mit 140 fahren und erst vor dem Ziel wieder zudrehen. Nicht zu vergessen die Fahrten zu den Motorradrennen, Nürburgring, Feldberg, Dieburg, Schotten und andere. Im Winter zum Skilaufen auf der Solomaschine, Skier und Stöcke beiderseits am Motorrad festgemacht, zweimal ausgerutscht, bei eisüberzogenem Kopfsteinpflaster in Oberursel und einmal beim Ausweichen eines auch kühnen, schlitternden Radfahrers auf der A. Allee.

Wir hatten immer Glück, so muss man es wohl heute betrachten, denn uns ist nie etwas passiert.

N.: So ein Leichtsinn, wie ich sehe hast du es genauso riskiert wie ich in meiner Collegezeit.

E.: Unser Doktorvater war Prof. K. vom Neuropathologischen Institut, unterm Dach der Pathologie.

Meine Arbeit: Über Gefäßveränderungen bei tuberöser Sklerose, Histopathologische Abt. des Edinger Instituts, Prof. Dr. K., bei der Durchmusterung vieler Schnitte der Niere wurde eine Klassifizierung der Zellformen der Gefäßwand herausgearbeitet, ich weiß bis heute nicht, ob sie richtig ist. H. hatte, ebenfalls bei Herrn Prof. K., die Arbeit: Die Beteiligung der peripheren Nerven bei Periarteriitis nodosa. Wir arbeiteten die letzten zwei Jahre unseres Studiums daran und waren beim Staatsexamen fertig, am 22. März 1955 war das Rigorosum, wir mussten Herrn Prof. K. ein bisschen unter Druck setzen, damit er die Arbeiten den Gutachtern unter dem Vorwand vorlegte, wir hätten Stellenangebote aus den USA, was auch der Wahrheit entsprach, die wir jedoch auf Anraten von W., der in den USA war, ablehnten, er meinte, es wären neunzig Dollar monatlich nicht genug, um zu leben, was vielleicht stimmte – sollten wir diesen Entschluss bereuen ? Wäre eine Ausbildung dort in jedem Fall vorteilhafter gewesen? Sie galt und gilt in Deutschland viel. Wenn ich es heute überdenke, hätte unser Schicksal einen völlig anderen Weg genommen. Wäre dann noch die kulturelle Struktur Europas in uns oder hielte uns das Provisorium der Neuen Welt mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten in Bann, wie es bei vielen, die ausgewandert sind, unterbewusst der Fall ist?

N.: Vielleicht hätten wir uns dann aber früher getroffen und du hättest viel eher deine Kenntnisse in der Physik erlangen können, um Theorien nicht mit deiner Unkenntnis infrage zu stellen.

E.: Infrage stelle ich nur fantastische Hypothesen, ich billige nur Fakten, die zusammengefügt eine Hypothese ergeben könnten, die dann bewiesen werden müsste, das heißt, die Gesetzmäßigkeiten müssen, vielfach wiederholt, sich als richtig erweisen.

N.: Das ist ja gerade das, was die Teilchenphysik anstrebt, unsere Meinungen sind nicht unterschiedlich, nur missverständlich, denn dein Postulat kann zeitlich nur stückchenweise erfüllt werden.

E.: Und warum dann diese Vielzahl von Theorien, die mehr auf einer Fantasie der Algebra als auf Tatsachen beruhen; nur zur Legitimation und Existenzsicherung einer Clique?

N.: Warum so heftig, manchmal sagen sie doch etwas voraus, was stimmt, und ist es nicht auch unterhaltsam, wie man an dir sieht.

E.: Prof. K. besaß eine 600er BMW mit Seitenwagen, als er erfuhr, wir hätten eine 500er, hielt er uns einen Vortrag, mit wie wenig Komfort er in seinem Studium und seiner Assistentenzeit unbezahlt auskommen musste und was wir uns leisten konnten. Aber Stellen, die bezahlt wurden, gab es auch für uns nicht, nachdem wir fertig waren.

Unser Staatsexamen war eigentlich ohne besondere Vorkommnisse, im Februar 1955 beendeten wir es an einem Sonntag in Chirurgie bei Herrn Prof. G., sehr relaxt. Wir feierten bei F. auf der Bude, unsere Gruppe. Fritz, wir und er. Als wir in unser Portemonnaie guckten, hatten wir noch etwas über fünf Mark drin, wir fuhren anschließend in den Taunus und gingen spazieren.

Sofort hielten wir Ausschau, wo man Geld verdienen konnte, ich führte auf der Frankfurter Messe Teppiche vor, machte eine Hausarztvertretung in Niedereschbach, H. arbeitete bei Fa. Kaiser in der Buchhaltung und schon hatten wir 500 Mark in der Tasche, meldeten die Maschine an und sahen die Annoncen nach einem Job durch, wir waren fest entschlossen, nicht ohne Lohn zu arbeiten und fanden zwei Stellen im Stadtkrankenhaus Hameln mit neunzig Mark im Monat bei freier Verpflegung und Unterkunft. Am letzten Märztag machten wir uns mit der BMW auf nach Hameln, kamen am Abend dort beim Pförtner an, ich im Wehrmachtskradmantel, etwas durchnässt, und wurden im Lehrlingsheim getrennt untergebracht, es war gut geheizt und es gab eine warme Dusche. Irgendwie waren wir glücklich, eine Stelle und eine Unterkunft zu haben. Uns blieb nichts zu wünschen übrig, man brauchte sich nicht um das Essen zu kümmern, die Verpflegung wurde im Kasino serviert, man lernte beim Frühstück, Mittag- und Abendessen die anderen Assistenten kennen, Internisten und Gynäkologen. Als wir kurze Zeit später schon allein den Nachtdienst übernehmen mussten, war dies für uns eine Herausforderung: Allgemeinchirurgie, die alles Chirurgische umfasste, nachts meist traumatologische Notfälle, die obligatorischen Blinddärme, inkarzerierte Hernien und Harnverhaltungen. Eine Entscheidung, allein zu handeln oder die Indikation zur Operation zu stellen, machte einem schon Kopfzerbrechen, da half oft der Saegesser, der alles enthielt, was ein Chirurg wissen muss. Natürlich bestand wie üblich ein Hintergrunddienst, der einem zur Seite stand, wenn man sich seiner Sache nicht sicher war. Auf Station die prä- und postoperative Betreuung und Behandlung, der Umgang mit den Schwestern und Pflegern, deren Erfahrung wir viel verdankten, den Pflegern, ohne die man nachts den kräftigen Niedersachsen, meist im berauschten Zustand, machtlos gegenüberstand.

You have finished the free preview. Would you like to read more?