Magische Verbindung

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Zu Hause schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen, als gäbe es keine Bedrohung, meine Mutter arbeitete in der Bank, meine Großmutter sorgte für mich, mein Großvater, ruhig wie immer, hatte keinen Kommentar zur Lage, wie ich mich zu erinnern glaube. Meine Tante führte die Bäckerei mit zwei Fremdarbeitern. C. fiel die Treppe vom Heuboden hinunter und blutete an den Beinen, es hieß, sie sei mit gespreizten Beinen zu Fall gekommen, die Gemeindeschwester wurde gerufen und bestätigte dies, kein großes Unglück.

Ich folgte dem Befehl zur Seeoffiziersanwärterprüfung in Wien, vier Tage wurde geprüft, alles Mögliche, von dem ich mich nur noch an den sportlichen Teil erinnere, ein Lauf mit vielen Hindernissen in einer Halle, die waren so angelegt, dass nicht nur körperliche Geschicklichkeit gefragt war, sondern auch der Kopf. So war unter anderem ein Reck so hoch gestellt, dass man es nur mit großem Sprung erreichen konnte, dies musste überquert werden, oder eine quer und auch so hoch aufgehängte Leiter, die überwunden werden musste. Die Zeit war das Maß der Leistung. Mit kurzer Überlegung gelang mir dies. Ich errang die beste Zeit. Der Sehtest war für mich das größte Hindernis, ich war etwas kurzsichtig, es gelang mir mit blinzelnden Augen, diesen Fehler wettzumachen. So war ich nun Seeoffiziersanwärter und meldete mich sogleich zu einem Einmann-Torpedo-Kommando freiwillig, es müssen aber vernünftige Vorgesetzte gewesen sein, die diese Meldung nicht weitergaben, ich wurde mit dem Bescheid entlassen, man würde mich dann einberufen. Inzwischen hatten die Alliierten die Reichsgrenzen überschritten und ich fürchtete, von irgendeinem Kommando, Heldenklau genannt, aufgegriffen und eingesetzt zu werden, wenn ich nun von Wien, dem sich die Russen gefährlich näherten, nach Hause, in diesem Fall A., führe. Ich überlegte, mich zu meiner alten Einheit bei Halle zu begeben, denn der » alte Haufen« bot die beste Gelegenheit zu überleben. Ich machte mich in kurzen Hosen auf den Weg, fand meine Einheit aber nicht, sie war zum Erdeinsatz irgendwo nach Osten kommandiert worden. So kam ich noch rechtzeitig nach Hause, ehe der Ring darum von den Amerikanern geschlossen wurde. Nach wenigen Tagen rollten die Panzer und nachfolgend durchkämmte die Infanterie den Ort nach Soldaten, wobei sie auf alles Bewegliche schossen, was nach einem Soldaten aussah. Soviel ich weiß, kam nur ein Almeröder ums Leben. Alle hatten schon einige Tage vorher wegen des Geschützfeuers in den Kellern Zuflucht gefunden, meine Mutter war in einem Lazarett in der Neuen Schule, ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mich in Deckung begeben musste, als die Artilleriegeschosse einige Dächer, auch das unseres Hauses, zum Teil abdeckten und ich mich, aus welchem Grunde auch immer, auf dem Marktplatz befand. Alles war für mich wenig aufregend. Amerikanische Einquartierung in einigen Villen, nicht in der Stadt. Die Jeeps in Massen und erste Annäherungen an unsere Befreier. Im Dach unseres Hauses und der Nebengebäude waren nach dem Granatfeuer große Löcher auszubessern, mein Großvater hatte vorsorglich gebrannte »Almeröder Ziegel« auf dem Boden gehortet, die er erworben hatte, wenn ein altes Haus abgerissen worden war. So konnte ich als Amateurdachdecker alles ausbessern. Die Amerikaner hatten gerade die Stadt eingenommen, da kamen schon die alten Kommunisten, die jetzt Oberwasser zu haben glaubten, um von meinem Großvater Geld zu fordern, sie drohten, ansonsten Inventar mitzunehmen. Sie machten sich schnell aus dem Staube, als wir amerikanische Soldaten zu Hilfe riefen. Sie haben nie wieder Farbe bekannt.

Im Frühsommer 1945 meinte mein Großvater, ich könne doch mal in einer Mühle in E. fragen, ob ich dort nicht Arbeit fände, er kannte ja den Mehllieferanten und hatte wohl den Gedanken, dass ich dort gut zu essen bekäme und auch etwas Mehl abfiele. Zur gleichen Zeit bat mich die Frau eines Lehrers, ihre Tochter L. über den Meissner in die Nähe von Eschwege zu Verwandten zu begleiten, allein wollte sie sie nicht gehen lassen, vor allem mussten wir die Straßen meiden, die von Soldaten, Zwangsverpflichteten und gelinde gesagt »Räubern« benutzt wurden. Ich kannte natürlich die Gegend und wir machten uns auf. Da keine Eisenbahn fuhr, war ich auf den Gedanken gekommen, die Gleise zu benutzen, wir mussten auch durch einen Tunnel der Strecke nach W., gingen immer querfeldein und begegneten niemandem.

Ich hatte keinen Erfolg mit meiner Anbiederung beim Müller, doch sie bekam Butter, Eier und Brot von ihren Verwandten in dem Dorf. Ich kannte natürlich L., mein Freund D. hatte mir von ihr vorgeschwärmt, vielleicht war sie mit ihm befreundet gewesen. Kurzum, in den letzten Sonnenstrahlen, vom langen Weg müde, setzten wir uns an einem Wiesenhang nieder. Zum ersten Mal betrachtete ich sie näher, ihr groß geblümtes Kleid ließ die Beine frei, zwei Rundungen hoben ihr allerdings hochgeschlossenes Kleid, sie sah mich mit blauen, strahlenden Augen lange an, zwei geheimnisvoll lockende Sterne, deren Glitzern ich noch heute sehe. Warum ich nicht ihr Geheimnis ergründete, ist mir nicht verständlich.

N.: Wenn ich es so analysiere, bestätigt das: Du bist ein Spätentwickler.

E.: Meine Mutter, unter der amerikanischen Besatzung nun das »Fräulein von der Bank«, hatte den Goldfasan, der als Direktor nicht mehr fungierte, abgelöst. Zum Glück war ich nicht zuhause polizeilich gemeldet und so kam ich um die Gefangenschaft herum, die andere meines Jahrgangs erlitten. Am besten war es, im Bergwerk unterzutauchen, also machte meine Mutter ihre Beziehungen zu Direktor und Steiger geltend und ich war als Bergmann eingestellt. Ich verschwand sozusagen unter Tage. Die Zeche war ein Braunkohle-Bergwerk, der Hauptstollen ging nicht senkrecht, sondern waagrecht mit einem Gefälle in die Tiefe, neben den Gleisen der Förderloren, die Schritte der Bergleute klopften auf den Bohlen, wenn man einfuhr. Vom Innern führten auch Schächte, die mit Leitern versehen waren, senkrecht nach oben mit Wetterführungen und Leitungen. Die Braunkohle verschiedener Qualität wurde mit Loren, die in eine Kette eingeklinkt wurden, in einen Bunker transportiert, der einen Bahnanschluss hatte. Im Berg befanden sich mehrere Stollenverzweigungen, die die Flöze erreichten, aus denen dann die abgebaute Kohle in den »Hunden« auf diese zentrale Strecke gebracht wurde. Zum Einfahren in die Grube musste man durch den Hauptstollen im Gänsemarsch auf klappernden Bohlen laufen, die Entfernungen waren nicht sehr groß. Die Arbeit begann um 6 Uhr früh mit der ersten Schicht, der dann zwei weitere folgten. In der dritten Nachtschicht wurden Reparaturen ausgeführt und die Stollen neu erschlossener Flöze mit Licht und Wetterführungen versorgt. Ich wurde einem Hauer zugeteilt und war der Kratzer, der die gehauene Kohle zusammenkratzte und mit einer Schaufel in die Lore lud. Das war nur eine meiner Tätigkeiten, denn das Vortreiben eines Stollens per Hand erforderte es, in die Kohle sozusagen einen rechteckigen Tunnel zu hauen, der ungestützt so weit reichte, dass die nächsten Stempel gesetzt werden konnten. Nach Gebirgsdruck und Beschaffenheit der Tunnelwände, zuweilen Sand, manchmal Letten, in mehr oder weniger großem Abstand, meist 1,5 m. Die Stempel bestanden aus Tannenholz, ca. 25–30 cm Durchmesser, 1,80 m–2 m lang. Sie wurden seitlich an der Tunnelwand aufgestellt und oben quer mit einem weiteren verbunden. Die Kerben mussten geschickt gehauen werden, damit der Rahmen eine Stabilität bekam. Der Raum seitlich zwischen dem Tor aus Stempeln und das »Dach« wurden mit Schalbrettern abgedeckt. Auf dem Boden wurden dann die Schienen für die Loren verlegt. Wir hatten als Beleuchtung nur unsere Karbidlampen mit dem Blender, dies ist ein ovaler Schirm hinter der Flamme, der das Licht ein wenig gebündelt nach vorn richtet und ein Blenden vermeidet. Weit sichtbar war der glänzende gelbe Messingschirm, mit dem Schritt schwankend, wenn der Steiger kam, wir hatten einen Metallenen. Zur Lampe gehörten ein Feuerzeug und ein Nadelbündel zum Reinigen der Düse, aus dem das Acetylen-Gas kam. Im unteren Teil der Lampe, die mit einem scharfen Haken versehen war, damit man sie überall im Holz befestigen konnte, befand sich Karbid (CaC2 ), im oberen ein Wassertank, die Wassermenge, die auf Karbid tropfte und Acetylengas erzeugte, war mit einer Schraube zu regulieren. Je mehr Wasser tropfte, desto mehr Gas entstand und wurde durch die Düse gepresst. Die Flamme war hell und bläulich, wenn sie kleiner und rötlich wurde, war es Zeit, eine Wetterführung anzuschließen, der Sauerstoff wurde knapp. Die Arbeit war für mich ungewohnt schwer, es war warm und man schwitzte immer.

Die Stempel hatten auch ihr Gewicht, zuweilen musste man sie gebückt von weiter her holen. Gearbeitet wurde im Akkord, gezählt nach den Loren, die man lud. Eine Nummer an der Frontseite zeigte, von wem sie kamen. Ich erinnere mich noch deutlich an das hagere, blasse Gesicht meines Hauers aus W., mit dem ich meist schweigend arbeitete und der mir half, wenn mich mal meine Kraft verließ beim Auf-der-Schulter-Tragen eines dicken Stempels in gebückter Haltung, manchmal war der durch die Wasseraufnahme im Freien recht schwer.

Allen, mit denen ich arbeitete, zolle ich Respekt, sie waren ohne Falschheit, hier habe ich, wie auch noch später am Bau, gelernt, dass – ich schäme mich, dies so auszudrücken – »einfache Leute« offensichtlich größtenteils aufrechter und ehrlicher sind als ehrgeizige Intellektuelle. Wenn wir unser Soll nicht erfüllen konnten, zuweilen war der Vortrieb nicht einfach, ging ich zur Hauptstrecke, wischte an Hunden, die aus einem »Bau« mit einer Rutsche kamen und nicht als Akkord gezählt wurden, die Zahl ab und malte unsere darauf, wohlgemerkt, sie wurden keinem anderen gestohlen. Am Ende des Vortriebs gelangte man an ein Flöz von manchmal zwanzig Meter Dicke. Es entstand der sogenannte »Bau« dadurch, dass mit der Hand mit einem langen Bohrer Löcher gebohrt wurden, in die Dynamit kam, um die Kohle aufzubrechen. Schüttelrutschen und Fließbänder förderten dann ungeheure Mengen Kohle, die Loren vor den Bändern mussten schnell gewechselt werden. Es entstand durch den Abbau ein »Dom« von der Höhe eines Flözes, dessen Wände und Dach, nicht ungefährlich, weiter gesprengt wurden, sodass er ungeheure Ausmaße annahm, bis Ton oder Sand den Bau dann zum Einsturz brachten. Schlechte Wetter wie im Steinkohlebergbau gab es in dem Sinne nicht. Nur Staubexplosionen konnten sich an den Schüttelrutschen durch Funken der elektrisch angetriebenen Motoren ereignen. Schwarz wie die Mohren kamen wir an die Oberfläche, duschten splitternackt und zogen unsere Kleider an Seilzügen unter die Decke.

 

Dabei holte mich mal wieder die Vergangenheit ein. Einige Bergleute hatten in der Fabrik meines Onkels und Vaters gearbeitet, sie begutachteten mich, ich weiß nicht, wie sie darauf kamen.

Meist wanderten wir in Gruppen zur Zeche, 5 Uhr in der Früh war Abmarsch. Mitgenommen wurde das Frühstück, eine Feldflasche mit Tee, meist von meiner Großmutter gebraut aus Hagebutten und gesüßt und belegte Brote. Viele Vorteile brachte meine Arbeit im Bergwerk mit sich, die Schwerstarbeiterzulage sicherte eine gute Ernährung, Seife und Kleidungsstücke wurden als Kompensation für Kohlelieferungen von der Werksleitung organisiert, alles Mögliche kam uns zugute und reichliche Kohledeputate machten die Wohnung warm.

Einige Schlaglichter kommen mir ins Gedächtnis. Wenn am Freitag die Zeche geschlossen wurde, mussten, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, manche Stollen luftdicht mit Brettern und Ton verschlossen werden, auch der Hauptstollen. Ich erinnere mich noch deutlich, dass wir uns beeilen mussten, wenn die Wetterführungen nicht mehr in Betrieb waren, denn die bläuliche Flamme der Lampe wurde infolge des Sauerstoffmangels klein und rötlich, es war höchste Zeit, den direkt nach oben führenden Luftschacht zu erreichen und die Leitern schnell hinaufzuklettern.

N.: Wie mir scheint, ist dir die körperliche Arbeit nicht leicht gefallen, du hast vielleicht doch gelitten.

E.: Seit wann analysierst du so sympathisierend, wohl eine Entgleisung deines Zynismus. Mitleid kann ich schon gar nicht ertragen.

N.: Das ist nun der Lohn für einen Mitfühlenden.

E.: Zwei Freunde von mir hatten über ihre Erlebnisse mit zwei Mädchen, die ich gut kannte und die sie beide geliebt haben, berichtet. Da die Mädchen bei uns im Haus wohnten, sie waren von der Stadt hierher evakuiert worden, habe ich sie natürlich eingehend betrachtet, sie waren das Gegenteil meines Ideals, prall, nicht sehr groß, blond die eine, die andere ein dunkler Typ. Meine Freunde hatten wohl den richtigen Eindruck von mir, ich traue mich nicht. Sie mussten das der Dunklen erzählt habe, die mir plötzlich ihre Aufmerksamkeit schenkte. Wie es kam, weiß ich nicht, auf einmal hatte ich sie im Arm und fühlte ihre vollen Brüste, weiter geschah nichts, sie muss wohl sehr enttäuscht gewesen sein.

N.: Das kann ich nicht verstehen, schade, dass ich nicht an deiner Stelle war.

E.: Ja, ich weiß um deine Lüste, aber soll ich dich beneiden?

Meine Mutter wünschte, dass ich einmal meinen Vater, den ich mir gar nicht vorstellen konnte, besuchte.

N.: Diese Unannehmlichkeit blieb mir erspart, einen Vater hatte ich nicht, oder doch? Alle Chromosomensätze von dir. Wie ist das eigentlich, bist du mein Vater und dein Vater mein Halbgroßvater, deine Mutter nur eine Halbgroßmutter.

E.: Das kann man nicht beweisen, aber nimm es mal an. Dein Hang zur Ironie muss ja irgendwo herkommen, von mir allein kann er nicht so ausgeprägt sein.

Sei beruhigt, ich hatte auch keinen Vater, weder als Phänotyp noch virtuell, aber wie gesagt, einen halben Satz von ihm.

Die Züge waren überfüllt, zum Teil habe ich auf dem Trittbrett gestanden und als ich bei meiner Tante ankam, war mein Gesicht vom Ruß der Lokomotive ziemlich schwarz. Meine Tante Anna, ich habe erst jetzt auf einem Bild gesehen, dass sie 1957 gestorben ist, wohnte in einer kleinen Villa, ich weiß nicht einmal wo, mit chinesischen Möbeln und anderen exotischen Dingen. Mein Vater kam dorthin, ich sah ihn wohl zum ersten Mal mit Bewusstsein. Unsere Begegnung war die von Fremden, ohne jegliche emotionelle Bewegung von meiner Seite. Ich muss aber dazu sagen, dass meine Mutter nie abfällig über ihn gesprochen hat und ihn als Mensch schätzte, »nur hätte er nie seine Familie ernähren können«, war ihre Meinung und doch war keine Bindung zu spüren, ein Beispiel dafür, dass eine Umwelt mehr als die immer überschätzte Blutsverwandtschaft prägt.

Um es vorwegzunehmen, ich habe ihn noch mal 1968 gesehen, meine Mutter bat mich, ihn zu besuchen, da er nach einem Schlaganfall krank darnieder lag. Ich habe ihn als leidenden Patienten empfunden, nicht als mit mir verwandt. Zu seiner Beerdigung war ich auch in Hamburg.

Mit der Jodel geflogen, eine wake turbulence von einer Düse hatte uns bei der Landung in Fuhlsbüttel so erwischt, dass ich von der Landebahn auf eine Begrenzungslampe zusteuerte, ich ließ sie zwischen meinem Hauptfahrwerk und machte einen Schlenker, damit das Spornrad sie nicht traf. Heute noch für mich ein kleines Wunder, Glück muss man haben.

Ich vermisse deine bissigen Kommentare, mein Lieber, warum bist du verstummt?

N.: Was soll ich zu einem solch trocknen Bericht sagen, keine Farbe, keine Facetten, keine Spannung, alles Allgemeinplätze. Noch nicht einmal Mitleid konntest du erregen.

E.: Für mich ergab sich die Frage, wann die Schule wieder begann, denn wie ich wusste, konnte ich, ohne das Abitur nachzuholen, nicht studieren. So erfuhr ich eines Tages, dass, sozusagen privat, eine entsprechende Klasse in Kassel bei Lehrern in der Wohnung mit dem Unterricht begonnen hatte und nun nach ein paar Monaten der Unterricht in der Oberrealschule am Wesertor wieder begann. Ein wenig nahm ich es meinem alten Freund D. übel, mir davon nichts gesagt zu haben. So kam ich mit einem Handicap dazu. Das Klassenbuch mit allen Einzelheiten habe ich später mitgenommen, es ist mir im Augenblick nicht zur Hand (H. H. hat es in Verwahrung). Ich gewann in dieser Klasse, alles ehemalige Luftwaffenhelfer aus der Umgebung von Kassel, viele Freunde und muss den Lehrern meine Achtung aussprechen, wie sie so rücksichtsvoll mit uns umgingen und uns nicht wie Schüler behandelten. Noch heute treffen wir uns jährlich. Nach kurzer Zeit als Fahrschüler mit dem Bus fand meine Mutter eine Pension, besser gesagt ich eine kultivierte Familie, L., die ein schönes Haus mit Garten besaß. Der Sohn, ein Jahr älter als ich, teilte mit mir ein Schlafzimmer, während ansonsten das ganze Haus mir, wie zur Familie gehörig, offenstand. Zwei Schwestern waren auch noch da, älter als der Sohn. Herr L. war früher ein hoher Beamter in M. gewesen, seine Frau eine gebildete Dame mit einem etwas asymmetrischen Gesicht, Patiencen legend, immer kränkelnd, zumindest sah es so aus. Ich weiß nicht, wie sie mich einschätzten.

Eigenartig, dass man selten erfährt, wie einen andere einschätzen. Es gab eine Menge Bücher in Schränken und Regalen, besonders da, wo ich meine Schularbeiten machte, was mich erheblich ablenkte. Klassiker, Romane, Bildbände.

N.: Was du wieder verschweigst, du Ehrlicher, in den Bildbänden Gemälde und Skulpturen von hübschen nackten Mädchen der Dreißigerjahre, wenn auch nicht pornografisch, doch erotisch.

E.: Du hast mir doch empfohlen, diese Dinge nicht zu schreiben, oder?

N.: Wie ich sagte, kann man es natürlich dezent tun, du wolltest es jedoch verschweigen.

E.: Der Sohn F. machte seine Arbeiten an einem Schreibtisch in unserem Schlafzimmer. Die Summe, die meine Mutter ihnen zahlte, konnte nicht groß gewesen sein, denn die Heizung wurde mit Deputatkohlen, die mir noch aus dem Bergwerk zustanden, betrieben, sodass das Haus der Familie L. immer warm war, und außerdem bekam ich von meiner Tante, die die Bäckerei führte, so viel Brot, dass auch davon die Familie profitierte. Ich habe nicht erwähnt, dass ganz Deutschland hungerte, unsere Lehrer und die Menschen waren sehr schlank, um nicht zu sagen untergewichtig. Wir, die Jungen, lebten davon unberührt. Recht und schlecht rang ich um meine Noten in der Schule, was ich nicht lösen konnte, schrieb ich von meinem klugen Freund L. M. ab. Die Schule war nicht die Hauptsache, die sie hätte sein sollen. Alle Vergnügungen, die wir entbehrt hatten, holten wir nach. Feste aus jedem Anlass, Tanzstunde, Tennisspiel in Wilhelmshöhe, ich hörte die ersten klassischen Konzerte mit Elly Ney, sämtliche Beethovensonaten, von Herrn Riebensahm gespielt, zusammen mit meiner Freundin, rein platonisch, wie man so sagt, H. G., die mit ihren drei Geschwistern in einer Villa nicht weit von mir wohnte und deren kleine Schwester ich auf meinem Fahrrad zum Tennisspielen mitnahm. Einmal kam ihr biegsames Füßchen in das Vorderrad, ohne eine Schürfung davonzutragen. Ab und zu fuhr ich mit dem Rad die fünfundzwanzig Kilometer nach Hause, meistens aber war am Wochenende etwas los. Viele Begebenheiten sind mir in Erinnerung.

Das Tennisspiel im Club Wilhelmshöhe war für mich etwas Neues, die Ausrüstung zu bekommen eine fast unlösbare Aufgabe. Hemden und Hosen in Weiß wurden, aus wer weiß welchem Stoff vom Schneider in G. gemacht, weiße Strümpfe von meiner Großmutter aus dünnem Baumwollgarn gestrickt, woher aber Schläger und Bälle?

Ein Cousin meiner Mutter in Pittsburgh, USA, hat sich gewundert, dass ich anstelle von Care-Paketen Tennisbälle wünschte, außerdem Zigaretten als Tauschmittel für alles andere. Ein hübsches Tennismädchen muss wohl in mich verliebt gewesen sein, die Eltern hatten ein Schuhgeschäft, so waren auch die Tennisschuhe kein Problem, eine andere junge Dame besorgte mir sogar zur Bespannung rote Darmsaiten aus Kanada.

N.: Das hast du alles fertiggebracht, ohne sie dafür zu belohnen?

E.: Ich weiß es wirklich nicht mehr, du Tiefgründiger.

Ich bewunderte die Spitzenspieler und hangelte mich ohne Trainer mit meinem unkonventionellen Spiel in die Mannschaft. In dieser war auch ein Spieler, der ab und an plötzlich mit klonischen Krämpfen und Schaum vor dem Mund auf dem Platz umfiel. Ich wusste damals noch nicht, dass es sich um eine Epilepsie handelte, Ein HNO-Arzt, Herr Dr. v. B., war meist zur Stelle und wusste ihn zu behandeln. Ein Herr R. war der Matador, in weißen langen Hosen spielte er ein Tennis wie der Herr von Cramm.

Es bestand ein amerikanisch gesponserter Club in Wilhelmshöhe, der uns die amerikanische »Kultur«, besser Zivilisation, nahebringen wollte, es war ein gesellschaftliches Zusammensein aller möglichen Typen ohne eine eigentliche Tendenz, Jazz, Tanz und Kennenlernen waren das Resultat. Dazu ein paar Mädchen, die das Ganze auflockerten. Das entscheidende gesellschaftliche Ereignis war die Tanzstunde, arrangiert durch die Tanzschule Ebeling, ganz im konservativen Stil. Unsere Klasse sowie Mädchen aus dem Lyzeum und einer Mittelschule waren ausgewählt. Beim ersten Treffen gegenüber aufgestellt konnte man sich auf ein Kommando seine Partnerin sichern. Ich hatte schnell meine Wahl getroffen, L. H., mit blondem welligen, zum Bubikopf geschnittenem Haar, schlank, mittelgroß. Zur Erinnerung habe ich sie noch auf einem Bild bei einer unserer Feten auf dem Dampfer Elsa. Sie alle waren erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt und schüchtern. Meine Dame war sicherlich eine der Hübschesten und ich kann mir nicht erklären, warum mich einige andere mehr reizten, zum Beispiel Fee, die ich hofierte, und H., mit der ich in Konzerte ging, und L., deren Lippen beim ersten Kuss so kalt waren.

N.: Kalte Lippen, vielleicht mochte sie dich nicht.

E.: Das wiederum stimmt nicht, sie wurden schnell warm, sie mochte mich und schenkte mir sogar ein Buch, in dem sie ihren von mir verwanden Kosenamen verwendete, Coonchen, ätsch.

N.: Das will nichts heißen.

E.: Ich schäme mich noch heute, beim Abschlussball habe ich meine Tanzstundendame nicht zu Hause mit einem Blumenstrauß abgeholt, die Mutter, die mit zum Ball kam, war mit Recht ungnädig. L. hatte es nicht verdient. Als mir später ihre Reize und ihr geduldiges Verhalten zu Bewusstsein kamen, merkte ich erst, wie gern ich sie hatte, zu spät, ich wagte nicht, mich ihr zu nähern, ihrer Mutter wegen. Die andern hatten auch ihre Liebschaften nicht gerade mit der Dame, die sie eingangs erwischt hatten. So wanderte Fee zu einem anderen, L. zu L., H. zu H. Während es meinen persönlichen Anmerkungen an Details mangelt, kann man vielleicht in einer Auswahl von Dokumenten einen besseren Eindruck gewinnen.

Großer Pennäler Ferientrip an Bord des Salondampfers Elsa, Sonnabend, den 20.7.47, Abfahrt 9.45 an der Hafenstraße. Ein individueller Nachrichtendienst persönlicher Angelegenheiten als Bordzeitung. Jeder bekam seinen Namen, »Alaska-Jim«, »Cromwell«, »Portia«, »Cleopatra« u. v. a. m, in der Zeitung die üblichen Scherzchen,

 

im Augenblick kann ich sie nicht vollständig als Kopie hinzufügen.

Schülerball in der Fasanenhof-Terrasse, die Prima der OR II, 31.8.46, 1700-2200, es fährt ein Sonderwagen der Linie 14.

Der Abschlussball der O I. A. Abiturienten unter dem Motto: »In the mood«, 28.3.47. Für mich kein Abschlussball, denn ich bestand das Abitur nicht. Ein Regierungsrat aus Wiesbaden entzog mir in der mündlichen Englischprüfung die Note 2, die ich zum Ausgleich für meine Mathematiknote 5 in der Abitursprüfung erreicht hatte – wenn das Herr Lehrer P., Mathematik, gewusst hätte. Einige Mitschüler waren auf Anraten der Lehrer schon vom Abitur zurückgetreten, unsere Lehrer wollten wohl, dass alle Übrigen bestehen. Wie ich weiß, waren unsere Lehrer sehr verärgert über diesen ministeriellen Eingriff und auch der Protest meiner Mitschüler nutzte nichts. Es geschah beim Verlesen eines Artikels aus »Readers Digest«, was dieser Herr nachträglich aus welchem Grund auch immer verlangte, ich hatte das Wort »immediately« nicht richtig ausgesprochen, mit einem »Aha« setzte er meine Note auf 3, da war’s geschehen. Dreißig Jahre später durften wir unsere Abitursprotokolle einsehen, dort konnte ich den ganzen Vorgang, wie oben beschrieben, nachlesen.

N.: Da muss ich dich doch bedauern, Opfer eines Beamten, der seine Tätigkeit legitimieren wollte, ein kleiner Dämpfer ist immer zu was nütze, vielleicht warst du dann ein wenig fleißiger.

E.: Du musst mir mit Moralisieren kommen, warte!

Bewundert habe ich immer drei unserer Klasse, G. St. vor allem, dass er Klavier spielte und so bei Feten sehr begehrt war, aber auch, wie eifrig er mit H. H. in der Schule begeistert vor allem Mathematik betrieb, und meinen Freund L., dessen Lernfähigkeiten mich immer wieder überraschten, ich kam mir immer etwas dumm vor, vielleicht war ich auch faul, leicht ablenkbar und zu wenig ausdauernd, um eine Aufgabe zu lösen. Die Fertigkeit seines »Alten«, wie er seinen Vater nannte, Zinnsoldaten zu gießen und zu bemalen und Panoramen zu kreieren, fand ich faszinierend.

Es kann nur einem begabten Schriftsteller möglich sein, die Intensität unserer Besessenheit zum Vergnügen zu schildern, die unserer Innerstes beherrschte, wohl unbewusst die Befreiung von einer vorher existentiellen Bedrohung, wenn wir sie vielleicht auch nicht so bewusst wahrgenommen hatten. Trotz der materiellen Sorgen erging es wohl den meisten so.

N.: Das stimmt, ein begabter Schriftsteller könnte es besser.

E.: Das halbe Jahr Wiederholung in der nächsten Klasse ist bei mir völlig in Vergessenheit geraten, auch das Abitur, psychologisch sehr interessant, es war so, als hätte ich es vorher doch bestanden. Dies habe ich dann im Hause L. mit einem Fest bis 4 Uhr früh nachgefeiert, leider ohne meine Klassenkameraden, aber mit der Familie und H. G.

N.: Ich bewundere diese deine Fähigkeit, alles, was dir nicht passt, zu verdrängen.

E.: Es ist doch nichts verdrängt, es kam doch nur nicht durch meinen Panzer.

Mein Ziel war nun, das Medizinstudium zu beginnen, dazu notwendig ein Praktikum in der Krankenpflege. Ich sprach beim chirurgischen Chef des Stadtkrankenhauses in K., Prof. B., vor, der mich jedoch nicht einstellte. Mein Onkel G., Bauunternehmer mit Aufträgen in Frankfurt, meinte, dort gäbe es viel mehr Möglichkeiten und wirklich, durch Beziehungen des Oberarztes B. zu Priv. Doz. Dr. M. kam ich im B.-Hospital, selbstverständlich ohne Bezahlung, zu meinem Praktikum. Ich blieb länger als die vorgeschriebene Zeit.

Die Eindrücke, besonders im OP, prägten, wenn man es rückblickend betrachtet, mein späteres Leben. Anträge zum Medizinstudium an vielen deutschen Universitäten blieben ohne Antwort, Frankfurt schien mir von den Möglichkeiten noch die beste.

Mein Onkel hatte mir das Zimmer in Sachsenhausen besorgt, in dem ich blieb. Geld konnte ich während meiner Bemühungen um ein Studium bei ihm als Bauhelfer mit einem Stundenlohn von 1,23 DM, jetzt und auch noch später während meines Studiums, leicht verdienen, meine Mutter versorgte mich mit 200 DM monatlich dazu, ich war ein reicher Mann. Die Antwort auf einen Brief von L. beschreibt kurz die Zeit, wenn auch fünfzig Jahre danach.

18. 2 .99

Lieber L.

man sollte es nicht für möglich halten, ein Schreibfauler schreibt einem anderen Schreibfaulen. Um deinen langen Brief vom 27.9.49 zu würdigen, kann ich nicht umhin, dir auch von mir zu berichten. Zu deinen Fragen:

1. Ob ich noch lebe? Du siehst es!

2. Wo und wie? Wird im Folgenden erzählt.

3. Was meine Studienangelegenheiten machen, wird unter 2. referiert.

4. Wie es meiner Mutter in G. geht? Ihr geht es gut, in die Zukunft gesehen wird sie im März 1987 nicht mehr unter uns weilen.

5. Wann wir uns einmal sehen, ich denke, so in fünf Jahren bei dir.

Zu 2.

In Frankfurt habe ich mich gut etabliert, spiele Tennis in der Forsthausstrasse, einem feudalen Club, verdiene nebenbei noch mein Geld als Bauhelfer, mein Onkel hat hier seine große Baufirma, in der ich jederzeit arbeiten kann, so leiste ich mir allerlei. Freundschaften, sowohl weibliche als auch männliche, sind mehr oder weniger oberflächlich, aber vielfältig. Zur Vorbereitung auf mein Medizinstudium habe ich mein Praktikum im Krankenhaus absolviert und durfte bei einer berühmten Chirurgin(!) unter anderem schon einmal die OP-Lampen einstellen, ein Privileg, das einem selten zuteilwurde.

Das Chirurgenvölkchen ist sehr unterschiedlich, einer wettet immer auf Pferde und leidet an Geldmangel, obwohl er wohlhabend verheiratet ist, von ihm kaufe ich Bücher, eins ist besonders wertvoll, von Sauerbruch mit einer Widmung, und in Anatomie den Spalteholz. Sie haben alle Respekt vor der herrischen Chefin Priv. Doz. M. Es gibt da einige reizende Schwesternschülerinnen, viele davon Pfarrerstöchter (Pfarrerstöchter, Müllers Küh …), die sich schon mal einladen lassen, natürlich heimlich, denn sie werden streng beaufsichtigt.

Ich wohne in Sachsenhausen in einem Hinterhaus parterre, einem Milieu, das mir noch nicht bekannt war. Meine Wirtin ist ein kleines, wenn man es volkstümlich ausdrückt, verwachsenes Fräulein (chondrodystrophisch), ca. fünfzig Jahre, die alles für mich tut. Wenn mich ein Freund aus dem Club hier besucht, er kommt aus einer reichen Familie, Sohn eines Direktors einer internationalen Firma, wundert er sich, dass ich hier lebe. Ich mache mir einen Spaß daraus, wenn mich eines der vornehmen Mädchen aus dem Club fragt, was ich von Beruf bin, zu sagen: Bauhelfer. Dann ist erst einmal die berühmte Funkstille, ich hätte gern gewusst, was in den Köpfen vorging. Natürlich wissen die, die mich näher kennen, wer ich bin, der Freund klärt sie meist auf, die Erleichterung ist ihnen dann anzumerken.

Ich trachte danach, mich für die Medizin zu immatrikulieren, das Ausleseverfahren für fünfzig Studienplätze ist schwierig. Ich nehme an, zuerst einmal ist die Abitursnote ausschlaggebend, dann wohl auch, ob der Vater Mediziner ist, und außerdem muss man vor einem Komitee zum Verhör erscheinen. Es besteht, soviel ich erfuhr, aus Professoren, Psychologen und Studenten. Sie fragten alles Mögliche, aus Literatur, Musik, Geografie, mehr Allgemeinbildung als Spezielles für die Medizin.