Magische Verbindung

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Auch haben wir uns damals nicht für Leben und Werk des Hermann August Francke interessiert. Nur ist mir in Erinnerung, dass er mit vier Talern angefangen hatte, die Stiftungen zu errichten, von seinem pietistischen und missionarischen Wirken wusste ich nichts. Von der Frömmigkeit war nur übrig geblieben, dass wir jeden Sonntagmorgen in die Glauchaer Kirche gehen mussten, was Herr F., unser Inspektor des Pädagogiums, durch Inaugenscheinnahme in der Kirche kontrollierte. Freigestellt war uns der Sitzplatz dort. Während einige Fromme sich nicht trauten, der Predigt fernzubleiben, nahmen andere auf der Empore Platz, zeigten sich auffällig über der Brüstung und verschwanden dann, wenn sie meinten, gesehen worden zu sein, zum Beispiel in die Fettbemme, ein Kino zur Morgenvorstellung.

Heute bin ich beeindruckt von dem, was er geschaffen hat. Ein pietistischer Asket mit ungeheurer Kraft durch seinen Glauben. Leider gibt es, soweit ich weiß, keine Biographie, es lohnte sich für einen Historiker, ihn in seiner Zeit und vor allem in der damaligen Kirchenstruktur zu analysieren.

Geboren am 12. März 1663, gestorben am 8. Juni 1727.

Einen kleinen Abriss seines Lebens und Werkes hat Walther Michaelis als Altdirektor der Franckeschen Stiftungen im Heliand-Heft 53 gegeben (Heliand-Verlag Berlin, 1941):

»August Hermann Francke, vom Leben und Werk des großen evangelischen Volkserziehers«

So genau ist mir nicht in Erinnerung, wie ich zum ersten Mal dort eintraf. Meiner Eigenart gemäß drang es mir nicht unter die Haut, sodass es sich auch nicht einprägte, nur die für mich eindrucksvollsten Begebenheiten kann ich berichten.

N.: Ich sehe, wir haben doch einiges gemeinsam, ein Herr R. hat es mal bildlich beschrieben: Du sollst niemanden so dicht an dich heranlassen und dir einen Panzer zulegen, sonst stößt man dir ein Messer ins Herz, das gilt auch für Ereignisse.

E.: Erstaunliche Einsicht. Im mittleren Eingang im zweiten Stock des Pädagogiums im Zimmer gleich nach dem Treppenaufgang standen fünf Schreibpulte, besetzt wurden sie vom Senior am Fenster, dem Subsenior gegenüber, dem Oberfuchs neben dem Senior, dem Unterfuchs daneben und dem Fuchs neben dem Subsenior. Eine Tür neben dem Pult des Fuchses führte in den Schlafraum mit fünf Betten und Schränken. Ich jedenfalls bekam das einzelne Bett, wenn man eintrat links.

Offensichtlich hatte ich keine Probleme mit meinen Stubengenossen, sonst wären Feindseligkeiten in meinem Gedächtnis geblieben. Eine Prüfung musste man aber bestehen, die sogenannte »Stickung«. Sie bestand darin, dass sich drei, nicht der Senior, auf den Neuen stürzten, wenn er im Bett lag, und versuchten herauszufinden, wie lange er es aushielt, wenn ihm das Kissen und die Decke über Kopf und Körper gedrückt wurden.

Wehren konnte man sich natürlich, um sich vor dem Ersticken zu bewahren. Ich benutzte, wie vielleicht auch andere, den Trick, mich mit dem Rücken nach oben zusammenzukrümmen und mir so einen Luftraum mit meinen Armen vor dem Mund zu schaffen. Die Absicht der anderen war, einen herumzudrehen, man musste dann so gelenkig sein, die alte Stellung wieder einzunehmen. Die Prozedur war zeitlich begrenzt und man wurde beglückwünscht, wenn man sie tapfer überstanden hatte.

Ein Erzieher wohnte schräg gegenüber, Herr Studienassessor Rü., auf dem Flur stand ein mit einem Deckel verschlossener großer Kasten, mit Kohlen gefüllt, aus dem der Kachelofen von dem Hausmeister befeuert wurde, der je zwei nebeneinander liegende Zimmer im Winter heizte. Von der Treppe geradeaus, der Waschraum mit Waschbecken für jeden und seine Waschutensilien. Außer dem Zimmer für den Herrn Erzieher waren drei Zimmer mit dahinter liegenden Schlafräumen auf dem gleichen Flur.

Es fällt mir gerade ein recht realistischer Traum vierzig Jahre später ein, in dem ich diese Räume bei einem Besuch nicht fand und im nächsten Stock einquartiert wurde.

Unglücklicherweise musste ich, wie oben schon bemerkt, um den Anschluss an das Schuljahr der Oberschule zu bekommen, zuerst in eine Mittelschule in der Stadt gehen, deren Unterricht am Nachmittag stattfand. So war ich morgens recht einsam, schaute aus dem Fenster und konnte so die berühmten fünf Türme von Halle sehen oder den Vorbeimarsch einer feldgrauen Truppe mit einem für mich traurigen Gesang erleben. Meine Schularbeiten machte ich allein, während die anderen es gemeinsam tun konnten.

So war ich nicht ganz in den Tageslauf eingeschlossen. Das änderte sich, als ich dann in die FOR, Franckesche Oberrealschule, sie hieß jetzt Mackensenschule, aufgenommen wurde. Ich tat in der Schule mehr schlecht als recht meine Pflicht, um nicht sitzenzubleiben.

Wenn man in der Schule nicht seine Aufgaben befriedigend erledigte, wurde dies Herrn F. gemeldet, der einen dann umgehend zu sich bestellte und in dem entsprechenden Fach überprüfte. Es waren meist mehrere, ich erinnere mich noch deutlich, wie das vor sich ging.

Durch eine ledergepolsterte Doppeltür durfte man das Allerheiligste betreten, nachdem man hereingebeten worden war. Herr F. saß meistens mit einer dicken Zigarre hinter seinem Schreibtisch und dann ging es los. Caesar übersetzen, Konjugationen hersagen und so weiter.

Für Herrn F. war es nur ein Kinderspiel, sodass er manchmal einnickte. Wir waren dann ganz still, um ihn nicht zu stören, sahen uns an und freuten uns diebisch, wenn es passierte. Die Asche an seiner Zigarre wuchs, bis sie dann mit einem glühenden Ende auf sein Hemd fiel. Davon wachte er jäh auf und klopfte sie, dass die Funken stoben, eifrig ab. Schon ging es weiter, er war ein liebenswerter Mann, ich habe ihn nie zornig gesehen. Anders war es mit den Erziehern, die natürlich auch für ihre Schüler verantwortlich waren und ihnen auch in anderen Fächern helfen mussten, nicht nur das, sie mussten auch für Ruhe und Ordnung sorgen, wenn es zwischen den einzelnen Stuben zu Balgereien kam.

Dann sauste Herr R. mit einem Rohrstock aus seinem Zimmer, um die Ordnung wiederherzustellen. Meist zu spät, denn einer war immer dazu abgestellt, seine Tür zu beobachten.

Außerdem waren ihm immer Hindernisse in den Weg gelegt, zum Beispiel wurde eine Feuerpatsche, damit sollte man die Brandbomben löschen, die bei Angriffen abgeworfen wurden, klatschnass gemacht, auf den Stiel gestellt und in seiner Doppeltür platziert. Machte er die Innentür auf, kam sie ihm entgegen. War auf dem Platz vor dem Haus, einem Tennisplatz, Lärm, zeigte sich der Kopf des Erziehers aus dem 1. Stock, Herr Tr., um die Krachmacher zu bremsen. Er war schon ein wenig glatzköpfig, es reizte uns, von oben, knapp an seinem Kopf vorbei, ein Salzfass fallen zu lassen, das unten zerschellte, und ehe er nach oben blicken konnte, war der Übeltäter schon vom Fenster verschwunden.

Besonders hat mich beeindruckt, dass fast alle meine »Mitzöglinge« mithilfe eines sogenannten Detektors, ohne Strom, mit Kopfhörern Radiosender hören konnten, heimlich habe ich danach geforscht, ob doch nicht irgendwo der Strom herkommt, musste mich dann doch überzeugen, dass es möglich ist. Ein Stückchen Draht sucht auf einem Kristall eine Stelle und schon ertönt Musik oder Sprache. Eine Antenne ist vonnöten, die Schaltung einfach. Ein Sperrholzplättchen, mit Steckern versehen, die mit Draht verbunden, bewirkten das Wunder. Wollte man allerdings einen Lautsprecher anschließen, wäre doch ein mit Strom betriebener Verstärker nötig gewesen. Als Antenne diente uns das Drahtgeflecht in der Fachwerkwand des Hauses, es musste durch eine Bohrung erreicht werden und schon hatte man die leistungsfähigste Antenne. Das war aber noch nicht alle Elektronik, wie man heute zu sagen pflegt, in vielen Zimmern hatten sich die Senioren und Subsenioren vernetzt, fast jedes Pult hatte seinen Lautsprecher und sein Mikrofon. Die Leitungen wurden unter der Fußleiste von Zimmer zu Zimmer unsichtbar verlegt. Der Vorteil lag auf der Hand, kam der Flez, so wurde Herr F. genannt, zur Kontrolle, ob in der dazu bestimmten Zeit auch die Schularbeiten gemacht wurden, war es ein Leichtes, alle zu benachrichtigen. Ob er von dieser Einrichtung wusste, ist mir nie bekannt geworden. Sie wurde unter anderem auch dazu benutzt, Lösungen von Aufgaben zu übermitteln und Übersetzungshilfe zu leisten. Auch konnten schnell die Spielkarten verschwinden und die Tischrunde beim Skat aufgehoben werden.

Fußball, Handball waren die beliebtesten Mannschaftsspiele, ich erinnere mich, dass ich immer bei den Verlierern war. Tennis vor dem Haus war etwas seltener, da nicht immer das Netz vom Hausmeister gespannt war. Auch die Außenkegelbahn in der sogenannten Plantage war nicht immer benutzbar. Die Plantage bestand aus einem schönen Park mit einem Hügel, dem Spes, lateinisch Hoffnung, vielleicht so benannt, weil man von ihm Ausschau halten konnte. Zu unserer Zeit war es einfach, nach außen zu gelangen, besonders die Senioren lechzten nach Freiheit, um sich mit Freundinnen zu treffen. Es gab einige Schlupflöcher. Am Tag konnte man unbehelligt raus, aber es war nicht einfach, seine Abwesenheit zu entschuldigen, denn wie oben beschrieben gab es Kontrollen. Aber am späten Abend zur Nacht hin, wenn alle im Bett lagen, konnte man doch geschickt täuschen, selbst wenn Herr F. alle Schlafzimmer kontrollierte. Es bestand die Möglichkeit für ihn, auf jeder Etage direkt durch jedes Zimmer der drei Aufgänge zu gehen, da die Schlafräume aneinandergrenzten und durch eine Tür verbunden waren, für die nur er den Schlüssel hatte. Das Geräusch des Aufschließens und sein hinkender Gang mit dem Stock verriet ihn natürlich, sein weiterer Spitzname rührte daher: Jambus. So kam er dann auch mal, wenn einer ihm nicht die verlangten Aufgaben gezeigt hatte, und warf ihn aus dem Bett. Sonst aber sah er nur, ob die Kontur des Schlafenden unter der Decke auszumachen war. Das aber war wiederum kein Grund für die Senioren, anwesend zu sein, und es gab einen Trick, ihn zu täuschen; man legte einen Besen so geschickt ins Bett, dass er die Kontur des Körpers nachzeichnete, als Kopf diente ein mit einem Haarnetz überzogener Ball. Dieser Trick wurde von ihm entdeckt, als derjenige seine Aufgaben nicht gemacht hatte und er ihn wecken wollte. Ich hätte gern sein Gesicht gesehen. Aber auch Hindernisse waren beim Nachhausekommen zu überwinden, das gesamte Gelände war ja von einer Mauer umgeben, deren Eingänge am Abend verschlossen wurden.

 

Der Haupteingang und die Apothekenpforte wurden von einem Pförtner bewacht. Wenn der Haupteingang noch nicht verschlossen war, ging es einfach, man schlüpfte unter dem höherliegenden Fenster, hinter dem der Pförtner saß, hindurch, war das Tor aber zu, musste man eine andere Lösung finden, sie bestand in der Überwindung der Apothekenpforte. Diese hatte die Eigenart, wenn man sie weit öffnete, das Fenster im Pförtnerhäuschen, das genau dahinterstand, zu verdecken. Mit einer einfachen Taktik gelang dies. Ein fester Anlauf und Tritt, und das Schloss gab nach, die Tür flog auf und versperrte den Blick des Pförtners und ehe dieser überhaupt etwas sehen konnte, waren die oder der Täter schon weit weg. Ein Telefon gab es noch nicht und ehe die Nachricht beim diensthabenden Erzieher eintraf, lag der Betreffende schon im Bett. Die Tür war nicht kaputt, so wurde auch nichts geändert.

Wie oben beschrieben befand sich schräg gegenüber unserem Zimmer das des Herrn Erziehers R. Als wir es leid waren, dass er unsere Etagenkämpfe störte, nahmen unsere Senioren einmal die Gelegenheit wahr, während er schlief, die Außentür zu vernageln.

Er wachte natürlich davon auf, es war aber zu spät. Es amüsierte uns köstlich, wie er nun herauskommen wollte. Lange Zeit musste er aus dem Fenster rufen, bis er vom Erzieher der nächsten Etage gehört wurde, um den Hausmeister zu holen, der unter unseren hämischen Blicken Mühe hatte, die 3-Zoll-Nägel herauszuziehen. Insgeheim lächelte er natürlich über unsere Untäter, er konnte Herrn R. nicht gut leiden, der als Beauftragter für Luftschutz immer in einer Art Offiziersuniform vom Dienst kam.

Nachmittags gab es im Pädagogium Hefestückchen zum Kakao oder zu Milch, es wurde in der oberen Etage in einem Speisesaal nur für uns serviert, dort mussten wir uns an einem Schalter, hinter dem die Hausdame stand, beides abholen. Ihre Information: »Links Milch, rechts Kakao«, amüsierte uns köstlich, denn die beiden Quellen zeichneten sich deutlich ab.

N.: Du warst ja schon in deiner Jugend mit dem Inhalt, wenigstens dem einen, vertraut.

E.: Sie war ungefähr vierzig, bei uns dienstverpflichtet. Sie hatte eine hübsche Tochter, vielleicht sechzehn Jahre, hinter der die Senioren her waren. Die Schulferien konnte man auch im Internat verbringen, doch nur wenige fuhren nicht nach Hause. Nachmittags gab es Kaffee und Stückchen an einem Tisch in der Plantage. Im Sommer waren wir meist in Turnhosen. Jeder der Senioren versuchte, die Tochter für sich zu gewinnen, denn auch sie hatte Ferien und war mit ihrer Mutter bei uns. Ich war der Jüngste und kann mich nicht erinnern, gleichartige Neigungen gehabt zu haben, doch sehe ich deutlich die Kleine mit ihrem schwarzen glänzenden Haar und den dunklen Augen in dem runden Gesicht vor mir. Mein Senior schwärmte von ihren kleinen Titten und …, wie so die Reden sind.

Wieder einmal war Krach in der Etage unter uns und Herr R. kam, einen Rohrstock hinter dem Rücken verborgen, aus seinem Zimmer gestürmt, um die Lärmenden unten zur Räson zu bringen. Um zu sehen, wer es sei, beugte er sich über das Treppengeländer in der Nähe der Kohlenkiste. Heimlich schlich sich einer von uns heran, hob den Deckel des Kastens, der zur Treppe hin aufging, und öffnete ihn so, dass Herr R. eingeklemmt wurde. Ehe er sich befreien konnte, war der Übeltäter verschwunden, und er hatte keine Lust mehr, in die untere Etage zu eilen.

N.: Sieh mal an, du hattest auch Spaß daran, andere zu ärgern, du Unschuldslämmchen.

E.: In einem Ruderklub an der Saale lernte ich mit den Riemen umzugehen, fuhr aber keine Rennen. Einmal stieg ich in einen Kajak, verlor aber sofort die Balance, lag im Wasser und versuchte es nicht noch einmal.

In diese Zeit, 1941, fallen auch Ferien am Wolfgangsee mit meiner Mutter, der Tante und deren beiden Kindern. Schöne Bergwanderungen, baden im See. Am dem »Weißen Rössl« gegenüberliegenden Ufer die Villa von Emil Jannings und sein mit Bojen abgetrenntes Seestück. Wir ruderten natürlich nahe heran und ich sah seinen dicken Kopf aus dem Wasser ragen. Auf einer Wanderung fand ich ein Fernglas und gab es als Fund ab, es gehörte einem Herrn Oberstleutnant Z. aus B., der sich sehr dafür bedankte. Natürlich besuchten wir die Orte am See, und andere.

N.: Sieh mal an, hast du nicht einen Augenblick daran gedacht, das Fernglas zu behalten? Sei ehrlich!

E.: Du magst es glauben oder auch nicht, nein! Wenn es auch deine Vermutung nicht bestätigt.

Meine Konfirmation, evangelisch-reformiert, fand in A. statt, 29. März 1942, Herr Pfarrer S. wählte für mich den Spruch der Franckeschen Stiftungen aus: »Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler«, ein Omen für die Fliegerei, weniger für meinen Beruf, dort blieb ich immer auf dem Teppich.

Meine Prüfung zum Grundschein (DLRG), legte ich am 24.6.43 ab, obwohl ich doch nicht so schwimmbegeistert war, Eimer vom Grund holen, Streckentauchen, jemanden abschleppen, daran kann ich mich erinnern, am liebsten stand ich unter der warmen Dusche, weil mich immer fror.

Mir fällt eine auf graues Kriegspapier mit Bleistift in Sütterlin geschriebene Notiz unerwartet in die Hände, die meine Gedanken als retardierter Fünfzehnjähriger wortwörtlich wiedergibt, naiv, einfach strukturiert.

N.: Wie ich deine Struktur heute kenne, kann da nicht viel herausgekommen sein – wenn du selbst schon meinst, einfach strukturiert, oh weh.

E.: Sei still, wer hat schon in so einer Zeit mit fünfzehn Jahren so etwas geschrieben.

Gedanken, 27.6.43, 18 ½ Uhr.

Buschbuch angesehen, Lebensbeschreibung und tieferen Sinn seiner Werke zu verstehen. Gedanken über eigene Zukunft (unterstrichen). Man kann sich keine Zukunftspläne schmieden, Krieg!!! (drei Ausrufungszeichen)

Mein Vorhaben, zur Marine zu gehen besteht noch. Zweifel wegen Augen, Besserung der Augen eingetreten, wenn es möglich ist, werde ich versuchen, Medizin zu studieren (Arzt), es ist eine heilsame Kunst.

N.: Eine tolle Floskel, woher hattest du sie denn?

E.: Was hast du denn damals gedacht? Da du nichts notiert hast, scheinbar gar nichts in deinem sicheren Domizil, ich werde es noch erfahren, natürlich wohl nur gefiltert, ohne den Rückstand der Naivität und damit auch nicht authentisch. Also hör weiter:

Es macht Freude, Menschen zu helfen in ihrer Not, der Gedanke, Arzt zu werden gräbt sich immer tiefer in mein Hirn. Aber auch die See zieht mich hin mit ihren schwerrollenden Wellen.

N.: Meine Güte, wo hast du das alles gelesen? Hast du es auch erfasst oder nur nachgeplappert?

E.: Darauf kann ich dir keine Antwort geben, ich habe es halt so geschrieben, ob es meinen Gemütszustand beleuchtet, musst du einen Psychologen fragen, der dir irgendetwas deutet, vielleicht die Melancholie meiner Mutter, als sie mich trug. Ich schreibe es nicht ab, um dann lediglich dauernd deine Kritik zu hören. So schrieb ich weiter:

Man kann ja auch schließlich beides tun. Ob man aber auf See auch so vielen Menschen helfen kann? Vielleicht. Aber die näher liegende Zukunft, Soldat zu werden, liegt nicht so weit. Für das Vaterland zu kämpfen, dem wird sich keiner entziehen. Man kann aber auch noch auf anderen Gebieten seine Pflicht tun, kämpfen als Arzt. Ich weiß es nicht, ein nicht einfacher Beruf und ob ich es schaffe? Ich glaube, man hat da die verantwortlichste Stellung, die ein Mensch bekleiden kann. Dreiviertel sieben abends, es klingelt gerade zum Essen.

N.: Meine Kritik verstummt.

E.: Nur aus Bildern kann ich mich an die Gesichter erinnern, zum Subsenior wurde man durch die sogenannte Seniorenkeile initiiert, sie bestand darin, dass man gebückt die Fausthiebe der Senioren auf das Hinterteil ohne Schmerz zu zeigen aushielt. Vorher wurde von diesen festgelegt, wem die Ehre zuteil werde. Es bestand eine gewisse Aufregung bei zwiespältigen Gefühlen, denn man wollte gern aufgenommen werden, dann bekam man Zutritt zum Seniorenzimmer, andererseits tat die Seniorenkeile weh. Am besten, man zog eine Lederhose an. So tat es auch den Peinigern nicht gut, wie viel Hiebe man aushalten musste, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Aus dem Seniorenzimmer, dort war auch Rauchen gestattet, nahm ich den »Echtermeyer« mit, der wirklich die schönsten Gedichte enthält. Das erste: Bei einem Wirte wundermild, da war ich jüngst zu Gaste, ein goldner Apfel war sein Schild an einem langen Aste …, L. Uhland, eine Ausgabe vom Anfang des 19. Jahrhunderts.

N.: Du grundehrlicher Bursche, hast du doch geklaut!

E.: Sei mal still, ich erzähle noch, was du alles gemacht hast, ich schäme mich, es zu schreiben.

N.: Ich gestatte es dir, vielleicht liest einer deshalb deinen Sermon.

E.: Außerdem bekam ich eine Prämie, ich weiß nicht warum, gutes allgemeines Verhalten, für besondere Leistungen in der Schule wohl kaum. Weihnachten 1943, »Der Sülfmeister« von Julius Wolff, eine alte Stadtgeschichte.

N.: Auch das noch, die Welt ist ungerecht!

E.: In der Internatszeit machte ich auch meine erste Bekanntschaft mit dem Jazz, der auf flexiblen Platten, ich weiß nicht mehr, wer sie besaß, aus Amerika gekommen war. An sie kann ich mich noch genau erinnern, man konnte sie fast zusammenrollen, sie wurden mit einer besonderen Nadel abgespielt und waren rosarot. Vorher kannte ich nur die großen Schwarzen aus meiner Zeit, als ich vielleicht sieben Jahre alt war, Günthers Vater besaß den Plattenspieler, der mit einer Kurbel aufgezogen werden musste.

Weihnachten 1943 kam meine Einberufung als Luftwaffenhelfer zum Januar 1944. Unsere Einsatzgebiete lagen wechselnd bis Anfang 1945 rund um die drei wichtigen Werke, Leuna, Buna und Winterhall AG. An Kanena und Rückmarsdorf kann ich mich noch erinnern. Natürlich immer auf freiem Feld. Unsere Grundausbildung erfolgte in einer Kaserne in Halle, da wir uns alle aus der Schule und vom Internat her kannten, konnte das Schleifen uns nichts anhaben, denn: Weg marsch, marsch an den Horizont, hinlegen, aufstehen usw. wurde befolgt, aber im Zeitlupentempo. Nach kurzer Zeit gingen wir in Stellung, ein optisches Messgerät, 4-Meter-Basis, Funkmessgerät, Scheinwerfer mit Mädchen, zehn Kanonen, 8,8 cm. Die Kräftigsten von uns wurden K1, Ladekanonier war eine Arbeit für Athleten. Es waren nur wenige »echte Soldaten« da, ein Gefreiter an jedem Geschütz, ein Leutnant oder Oberleutnant als Kommandeur und einige Unteroffiziere.

Das Gros wurde von uns Jungen gestellt.

Zum Unterricht kamen Lehrer zu uns, einige Bilder erinnern daran, zum Beispiel an »Pumpus«, den Physiklehrer, der als Sprengstoffexperte beim Anschlag auf Hitler im Hofbräuhaus hinzugezogen worden war, den Direktor als Deutschlehrer und »Poldi«, ich weiß nicht, ob wir viel profitiert haben, denn oft wurden wir durch Angriffe gestört.

Wiederum stelle ich mir die Frage, was habe ich damals empfunden? Heute kommt mir das Gespaltensein in militärische Tradition und in zumindest passivem Antinazismus zum Bewusstsein. Ganz sicher ist der Einfluss unserer Lehrer das Entscheidende gewesen und später in der Maschinerie des Krieges die Einsicht, dass sie, je mehr Flugzeuge wir abschießen, desto weniger zerstören können. Es war eine Selbstverständlichkeit, seine Pflicht zu tun, unter Hitler oder sonst jemandem. Dazu fällt mir immer der Befehl Nelsons ein: »England expects that every man will do his duty!« Angst kannte ich nicht, selbst wenn Bomben in unserer Nähe fielen, sie haben auch nie unsere Stellung direkt getroffen, manchmal nur die Barackenwand eingedrückt. Der Gefechtsstand war mit einer Mauer versehen, die Baracken nur mit einem Wall. Ich war an der 4-Meter-Basis, einem Messgerät, das mit einem Rechentisch gekoppelt war, der, über Leitungen mit den Geschützen verbunden, die Einstellung der Zünder vornahm. Meine Aufgabe war das Anmessen der Flugzeuge am Tag und in der Nacht, wenn diese im Scheinwerferlicht ausgemacht werden konnten, was selten geschah. Tagsüber Anmessen von Zielen, zum Beispiel Schornsteinen und Kirchtürmen zur Übung. Sobald ein Bomber getroffen wurde und brannte, versuchte jede Flakstellung, ihn als Abschuss für sich zu buchen, wenn er in Reichweite der Kanonen gewesen war. Dann hieß es schnell aufs Fahrrad und hingefahren. Ich erinnere mich an Einzelheiten, meist waren Rumpf und Tragflächen verstreut, der Rumpf in Teile zerbrochen und deformiert, tote Besatzungsmitglieder im Rumpf teilweise noch als ganze Körper oder als Reste, Farbige, Weiße, mit kurzem Haarschnitt und als ich mal genau hinsah, waren ihre Fingernägel nicht sauber, es kam mir nicht der Gedanke, sie als Mitmenschen zu würdigen. Sie waren Feinde, die unsere Städte verwüsteten, alte Menschen, Frauen und Kinder grausam in Trümmern und Feuer umbrachten, je mehr wir abschossen, desto weniger geschah dies. Die Flakbatterien wurden immer größer, es kam die 10,5 cm dazu, zuletzt zweiundvierzig Geschütze. Wir wurden mit dem Flakkampfabzeichen ausgezeichnet, als unser Bereich zweiunddreißig Bomber abgeschossen hatte. Stolz zeige ich dies auf einem Bild und als ich meine Uniform abgab, habe ich es abgetrennt und aufgehoben.

 

Die Sinnlosigkeit des Krieges zu erkennen, war mir offensichtlich nicht möglich, auch haben wir unter uns kein Gespräch darüber geführt. Nach Jahrzehnten wurde versucht herauszufinden, ob bleibende Traumata bei uns damals noch sehr jungen »Soldaten« oder »Nichtsoldaten« festzustellen sind: »Ein Leben lang geprägt.« Mir schien, dass auch in dieser Befragung eine bleibende negative Auswirkung sehr selten war. Die Selbstverständlichkeit, unsere Aufgabe mit all unseren Fähigkeiten zu erfüllen, ließ keine Zweifel am Sinn aufkommen.

Nicht einmal die Frage hat uns berührt, auf welcher Seite wir stehen würden, als das Attentat auf Hitler 1944 bekannt wurde. Völlig neutral in unserer Meinung hätten wir dem einen oder anderen gehorcht. Eine Entscheidung darüber zu treffen wäre ich nicht fähig gewesen.

Wie oben schon angedeutet, wurde der Standort der Flakbatterien gewechselt, die Geschütze und Messgeräte wurden auf die Bahn verladen und an einen anderen Ort gebracht. Natürlich mussten wir uns dann neu eingraben, wie Bilder beweisen.

So entkamen wir sicher den Bomben. Außerdem war noch zur Täuschung der feindlichen Aufklärung auf der Suche nach Bombenzielen eine sinnvolle Einrichtung vorhanden. Auf freiem Feld, abseits der Industrieanlagen, waren mit Pech und leicht brennbaren Materialien, ähnlich einem Drahtverhau, große Flächen installiert, die bei einem Angriff in Brand gesteckt wurden, um die Bomber zu ermutigen, dort ihre Bomben abzuladen in der Annahme, die Werke getroffen zu haben. Sie wurden uns zuweilen auf harmlose Weise zum Verhängnis, wenn wir bei Nacht, vom Ausgang zu spät zurück, uns fluchend in ihnen verhedderten.

Meist musste mit dem Ausgang das Haarschneiden verbunden werden, denn aus Opposition ließen wir die Haare lang. Ärgerlich war es dann, wenn wir, zurückgekommen, kontrolliert wurden und kaum etwas gekürzt war.

Es blieb nicht aus, dass meine Kameraden schon mit Liebschaften mit den Töchtern aus den umliegenden Dörfern prahlten, die dann in Einzelheiten berichtet wurden. Ich weiß nicht, inwieweit sie der Wahrheit entsprachen, ich jedenfalls kann mich an keine erinnern.

N.: Offensichtlich ein Spätentwickler.

E.: Kann sein, nicht so ge(t)rieben wie du.

Die Scheinwerfermädchen hatten wohl mehr Interesse an den älteren Chargen, obwohl mir Th. versicherte, auch mal mit einer getechtelt zu haben.

N.: Es gibt auch wissende Ausnahmen.

E.: Wir, die Greenhorns, wurden von unseren Vorgängern, den Alten in Raßnitz, d. h. der Klasse vor uns eingewiesen, die dann nach und nach zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht wechselten. Da von uns keine so schöne Zeitung existiert wie jene, die von den uns Nachfolgenden zum Abschied verfasst wurde und alle Lehrer erwähnt, die auch uns in der Stellung betreuten, wollte ich diese im Faksimile einfügen.

(Es gelingt mir nicht. Der Grund: zu wenig Speicher.)

Zurückdenkend kann ich mich nur an wenige Namen erinnern: Theo K. Uli B., F., den Herr Busse, unser Zeichenlehrer, wie auch mich, in Öl gemalt hat, K. H. P., Kühn, wenn ich aber die Bilder betrachte, kommt mir das Individuelle eines jeden wieder ins Gedächtnis. Der kleine Y, der mit Begeisterung eine gute Brotsuppe kochte, Z., den ich immer gern provozierte, Uli, der immer fotografierte, dem ich die vielen Bilder und damit auch die Erinnerung verdanke, Eberhardt St. mit seinem überlegen-skeptischen Blick. Was mir dabei einfällt, es gab keine Rivalitäten oder gar Feindschaften. Raßnitz, Tromsdorf, Rückmarsdorf sind die Dorfnamen, in deren Umgebung wir waren und auf dessen Bahnhöfen wir unsere »Totschläger«, so nannten wir die auf Lafetten zu transportierenden 8,8-cm-Geschütze im Gegensatz zu den stationären, die schwieriger zu bewegen waren, verluden, zusammen mit dem optischen Messgerät und FuMg. Dann mussten immer wieder mit Hacke und Spaten die Schutzwälle um Baracken und Geschütze errichtet werden.

Lt. Sch., der Gent, Hptwm. C., Wchm. F., Lt. K, Olt. B., Uffz. G., der Pedant, Wm. J., es sind die einzigen Namen, die ich notierte, letztendlich belanglos, zu keinem habe ich eine Verbindung und weiß nicht, welches Schicksal ihnen beschieden war.

Wie sollte irgendeiner Interesse daran haben, was kann man daraus ersehen? Der Gedanke, dass mit jedem Individuum eine Welt zugrunde geht, ist faszinierend, aber nur für den, der selbst in der nächsten Zeit zugrunde geht. Wohin gehen alle diese Welten, sie lösen sich auf in der Endlichkeit der Zeit in fünf Milliarden Jahren. Eine Hoffnung besteht, dass doch noch einige wissen möchten, was vorher war.

N.: Mann, du unverbesserlicher Optimist, alles landet auf dem Müll.

E.: Erst jetzt ist mir klar, wer die senkrecht aufsteigenden hellen Kondensstreifen verursachte, die wir zwar als Wunderwaffen ansahen, uns jedoch nichts darunter vorstellen konnten. Es war die Me 163 B, deren Technik mich heute noch fasziniert, eingehend beschrieben von Herrn Stüwe, in einem Buch, das rein technisch ausgelegt ist und sich doch so spannend wie ein Roman liest. Das Raketentriebwerk von Walter mit Wasserstoff und Kaliumpermanganat als Treibstoff, seine technische Entwicklung und die Flugerprobung unter vielen Opfern, und »Peenemünde«, die Geschichte der V-Waffen, Walter Dornberger mit seinem technischen Direktor Wernher von Braun.

Am Ende dieser Zeit stand das große Fragezeichen des »Was nun?«. Mein Ziel stand fest, ich wollte Medizin studieren, wie es mir meine Mutter eingegeben hatte. Zielstrebig meldete ich mich freiwillig als Marinesanitätsoffiziersanwärter, 18-4-44, zeitgemäß beschied man mir, dass nur Soldaten gebraucht würden, so kam ich zur Seeoffizierslaufbahn. Dazu musste eine Tauglichkeitsprüfung abgelegt werden, zu der ich nach Wien befohlen wurde, und das im April 1945.

1945, Februar/März: Zwischen der Entlassung als Luftwaffenhelfer und der Prüfung zum Seeoffiziersanwärter hatte ich zwei Monate Zeit, die ich nutzte, um in Göttingen in die Schule zu gehen. Unser »geschenktes« Abitur, mit der Versetzung in die Oberprima ausgestellt, wurde später für ungültig erklärt, weil es im Jahr 1944 erfolgt war. Dies erfuhr ich, als ich mich 1946 in Göttingen an der Universität vorsorglich einschreiben wollte. So wurde ich Fahrschüler für vielleicht acht Wochen und ging dort in eine Schule, an die ich mich aus vielen Gründen nicht mehr erinnerte, es war eine turbulente Zeit mit Angriffen auf die Züge, Ausfall des Unterrichts wegen Alarms und vielem anderen mehr. Nur eines ist mir in Erinnerung, eine blonde, schlanke Fahrschülerin hatte es mir angetan, wir fuhren immer zusammen, sie leider nur eine kurze Strecke. Es war eine schüchterne Annäherung von beiden Seiten auf dem zugigen Gang der Eisenbahnwaggons, eine Liebe ohne heftiges Begehren. Ich habe sie nie wieder gesehen mit ihren Sommersprossen quer über dem Gesicht.