Magische Verbindung

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N: Ich weiß warum, sei ein wenig objektiv. Warum? Einfach zu faul!

E.: Vielleicht zu wenig Ehrgeiz, oder es hat mich eine innere Hemmung davon abgehalten, eine eigenartige Haltung, wenn ich einen Vorteil hatte, habe ich ihn bewusst nicht genutzt, ich hätte mich geschämt. Ich habe nie etwas gefordert, immer gewartet, bis es mir zugestanden wurde. Selbst wenn ich Macht hatte, habe ich sie nie genutzt.

N.: So eine schöne Selbstcharakterisierung habe ich selten vernommen.

E.: Trotz alldem sind die Vorstellungen in Erfüllung gegangen, die meiner Mutter.

N. : Alle?

E.: Eine Frage, die ich mit Ja beantworte, alle aus der in der Zeit möglichen Vorstellungen.

Und deine?

N.: Nicht alle, es war das, was zu erreichen war, die Vorstellung war immer mehr.

E.: Die Hemmschwelle zum Lügen habe ich bis heute nicht überwunden.

N. : Mit Ausnahmen? Im Übrigen bin ich deiner Meinung.

E.: Oh! Wir werden sehen.

Ich habe entdeckt, es ist von Vorteil, die Wahrheit zu sagen, die glaubt nicht ein jeder, weil er meint, der andere lüge. Außerdem erspart man es sich im Lügennetz zu verheddern.

In einer Ecke des Bildschirms ein Icon, mein Großvater, der mich ermahnte, nie verbotene Dinge anzufassen, »ansehen und sich wundern«, ist das eine Erklärung? Ich habe danach gehandelt und soll meine Hände dabei auf den Rücken gelegt haben. Diese Zurückhaltung bestimmte mein ganzes Dasein. Ich kam ihm wohl ein wenig fremd vor, mein Großvater konnte, wie ich merkte, meinen Blick nicht lange ertragen, der vielleicht, wie ich auf späteren Bildern von mir entdeckte, zu provokativ erschien. Eine weitere Feststellung, ich habe mich immer für unwichtig gehalten, als Mensch in meiner Aufgabe und damit das Problem der Unentbehrlichkeit nicht gekannt.

N.: Schönen ist wohl deine große Gabe?

E.: Genug der Selbstanalyse. Objektiv? Eigne Objektivität sieht der andere als subjektiv an, Objektivität des anderen ist auch Subjektivität. Was ist nun objektiv? Objektivität nur durchs Objektiv? Auch das kann täuschen. Aber woher kommt die Subjektivität? Vom Bewusstsein, woher kommt das Bewusstsein? Da sind wir bei der Neurophysiologie, woher kommt die Neurophysiologie, wer hat der Neurophysiologie auf die Sprünge geholfen, die Computerentwicklung.

N.: Was ist das für eine Behauptung, das Physiologische bestand lange vor der Elektronik.

E.: Der Computer simuliert das Gehirn mit Speicher, neuronalen Verbindungen und multiplen Weichen. Wir werden mit leeren Speichern geboren, die wir dann sukzessive subjektiv mit unseren Sensoren füllen, daraus erwächst unsere Subjektivität, ihr werden wir uns bewusst, sozusagen mit dem Resultat unserer Wahrnehmung. Die Gene liefern den Prozessor, der unsere Wahrnehmung in Programmen zusammenstellt, vernetzt und ausführt. Entwicklungsgeschichtlich entwickelt sich aus dem Ektoderm das Gehirn und auch die Haut, unsere Grenze zur Umwelt, logisch, dass sie der Kontakt zur Umwelt ist und dem Gehirn in der Entwicklung so nahe steht. Vor vier Milliarden Jahren nahmen die Einzeller erstmals mit ihrer Umhüllung die Umgebung wahr, wenn sie etwas berührten. Evolutionär war es die Haut der Lebewesen, die gezwungenermaßen immer differenzierter die Reize verarbeiten musste, was dann mit der Entwicklung des Gehirns dazu führte, die Wahrnehmung zu verfeinern. In Zukunft werden uns Computer mit gespeicherter Ethik, den Antworten auf alle wichtigen Fragen und einem schnellen Zugriff auf all das in der Urteilsfähigkeit voraus sein. Aber was soll das, es fiel mir gerade ein.

N.: Das sind schon wieder solche Ausreißer, die Philosophen haben andere Vorstellungen, mehr Geist. Wie entstehen gute oder böse Handlungen, wer stellt die Weichen?

E.: Unsere Wahrnehmung, und wieder Commynes: »Man muss also feststellen, dass weder die natürliche Vernunft noch unser Verstand noch die Gottesfurcht noch die Nächstenliebe uns davor bewahrt, gegeneinander heftig zu sein, den anderen etwas vorzuenthalten oder ihm auf jede mögliche Weise etwas wegzunehmen.« Auf einen Nenner gebracht: Verhalte dich so, dass du den anderen nicht beeinträchtigst. Da sich aber die Wege unseres Gehirnlabyrinths stetig ändern und damit unsere Absichten, ist die Entscheidung für Gut oder Böse nicht sicher, sozusagen verschränkt.

Ich habe gerade frühere Notizen von mir gefunden, darin auch den eigentlichen Titel meiner Geschichte: »Navigation, kein technisches Buch«, ein wenig naiv? »Die Kunst, jederzeit die Position eines Schiffes oder eines Flugzeuges zu bestimmen und seine direkte Bewegung von einer Stelle zur anderen zu bewerkstelligen«, »The American Peoples Encyclopedia«, Vol. 13, Grolier Inc.1968. Die Definition ist klar, die Ausführung mit Hilfsmitteln heute möglich, aber noch immer nicht leicht. Früher zum Beispiel die Jagd nach der Bestimmung des Längengrades.

N.: Manchmal hast du recht.

E.: Es war in der Zeit als ich mein IFR-Rating absolvierte, 1980, der Artikel in »Flying« passte genau auf meine Situation, »Tears on the Cowling« von Herrn Collins, einem Flying-Redakteur, er hatte selbst ein Flugzeug gebaut, die »Melmoth«, Weltenwanderer, mit großer Reichweite, es wurde später nach seinem Flug um die Welt auf dem Boden von einem anderen gerammt und zerstört. Er hatte auch mal den Propeller verbogen. Und ich war nun auch auf dem Bauch gelandet, in St., die sanfteste Landung, die ich je fertiggebracht habe, schnurgerade auf der Centerline mit der kürzesten Landestrecke. Der Prop war an beiden Enden umgebogen, das Bodenblech verdünnt, sonst nichts. Mein Freund R. neben mir hatte immer auf die Bodenberührung gewartet, die erst sehr spät kam. Ich hatte vor lauter Konzentration auf das ILS (Instrument landing system) das Fahrgestell vergessen, das Warnhorn war nicht zu überhören, es hatte mich nicht gestört. Mein ohnehin geringes Selbstbewusstsein geriet nach dem Vorfall ins Schwanken, es dauerte sehr lange, bis es sich wieder stabilisierte Es tröstete mich nicht: »Die einen haben es hinter sich, die anderen noch vor sich.« Arme Mooney, obwohl ich sie so misshandelt hatte, nahm sie mir es nicht übel. Doch muss ich, um bei der Wahrheit zu bleiben, etwas hinzufügen: Um ruhiger zu sein, als ich zum ersten Mal allein ein ILS herunterturnte, hatte ich einen Tranquilizer eingenommen, trotz Verbotes in der Luftfahrt, so störte mich offensichtlich das Warnhorn nicht, es ist keine Entschuldigung, nur eine Ergänzung.

N.: Das war einigermaßen subjektiv-objektiv.

E.: Es wurde auch fotografiert.

Oder doch lieber »Irgendjemand« als Buchtitel.

N.: Du Hinterhältiger, dann wärst du mich losgeworden.

E.: Da wäre nicht viel verloren. Mit Absicht habe ich meine zusammengewürfelten Notizen einfach so hingeschrieben. Dann steht hier noch: M., du bist der Größte, das rührt daher, dass wir eine Karte von ihm, dem Griechenfreund, bekamen, darauf stand: »I okay in Ithaka!« Kurz und bündig und unvergessen, Michele.

Weiter folgt: Einen Traum realisiert, was für ein Traum? Siehe oben.

N.: Zur Vollendung hat dir der Mut gefehlt.

E.: Ich meine es auch sublimiert.

Mir träumte einst von wildem Liebesglühn, von hübschen Locken, Myrten und Resede, von süßen Lippen … und:

Mir träumte von einem Königskind mit nassen bleichen Wangen … und:

Ich halte dir die Augen zu und küss dich auf den Mund …

N.: Na, endlich eine Tat.

E.: H. H., einmal so, einmal so.

N.: Wie meinst du das?

E.: Nun, man kann Schönes in der nächsten Sekunde zerstören, H. H. war der Meister darin.

E.: Ein anderes Märchen sollte so beginnen:

Es war einmal ein nicht mehr so junger Mann von zweiunddreißig Jahren, der sah ein Mädchen mit pechschwarzem Haar, kohledunklen Augen, einer Stimme, samtweich, verführerisch wie die der Loreley, aber alles zu seiner Zeit!

N. : Es ist noch lange hin, so willst du nur zum Weiterlesen deines Gefasels ermuntern.

E.: Schubert-Jahr, 31.1.1797–19.11.–1828, zweihundert Jahre, ich fand sein Zitat so resignierend: »Nur da, wo du nicht bist, dort ist das Glück.«

N.: Nun mal keine Melancholie, du kannst es nicht auf dich beziehen.

E.: Dem Glück hinterherlaufen und blind sein, wenn man es eingeholt hat?

Alfred Brendel interpretiert Schuberts Klavierstücke manchmal ein wenig zu piano.

Hin und her in der Zeit, 1928 war ein Jahr ohne Bedeutung, abgesehen von dem Ereignis, dass ich das Licht der Welt erblickte. Ich kann mich an den ersten Lichtschein nicht erinnern, die Augen gehen einem wohlweislich nicht gleich auf. Die Geburt eines strammen Jungen, angezeigt in der Zeitung – wen das interessierte, mit Datum vom 18.3.28., ein Fische-Kind, an einem Sonntag, Sonntagskinder haben die Sonne des Lebens gepachtet, so dachte wohl auch meine Mutter, gegen 12 Uhr mittags, »High noon«, war auch keine barbarische, nachtschlafende Zeit.

N.: Das brauchte ich nicht zu berichten, aber es ist vielleicht interessant zu erfahren, was vor meiner Zeit war.

E.: Jetzt merke ich, dass ein Teil meiner Erzählung offensichtlich dem Computer zum Opfer gefallen ist, natürlich mit meinem Zutun. Ein tückischer Druck mit dem Ballen aufs Keyboard und wie bei einem Zauberer ist alles verschwunden, nur der Kenner zaubert es wieder hervor, weil es gar nicht weg ist, mir gelingt es nicht.

N.: Das geschieht dir ganz recht, alter Dummkopf, ehe man einen Knopf oder eine Taste drückt, überlegen!

E.: Nun muss ich all das, was ich so schön (meiner Meinung nach) …

N.: Die Einschränkung ist nötig.

E.: … verfasst habe, aus dem Gedächtnis graben, schade. Es war ein Jahr ohne Bedeutung. Ich ärgere mich doch über den Verlust meiner Schreiberei, zum Teufel! Während ich darüber grübele, fällt mir immer mehr ein, es war ein ganz schön langer Bericht.

 

N.: Du tust mir richtig leid.

E.: Ob ich ihn so gut …

N.: Gut ist wirklich naiv.

E.: … wieder hinkriege? Was nützt der Ärger?

N.: Natürlich nichts.

E.: Dieser blöde Kerl regt mich auf mit seinen ständigen Kommentaren, statt selber einmal etwas von sich zu erzählen. Ich muss den Anschluss finden, aber dann werde ich mich rächen.

Mein frühes Dasein muss kaum Dramatik enthalten haben, denn ich kann mich nur an Weniges erinnern, Bemerkungen meiner Mutter und Bilder könnten es ergänzen. Ein Bild: Ich ohne Haar.

N. : Das habe ich mir erspart.

E.: Im Kinderwagen mit meinem Kindermädchen und Bob, einem Boxer, der auf einem anderen Bild mit dem Hut meines Onkels Männchen macht. Ein Bild meiner Mutter mit meinem Vater im »New Look« (schönes deutsches Wort) der Zwanzigerjahre vor ihrem Auto. Mein Vater kam erst in mein Bewusstsein, als ich sechs Jahre alt war, denn meine Eltern wurden früh geschieden. Woran aber erinnerte ich mich, jedenfalls noch nicht an Ereignisse, die mir meine Mutter berichtete. Mein Großvater nahm mich öfters mit auf Spaziergänge und als er einmal eine Humme fertigte, spielte ich an einem Mühlbach und muss wohl hineingefallen sein, ein Junge zog mich zu meinem Glück oder Unglück heraus, meine Mutter hat es ihm nie vergessen, ich war nass, mein Großvater bleich, seit dieser Zeit war Wasser nicht mehr mein Element, dem Tierkreiszeichen zum Trotz.

N.: Das war ein Glück, sonst könnte ich dich nicht korrigieren.

E.: Wie macht man eine Humme.

Humme, Humme, Wiedchen, Saft, Saft siedchen …

Man klopft leicht rund um ein Stück einer jungen Weidenrute auf die Rinde, sie lässt sich dann vom Holz abziehen. Der gebildete Saft zwischen Holz und Rinde macht es möglich. Jetzt hat man ein mehr oder weniger dickes Rohr der Rinde. Auf einem Zentimeter befreit man es von der äußeren Schicht und wenn man diese Lippen ein wenig aufeinanderdrückt, vibrieren sie wie die Lippen eines Fagotts, wenn man hineinbläst. Die Dünnen erzeugen hohe, die Dicken tiefe Töne. Das ist eine Humme.

Ein andermal war ich mit meiner Großmutter im Garten, als mein Onkel väterlicherseits kam und mich, wie man fachmännisch sagt, kidnappte, er hatte ein Faible für englische Autos und ich fuhr wohl mit ihm stolz in seinem 6-Zylinder zu meinem Vater nach H. Meine Mutter hatte alle Mühe, mich unter Polizeischutz zurückzuholen, ich war wohl sehr wertvoll. Alles berührte mich überhaupt nicht. Berichten zufolge muss ich ein sehr artiges Kind gewesen sein, zur Strafe in eine Ecke gestellt, blieb ich so lange stehen, bis man mich wieder holte, vor begehrenswerten Dingen stehend, hatte mich mein Großvater, wie schon gesagt, gelehrt: »Ansehen und wundern, nicht anfassen«, ich richtete mich danach.

N: Wie abscheulich eigenlobig!

E.: Wann dachte der kleine Junge einmal etwas: Als ich in den Mühlbach fiel. Gar nichts, von dem Bewusstsein einer Lebensgefahr ist nichts in Erinnerung, es mussten erst einmal die Speicher gefüllt werden, die Vernetzung geschieht dann durch Erfahrung, durch das Verhalten anderer Menschen, deren Reaktionen, die Korrektur des eigenen Verhaltens durch andere, auch Angst wird erfahren und erst später kurzgeschlossen durch Abwehr der Gefahr ohne Beteiligung des Großhirnes.

Zur Einschulung ein Brief meines Onkels O., dem Bruder meiner Mutter:

Stuttgart, den 16.3.34

Meine lieber E.,

zu deinem Geburtstag und zum Schulanfang habe ich dir heute einen ersten Ranzen zugeschickt. Hoffentlich gefällt er dir. Was du an Büchern und Tafel benötigst, schreibst du, dann schicke ich dir das Geld, du kaufst es dort in A. Zu deinem Geburtstag wünsche ich dir vor allem Gesundheit und dass du in allem deiner Mama immer schön folgsam bist. Wenn du mal ein großer SA-Mann werden willst, dann musst du jetzt schon anfangen und nie ungezogen werden. Wer kommt denn alles zum Geburtstag? Schreib mal darüber. Ich selbst würde gern mitfeiern, doch da muss ich wohl bis Ostern oder Pfingsten warten, hier muss ich arbeiten, dass ich Geld verdiene und habe so wenig Zeit.

Grüße Opa, Oma, Mama, Tante L., Orschi, Horst und alle, die zum Geburtstag kommen.

Bleib schön gesund, es freut sich auf das Wiedersehn dein Onkel und Pate O.

Er war weit herumgekommen, wie man so schön sagt, auch in Amerika, von wo er mir einen kleinen Totempfahl mitbrachte. Er starb am Hodgkin-Sarkom im Alter von achtunddreißig Jahren einen qualvollen Tod, heute könnte man die Erkrankung fast vollständig heilen. Die brennenden Kerzen am Kopfende seines Sarges sind mir noch deutlich in Erinnerung, sie ließen sein bleiches Gesicht noch weißer erscheinen und sie verbrannten auch die geschlossenen Tulpen, die dort standen. Ich mag Tulpen nur, wenn sie weit aufgeblüht sind.

Wann hatte ich zum ersten Mal eine emotional gefärbte Meinung?

N.: »Schööön definiert.«

E.: Ich erinnere mich daran, mit sechs oder sieben Jahren. Wir, aber wer es war, weiß ich nicht mehr, gingen den holprigen, kopfsteingepflasterten Kirchrain hinunter, die Schule war gegenüber dem Kirchhof, der Lehrer S., er war ein massiger Mann mit einem gutmütigen Gesicht, hatte uns die Nibelungensage wohl recht dramatisch erzählt. War Hagen von Tronje ein Bösewicht? Wir konnten uns über seine Gemeinheit nicht beruhigen, aber auch Siegfried war nicht integer, er hatte einen Meineid geschworen. Wie konnte Hagen nur so genau treffen, natürlich nur aus dem Hinterhalt und mithilfe der aufgestickten Markierung, ein Lindenblatt war schuld daran, Siegfried hatte es nicht gemerkt, als er im Drachenblut badete. Wenn er es gemerkt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, es zu entfernen – und wenn er ein Affe gewesen wäre?, lächerlicher Einfall, Stirnhirn! Jedenfalls hat Kriemhilds Rache noch viele Opfer gefordert. Ist eigentlich schon einmal jemand bei Worms getaucht? Schliemann in der Taucherglocke. Alerich hätte ihn sicher harpuniert. Die Siegfriedquelle sprudelt noch heute am Felsenmeer im Odenwald, man könnte meinen, Gunther habe von hier den Stein nach Island zu Brunhilde mitgenommen. In Xanten ist nichts mehr von Siegfried übrig geblieben, obwohl er doch sicher auch im Dom beigesetzt worden wäre!

N.: So solltest du die Leute nicht auf den Arm nehmen, du Simpel!

E.: Nach der Erzählung ist es nicht ganz klar, wie Siegfried für Gunther Brunhild endgültig gewann. Hatte Siegfried Kriemhild in einer schwachen Stunde die Wahrheit erzählt, so musste man annehmen, dass er es war, der Brunhild zum ersten Mal nicht nur besiegte, oder hatte er gelogen. Brunhild büßte hiernach all ihre Kraft ein. Gunther war wohl nichts anderes übrig geblieben, denn Brunhild hatte sich in der Hochzeitsnacht mehrmals erfolgreich gewehrt, ihn gefesselt und mit ihrem Gürtel über Nacht an einen Nagel gehängt. Die Sage lässt viel Spielraum für die Fantasie.

N.: Eine erotische Hintergründigkeit passt nicht zu Teutonen.

E.: Vielleicht interessiert sie dich doch.

Wie war es wirklich? Kein Augenzeuge, die Augen, die dann ihre Lust haben könnten, die Tarnkappe fehlte. »Was schad das, was du lernest, was dich deine Augen lernen, was dich die Expierienz lernet, müssen nicht solche Ding also gelernet werden durch die Augen? Und die Augen, die dann in der Erfahrenheit ihre Lust haben. Dieselbichen seint deine Professoren, denn dein eigen Fantasieren und dein eigen Speculieren mag dich dahin nicht bringen.« Paracelsus, kluger Bombast.

Wie war es wirklich? Nach dem Hochzeitsgelage waren Gunther und Brunhild kaum in ihrer Kammer, als Gunther natürlich seine Braut, die sich ins Bett geflüchtet hatte, auch besitzen wollte. Er zog schnell seine Kleider aus und legte sich zu ihr. Geübt war er schon im Verführen und Zwingen von Mägden, aber anstatt willfährig zu sein, begann die jungfräuliche Brunhilde, die stärker war, einen Ringkampf. Seine geschickten Finger und die strotzende Auferstehung an seinem Leib, die die Jungfrau zum ersten Mal wahrnahm, ließen sie im Gerangel kurz nachgeben, Gunther meinte schon gesiegt zu haben, doch er hatte sich verrechnet. Es gelang ihr, ihn mit ihrem Gürtel zu fesseln und an einen Haken zu hängen. Sie betrachtete den Wehrlosen und verstohlen das nun auch Machtlose. Er hatte natürlich ihr Interesse bemerkt und ermunterte sie, trotz seiner misslichen Lage, es näher zu erkunden. Spöttelnd »Ich will sehn, wie kräftig es ist!«, fasste sie es und konnte sich von seiner Härte überzeugen. Doch auch dies half ihm nicht, sie gelüstig zu machen. Er erzählte dies Siegfried, der sich erbot, ihm am nächsten Abend zu helfen. Die Tarnkappe war schnell herbeigebracht und so gingen beide in die Kammer, in der Brunhilde vor ihrem Spiegel saß. Sie drehte sich um und sagte spöttisch: Soll ich dich noch mal an den Haken hängen? Gunther näherte sich ihr unterwürfig und bat: Sei doch nicht so grausam, lass uns doch nur zusammen schlafen, ich will weiter nichts von dir, was sollen sonst die anderen denken. Nahe genug bei ihr streifte er ihr das Gewand von den Schultern, dass ihre prallen spitzen Brüste heraussprangen. Jetzt wollte sie ihn wieder fassen, doch Siegfried hielt ihre Hände so fest, dass sie Gunther nicht abwehren konnte, der sie ganz entkleidete. Siegfried drängte sie ans Bett, sie ließ sich nicht auf den Rücken zwingen und wehrte sich, wand sich hin und her, er fasste sie mit aller Kraft, sie strauchelte, bot das unbeschützte Ziel dar und so wurde die kampfeslustige Jungfrau mit seiner Lanze durchbohrt. Ein Schrei, wieder wollte sie entkommen, doch das hohe Bett verhinderte es, er hielt sie an den Hüften, die weiteren heftig geführten Stöße erschütterten den kräftigen Körper, es dauerte lange, bis ihre Abwehr ganz erlahmte; als die kräftigen Salven ihr Innerstes trafen, gab sie ermattet nach. Beim zweiten Ansturm überwältigte sie der Kitzel vollends und danach hatte es Gunther leicht, das Spiel fortzuführen, bis sie sich nicht mehr rührte. Kaum hatte sie sich erholt, wurde sie wieder geschwächt. So erstürmten viele kleine Recken ihre Festung. Am nächsten Morgen war ihre Kraft gebrochen. Seit dieser Zeit war Brunhilde ihrem Gatten untertan. Am Ende hatte Siegfried als Beute Gürtel und Ring Brunhildes mitgenommen, was später zu den unseligen Morden führte.

E.: Haben denn deine Augen keine Lust beim Zusehen? Das Herz aber reicht ja aus nach Saint-Exupery.

Eine andere Erinnerung, sommersonntagfrühnachmittags war alles still, auch auf der Hauptstraße. Ich saß auf der Treppe vor unserem Haus in der hellen Sonne und träumte vor mich hin, die weißen Tauben des Nachbarn pickten auf der Straße, da kam ein großer, offener schwarzer Mercedes mit unverminderter Geschwindigkeit daher, ich höre noch die klatschenden Töne der Reifen auf dem Blaubasalt, weiße Federn flogen plötzlich umher, ich meinte, die Insassen des Autos jubelten auch noch, vielleicht aber auch nicht, ich lief schreiend ins Haus, seitdem kann ich keinen Mercedes mehr leiden.

N.: Du bemühst dich als Psychoanalytiker, Dilettant!

E.: Das hat mit Psychologie nichts zu tun.

Du musst mir mit der Psychologie kommen, der Wissenschaft, die beansprucht, therapeutisch tätig sein zu können mit ihrem Geschwätz. Was für Versprechungen kann sie denn machen, um zu trösten – keine! Christentum dagegen ist als Psychotherapeutikum vertretbar. Es verspricht mit seiner infamen Lüge wenigstens die Wiederauferstehung und das Wiedersehen mit den Lieben, der Islam das Paradies. Dagegen ist die Psychotherapie wirkungslos.

Wann habe ich überlegend gehandelt, so mit sechs, sieben Jahren? Das kindliche Versteckspielen, immer noch ein beliebter Sport heute, wie ich merke, war auch für uns lange Zeit eine nimmermüde Beschäftigung, einer hielt sich die Augen zu und zählte bis zehn, der andere rannte, so schnell er konnte, sich zu verstecken. Die Begrenzung war ein Häuserblock. Start vor unserem Haus. Anstatt mich aber statisch zu verbergen, lief ich mit höchster Geschwindigkeit um den Block, sodass ich den Sucher bald von hinten sah, der mich immer vorn suchte. So war ich meistens der Gewinner.

N.: Du warst doch nur bauernschlau, Kerlchen!

E.: Ansonsten war das sogenannte »Köppen« ein beliebter Sport, welche Größe von Ball uns auch in die Hände fiel, er wurde benutzt. Das Tor, die Bürgersteigbreite, der Abstand circa drei Meter. Der Ball wurde nicht sehr hoch geworfen und mit einer seitlichen Schleuderbewegung des Kopfes mit möglichst großer Beschleunigung ins gegnerische Tor gestoßen, natürlich meist in die unteren Ecken. Ich brachte es hier auch zur Meisterschaft und verlor selten.

 

Im Winter kamen die Schlitten zur Geltung, man konnte selbst auf der Straße fahren, denn Autos gab es wenig. Die Großen gingen abends auf den Pf. Berg und wenn die Straße glatt war, fuhren sie bis zum unteren Bahnhof, es war für sie ein Riesenspaß, denn sie saßen immer sehr eng. Um nicht durch Bremsen, was zum Steuern einzelner Schlitten nötig war, Geschwindigkeit zu verlieren, wurden die Schlitten miteinander beweglich verbunden, sodass zuweilen eine lange Schlange entstand. Wehe, wenn ein Schlitten kippte, alle anderen fielen dann auch um. Wir, die Kleineren, hatten andere Strecken, kürzer und steiler, zum Beispiel die Hohle oder das Möllwerchen runter. Während andere gemeine Davosschlitten oder »Jippen« hatten (es waren einfache, aber stabile, kastenförmige Gebilde mit Eisenkufen, auf denen man meist liegend fahren musste) hatte ich einen Rennschlitten, wohl noch von meinem Vater gekauft, mit trapezförmig ausgestellten Kufen, oben schmaler vorn höher als hinten, mit Gurtsitzen, hinten nur zwanzig Zentimeter hoch, und zwei Hörnern, an denen man hinter sich greifend lenken und sich festhalten konnte. Am unteren Ende der steilen Strecke stand quer ein Hindernis in Form einer natursteinernen Scheunenwand, die umfahren werden musste, um über die Hauptstraße den Kirchrain wieder hinaufzukommen. Die Schnelligkeit konnte man daran ermessen, wie weit der Fahrer den Kirchrain heraufgekommen war. Nicht wenige scheiterten an der Mauer oder ließen sich vorher vom Schlitten fallen. Ich kam aufgrund meines besseren Materials immer am weitesten.

N.: Sieh einer an, was für ein Angeber!

E.: Es waren alle Jungen ohne Unterschied der Klassen dabei, mir war nicht bewusst, dass es sie gab, erst später mit zehn Jahren ließen sie mich den Unterschied spüren. Mein bester Freund K. wohnte bei seinen Großeltern in, wie mir gar nicht klar wurde, ärmlichsten Verhältnissen, er war ein uneheliches Kind, die Mutter arbeitete in K. Mir sind noch seine grünen Schneidezähne in Erinnerung, sie wurden nie geputzt. Unsere Nachbarn mit ihren Kindern waren fast alle Arbeiter in Zeche und Tongruben, grundehrliche Menschen mit einwandfreiem Charakter. Ich habe weder von meinen Großeltern noch von meiner Mutter abfällige Bemerkungen über sie gehört, im Gegenteil, sie haben sie sehr geschätzt.

N.: Na ja, die sollten ja auch bei ihnen kaufen.

E.: Ich wusste damals noch nicht, wo ich herkam, dass mein Großvater ein »richer« Mann war und damit auch seine Tochter und ich, obwohl mein Vater und sein Bruder mit einer Fabrik in Konkurs gegangen waren.

Meine sommerlichen Fahrerlebnisse begannen mit einem vom Stellmacher handgemachten Handwagen, er war angeschafft worden, damit ich, wenn es erforderlich war, Brot und Brötchen der Bäckerei meines Großvaters den Kunden brächte, besonders viel Spaß machte es mir, wenn die Steigerfamilien beliefert werden mussten. Es war einfacher, bergab zum Ostbahnhof zu fahren, als ihn den Berg hinaufzuziehen und durch den Wald dorthin zu gelangen, denn es führte eine Seilbahn von den Gruben zum Ostbahnhof, die dort die Kohle und den Ton auf Güterwagen weitertransportierten. Die leeren Loren fuhren zurück. Es gruselte mich immer, wenn ich die steilen Treppen der Seilbahnstation unter dem lauten Gepolter der Eisenloren hinaufkletterte, die mit für mich großer Geschwindigkeit in den vorn offenen und hoch über dem Boden gelegenen Schlund befreit vom Zugseil heranrasselten und, geschickt von den von mir bewunderten Männern gebremst, ihren Inhalt auf schräge Ebenen, die zu den Güterwagen führten, kippten. In gleichem Abstand wurden sie dann aufgerichtet, umgelenkt und gefesselt am Seil wieder auf die Reise nach oben geschickt. Da rein kamen dann die Brote und Brötchen, ich sah sie mit Grausen über dem Abgrund schweben.

N.: Wie ich weiß, hast du bis heute das Grausen vor Abgründen nicht überwunden.

E.: Der Bursche mischt sich auch überall rein!

Das war die nützliche Seite meines Wagens, es gab aber eine noch viel schönere. Man konnte im Wagen, vorn sitzend, die Deichsel zwischen die Füße nehmen und damit lenken, auf dem Basaltpflaster rutschten die eisenbewehrten Räder bei jeder Kurve so, dass, heute bezeichnet man es als powerslide, die hinteren Räder nach außen gingen, der Wagen übersteuerte und so um die Kurve schlidderte, ein Heidenspaß, die steile Straße hinab. Bremsen gab es nicht, um zum Stillstand zu kommen, war dieselbe Taktik im übertriebenen Zustand notwendig, indem man den Wagen quer zur Fahrtrichtung stellte. Auf der Ebene sich fortzubewegen war ebenfalls möglich, man saß hinten im Wagen, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, stieß sich mit den Füßen abwechselnd ab und da die Deichsel nach hinten geschlagen war konnte man den Wagen auch lenken. Alles in allem ein großes Vergnügen, das man den ganzen Tag betreiben konnte. Es wurde immer mehr gewagt, selbst der steile, nicht befestigte Weg den Schw. Berg runter wurde im höchsten Tempo genommen. Übrigens war der Wagen grün gestrichen und hielt alles aus, so gut war seine Qualität.

N.: Noch heute hält dich dieser Spleen gefangen.

E.: Ich lebte eine Zeit lang in M. bei meinem Onkel und ging auch dort zur Schule in einem Haus, das damals schon im Garten einen Swimmingpool hatte, in dem ich mit einem Floß, es bestand aus einer Holzbohle, herumpaddelte und schwamm.

N.: Du hast ganz vergessen, dass du einen großen Wasserkäfer erschlagen hast, du Tierfreund.

E.: Du bist so gemein, mich daran zu erinnern, ich leide heute noch unter dem Anblick – seine im Tod gespreizten Flügel. So was solltest du nicht tun.

N.: Meine Bosheit ist mit mir durchgegangen, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde, ich bin betrübt.

E.: Außerdem stand mir ein Damenfahrrad zur Verfügung, ich fuhr wild auf den Gartenwegen, möglichst schnell und, zum Ärger der Hauswirtin, die Rasenecken abschneidend. Die Wege waren mit rundem Kies gestreut und so konnte ich meinen powerslide auch auf zwei Rädern unter Bremsen des Hinterrades ausführen.

N.: Wenn das einer heute in deinem Garten täte, oh weh!

E.: Ich war der »Saupreiß« in der Klasse und musste mich gegen mancherlei Angriffe der »Bazis« wehren. Aber bald kämpften wir mit gleichen Waffen, ich hatte auch einen Hirschfänger in der Seitentasche meiner bayerischen Lederhose, auf dessen Klinge wir immer mit den typischen Gesten anzeigten, wie weit der Spaß ging. Ich muss wohl auch bald ein Bayerisch gesprochen haben, was mich dann nicht mehr von den anderen unterschied, in der Gefolgschaft hatte ich August und wir zwei waren nicht mehr angreifbar.

N.: Wie immer tapfer mit dem Maul.

E.: Die Würm war ein klares Flüsschen, wenn auch flach, hier wurden die ersten grundlegenden physikalischen Versuche gemacht, V = Weg / Zeit, mit Holzstücken unter der Brücke hindurch.

N.: Viel mehr verstehst du heute auch nicht von der Physik.

E.: Dieser unverschämte Bube, warte, später zahle ich es ihm heim. Ein wertvolles Geschenk meines Onkels war ein Schuco-Auto, offen, weiß, mit Gangschaltung, auch ein Lotsenboot, schraubenlos, mit einem pulsierenden Rückstoß-Dampfantrieb, praktisch einem gepulsten Antrieb, ein flacher Kessel im Boot wurde mit einer Flamme erhitzt, der obere Teil des Deckels war eine Metallmembran, die durch den Dampf, aus angesaugtem, erhitztem Wasser erzeugt, angehoben und gedehnt wurde und die dann aufgrund ihrer Eigenelastizität in ihre Ausgangslage zurückfederte und den gepulsten Dampf durch zwei unter dem Wasser liegende Auspuffrohre ausstieß und so den Vortrieb bewerkstelligte. Ich habe dieses Prinzip bis heute noch nicht wieder gesehen.

An zwei Begebenheiten erinnere ich mich noch deutlich, denen ich entnehmen kann, dass ich nicht wusste, dass es zwei Religionsrichtungen gab. Ich blieb immer im katholischen Religionsunterricht sitzen und hörte mir an, was der Pater alles Schönes erzählte. Er malte einen Kelch an die Tafel, schwungvoll und in Farbe, Heilige, Brot und andere Dinge, um den Kindern das Erklärte auch bildlich nahezubringen. Ich nahm schon einige Zeit an diesem Unterricht teil, als ich plötzlich aus der Klasse gewiesen wurde, ich war Protestant. Ich nehme an, Kelch, Brot und anderes waren wohl unterschiedlich in den Konfessionen. Im Übrigen faszinierte mich nur die illustrierte Geschichte, den religiösen Hintergrund habe ich damals und auch später nicht begriffen.