Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym

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Die Seltsamkeit seines Verhaltens erregte schließlich meine Aufmerksamkeit. Nachdem er eine Weile mir Gesicht und Hände beleckt hatte, hörte er plötzlich auf und ließ ein leises Winseln vernehmen. Dann streckte ich meine Hand nach ihm aus, und stets fand ich ihn mit aufgehobenen Pfoten auf dem Rücken liegen. Die häufige Wiederholung dieses Benehmens erschien sonderbar, und ich konnte keine Ursache dafür finden. Da der Hund sehr betrübt schien, schloß ich daraus, er habe eine Verletzung erlitten; ich untersuchte seine Pfoten, fand aber keine Spur einer Wunde. Dann hielt ich ihn für hungrig und reichte ihm ein großes Stück Schinken; er fraß es gierig, begann aber sogleich wieder sein wunderliches Tun. Nun meinte ich, er leide gleich mir unter den Qualen des Durstes, und wollte diese Vermutung als richtig annehmen, als mir beifiel, daß ich ja bis jetzt nur seine Pfoten untersucht hatte, daß er möglicherweise am Körper oder am Kopf verwundet sein könnte. Ich befühlte sorgsam den Kopf, fand aber nichts. Doch als ich ihm mit der Hand über den Rücken strich, bemerkte ich eine leichte Erhebung der Haare, die sich quer darüber hinzog. Mit dem Finger nachtastend, entdeckte ich eine Schnur, die sich um den Leib des Hundes wickelte. Bei näherer Untersuchung kam ich auf einen Streifen, der nach meinem Gefühl ein Stück Briefpapier schien, das mit der Schnur unmittelbar unter der linken Schulter des Tieres befestigt war.

Drittes Kapitel

Sogleich kam mir der Gedanke, das Papier sei ein Brief von Augustus; irgendein unvorhergesehener Zufall habe ihn gehindert, mich aus meinem Kerker zu befreien, und so habe er diesen Weg gewählt, um mich über den Stand der Dinge zu unterrichten. Vor Eifer bebend ging ich nochmals auf die Suche nach den Phosphorhölzchen und Kerzen. Wohl eine Stunde lang forschte ich vergeblich nach den fehlenden Gegenständen; es war eine fruchtlose, ärgerliche Jagd; gewiß noch nie hat es einen so qualvollen Zustand von Besorgnis und Spannung gegeben. Endlich, endlich, während ich meinen Kopf dicht am Ballast nahe der Öffnung des Koffers hatte, bemerkte ich in der Richtung des Matrosenlogis ein schwaches glimmendes Leuchten. Höchst überrascht trachtete ich mich ihm zu nähern, da es nur wenige Schritte von mir entfernt schien. Kaum hatte ich in dieser Absicht eine Bewegung gemacht, da verlor ich den Schimmer völlig aus den Augen, und ich mußte, um ihn wieder zu Gesicht zu bekommen, mich zu dem Koffer bis an meinen früheren Standort hinfühlen. Indem ich jetzt meinen Kopf vorsichtig hin und her wandte, entdeckte ich, daß ich mich dem Licht nähern konnte, wenn ich langsam und behutsam in entgegengesetzter Richtung ging. Auf einmal hatte ich's vor mir (nachdem ich mich durch unzählige Windungen durchgefochten hatte) und erkannte, daß es von Bruchstücken meiner Streichhölzer ausging, die in einem leeren, auf die Seite gerollten Faß lagen. Wie kamen sie nur an diesen Ort? Meine Hand erfaßte zwei oder drei Stückchen Kerzenwachs, die der Hund benagt zu haben schien. Sofort wurde mir klar, daß er meinen Kerzenvorrat aufgefressen hatte, und mir blieb keine Hoffnung mehr, Augustus' Mitteilungen jemals lesen zu können! Die geringen Wachsreste waren so arg mit anderem Zeug vermengt, daß ich daran verzweifelte, mich ihrer noch zu bedienen, und sie dort liegen ließ. Das bißchen Phosphor sammelte ich, so gut ich konnte, und kehrte damit unter vielen Schwierigkeiten zu meinem Koffer zurück, wo Tiger die ganze Zeit über geblieben war.

Was nun tun? Ich konnte es nicht sagen. Der Kielraum war von so großer Finsternis erfüllt, daß ich meine Hand nicht zu sehen vermochte, selbst wenn ich sie mir dicht vor die Augen hielt. Den weißen Papierstreifen konnte ich knapp wahrnehmen, doch nicht, wenn ich gerade auf ihn blickte; ich mußte die äußeren Teile der Netzhaut gegen ihn kehren, das heißt, ihn schief ansehen, bevor er einigermaßen sichtbar wurde. Man stelle sich danach vor, wie dunkel mein Gefängnis sein mußte, und der Brief meines Freundes (falls es ein Brief von ihm war) schien mich nur in ärgere Trübsal stürzen zu wollen, indem er mein geschwächtes und aufgeregtes Gemüt noch mehr und ohne Zweck beunruhigte. Umsonst sann mein Hirn auf tausend unsinnige Arten, Licht zu schaffen, Mittel, wie sie ein Mensch im Opiumtraum erdenken würde, wenn jedes abwechselnd als das vernünftigste und das tollste erscheint, gerade wie die Fähigkeiten des logischen Denkens und der Phantasie wechselnd aufflackern, indem eine die andere verdrängt. Schließlich tauchte ein Gedanke auf, der mir verständig erschien, und ich wunderte mich mit Recht, daß ich ihn nicht schon vorher gefunden hatte. Ich legte den Streifen auf den Rücken eines Buches und sammelte auf ihm die Reste der Phosphorhölzer. Dann verrieb ich rasch und stetig das Ganze mit der Fläche meiner Hand. Augenblicklich verbreitete sich ein klares Licht über das Blatt; und wäre etwas Geschriebenes darauf gewesen, ich hätte es sicher ohne Mühe lesen können. Doch stand keine Silbe darauf – ich blickte auf ein trostloses weißes Blatt, die Beleuchtung verging binnen weniger Sekunden, und mit ihr erstarb der Mut in meiner Seele.

Ich sagte schon mehr als einmal, daß mein Geist seit langem in einer Verfassung war, die an Schwachsinn grenzte. Gewiß gab es Zwischenräume völligen Vernünftigseins, mitunter sogar, wenn auch selten, eine Anwandlung von Energie. Tagelang hatte ich ja die nahezu verpestete Luft des Kielraums geatmet, des Kielraums in einem Walfängerschiff! Und mein Wasservorrat war dürftig gewesen. Die letzten vierzehn, fünfzehn Stunden hatte ich ohne Wasser und Schlaf auskommen müssen. Aufregende gesalzene Speisen waren meine hauptsächlichste und seit dem Verlust der Hammelkeule meine einzige Kost gewesen, wenn man den Schiffszwieback ausnimmt; und der nützte mir nichts, da er zu hart für meinen geschwollenen und ausgedörrten Schlund war. Ich fieberte heftig, ich war überhaupt bedenklich krank. So möge es sich erklären, daß viele elende Stunden voller Mutlosigkeit vergingen, bevor es mir einfiel, daß ich ja nur eine Seite des Blattes untersucht hatte! Ich will es nicht versuchen, meine Wut zu schildern (denn Zorn schien das vorherrschende Gefühl zu sein), als die furchtbare Dummheit, die ich begangen hatte, sich plötzlich vor meinem Bewußtsein aufhellte. Der Fehler selbst wäre unbedeutend gewesen, hätte nicht meine eigene Torheit und Übereilung das Gegenteil bewirkt; in meiner Enttäuschung hatte ich das Papier in Stücke zerrissen und verstreut, der Himmel mochte wissen, wohin.

Tigers Klugheit rettete mich aus der ärgsten Not. Nach langem Herumsuchen hatte ich ein Fetzchen des Briefes gefunden; ich hielt es dem Hund unter die Nase und trachtete, ihm beizubringen, daß er den Rest holen müsse. Zu meiner Verwunderung (denn ich hatte ihn keines der üblichen Kunststückchen gelehrt) schien er sofort auf meine Absicht einzugehen und fand nach einigem Schnüffeln bald einen größeren Teil des Briefes. Den brachte er mir, machte eine Pause, rieb seine Nase an meiner Hand und schien auf Beifall zu warten. Ich streichelte ihm den Kopf, und sogleich machte er sich wieder auf die Suche. Nach einigen Minuten kam er mit einem großen Streifen zurück; das Blatt war nun vollständig, denn ich hatte es offenbar nur in drei Teile zerrissen. Glücklicherweise fand ich bald die Phosphorreste, da ein ungewisser Schimmer noch von ihnen ausging. Mein Mißgeschick hatte mich gelehrt, vorsichtig zu sein, und ich nahm mir jetzt die Zeit zur Überlegung. Wahrscheinlich standen Worte auf der noch nicht untersuchten Seite des Blattes, aber welche war das? Ein Zusammensetzen der Teile erlaubte keinen Schluß in dieser Hinsicht, obgleich ich überzeugt war, daß die Worte (falls solche vorhanden waren) alle auf einer Seite und in richtiger Verbindung stehen müßten. Den zweifelhaften Punkt aufzuklären, das war die allernotwendigste Forderung; denn der noch übrige Phosphor hätte für einen dritten Versuch nicht ausgereicht. Wieder legte ich das Papier auf ein Buch und saß einige Minuten in tiefem Nachdenken über der Sache. Zuletzt fiel es mir bei, die beschriebene Seite könnte sich einem feinen Tastsinn durch eine gewisse Unebenheit der Oberfläche verraten. Ich beschloß, die Probe zu machen, und strich mit dem Finger sehr sorgfältig über die Seite, die sich zuerst darbot. Jedoch war nichts wahrzunehmen. Ich drehte das Blatt um. Abermals ließ ich den Zeigefinger vorsichtig darübergehen und bemerkte bald, daß ihm ein leichter Schimmer nachzufolgen schien. Es kam, das wußte ich, von einigen winzigen Teilchen des Phosphors her, mit dem ich vorher das Papier bedeckt hatte. Nur auf der unteren Seite konnte also die Schrift (falls eine solche vorhanden war) sich befinden. Wieder kehrte ich das Blatt um, behandelte es in gleicher Art; wie früher zeigte sich das Leuchten, und jetzt erschienen mehrere Zeilen in einer großen Handschrift, und zwar mit roter Tinte geschrieben. Der Schimmer war stark genug, verschwand aber augenblicklich. Dennoch hätte ich Zeit gehabt, die drei Sätze durchzulesen, denn drei waren es, wäre ich nicht so furchtbar aufgeregt gewesen. In meiner Hast, alles auf einmal lesen zu wollen, erfaßte ich nur die Schlußworte, und diese lauteten:

»– – – Blut – wenn Dir Dein Leben lieb ist, bleib still liegen.«

Hätte ich den vollständigen Inhalt dieser Mitteilung, die ganze Bedeutung der Mahnung meines Freundes in mich aufnehmen können, so würde die Enthüllung von Geschehnissen voll unerhörten Unheils mich nicht mit einem Zehntel jenes peinigenden und dabei rätselreichen Grauens erfüllt haben, das dies Bruchstück einer Warnung in mein Gemüt pflanzte. »Blut« noch dazu, dies Wort vor allen Worten – zu jeder Zeit so gesättigt mit Geheimnissen, Schrecknissen und Leiden –, wie erschien es jetzt so dreifach bedeutsam, wie schwer und kalt (losgelöst von irgendwelchen vorangeschickten Worten, die es näher bestimmen oder klarmachen könnten) fiel diese unsichere Silbe, inmitten der tiefen Finsternis meines Kerkers, in die geheimsten Abgründe meiner Seele!

 

Augustus hatte wohl einen triftigen Grund, zu wünschen, daß ich verborgen bliebe, und ich erdichtete tausend Vermutungen, welcher es wohl sein könnte; aber ich vermochte keine befriedigende Lösung des Rätsels auszudenken. Kurz vor meinem letzten Gang nach der Falltür und bevor meine Aufmerksamkeit durch Tigers wunderliches Benehmen abgelenkt worden war, hatte ich beschlossen, mich um jeden Preis den Leuten auf Deck bemerkbar zu machen oder, falls mir das nicht sogleich gelingen sollte, mir einen Weg durch das Gerümpel zu bahnen. Daß ich ziemlich sicher war, mein Ziel so oder so zu erreichen, hatte mir den zum Ertragen meiner übeln Lage notwendigen Mut (den ich sonst nicht besessen haben würde) eingeflößt. Die paar Worte, die ich hatte lesen können, raubten mir jetzt jene letzte Zuversicht, und zum ersten Male empfand ich all das Grauenhafte meines Loses. In einem Ausbruch der Verzweiflung warf ich mich wieder auf die Matratze; dort lag ich wohl einen Tag und eine Nacht, in einer Art Betäubung, die nur durch kurze Augenblicke der Vernunft und des Rückerinnerns unterbrochen wurde.

Endlich erhob ich mich noch einmal und sann den Schrecknissen nach, die mich umgaben. Weitere vierundzwanzig Stunden ohne Wasser zu leben, würde mir unmöglich sein. Während der ersten Zeit meiner Gefangenschaft hatte ich von den geistigen Getränken, mit denen mich Augustus versah, eifrigen Gebrauch gemacht; jetzt aber verschlimmerten sie nur das Fieber, ohne den Durst im geringsten zu löschen. Mir blieb nur noch eine Viertelpinte übrig, und das war eine Art starken Pfirsichschnapses, gegen den mein Magen sich auflehnte. Die Würste waren völlig aufgezehrt, vom Schinken war nur ein kleines Stückchen Haut übrig, und der Schiffszwieback war bis auf einige Krumen von Tiger gefressen worden. Dazu kam noch, daß mein Kopfschmerz sich beständig verschlimmerte und mit ihm eine Art Delirium, das mich mehr oder weniger seit jenem ersten Einschlafen gefangenhielt. Während einiger Stunden hatte ich nur ganz mühsam atmen können, und jetzt war jeder Versuch mit einem höchst niederdrückenden krampfhaften Vorgang in der Brust verbunden. Allein es gab noch eine andere, von den genannten sehr verschiedene Ursache für meine Beunruhigung, deren folternde Schrecken es in der Tat vermocht hatten, mich aus meinem stumpfsinnigen Brüten zu reißen. Diese Ursache lag in dem Benehmen meines Hundes.

Ich bemerkte zuerst eine Veränderung in seinem Gehaben, als ich zum letzten Male jenes Blatt mit Phosphor einrieb. Er stieß dabei mit einem leichten Knurren die Nase gegen meine Hand; aber ich war in jenem Moment zu aufgeregt, um dem Umstand große Beachtung zu schenken. Dann warf ich mich, wie man sich erinnern dürfte, auf die Matratze und versank in eine Art von Lethargie. Auf einmal wurde ich eines sonderbaren Zischens inne, das dicht an meinem Ohr erklang, und ich entdeckte, daß es von Tiger herrührte, der, offenbar im Zustande größter Erregung, keuchte und schnaufte, indes seine Augen wild in der Finsternis erglühten. Ich sprach zu ihm, er antwortete mit einem leisen Murren und blieb dann still. Bald verfiel ich wieder in meine Dumpfheit, um auf die gleiche Weise wie vorhin erweckt zu werden. Dies wiederholte sich drei- oder viermal, bis zuletzt sein Benehmen mich mit einer solchen Furcht erfüllte, daß ich völlig zum Bewußtsein kam. Er lag jetzt an der Koffertür, knurrte fürchterlich, obwohl in etwas gedämpftem Ton, und knirschte mit den Zähnen, als schüttele ihn ein Krampf. Ohne Zweifel hatten der Mangel an Wasser und die geschlossene Luft im Kielraum ihn toll gemacht, und ich wußte nicht, was mit ihm anfangen. Ihn zu töten, war mir ein unerträglicher Gedanke, und doch schien es für meine Sicherheit der einzige Weg. Ich konnte deutlich wahrnehmen, wie seine Augen mit dem Ausdruck tödlichsten Hasses auf mir ruhten, und jede Sekunde erwartete ich seinen Angriff. Endlich konnte ich in dieser furchtbaren Lage nicht länger verharren; ich entschloß mich, auf jede Gefahr hin meinen Winkel zu verlassen und ihn abzutun, falls sein Widerstand dies nötig machen sollte. Ich mußte gerade über ihn hinweg; und er schien meine Absicht schon zu spüren, erhob sich (wie ich aus der veränderten Stellung seiner Augen erkannte) auf den Vorderpranken und zeigte seine starken Zähne, die weißlich durchs Dunkel blinkten. Ich nahm den Rest der Schwarte und die Flasche mit dem Schnaps, verbarg sie an meinem Leibe, ebenso das lange Tranchiermesser, das Augustus mir gelassen hatte, hüllte mich dann so fest wie möglich in meinen Mantel und machte eine Bewegung gegen die Öffnung des Koffers. Kaum war es geschehen, da flog schon der Hund mit einem lauten Knurren an meinen Hals. Die ganze Wucht seines Körpers traf mich an der rechten Schulter, und ich stürzte heftig nach links hin, während das wütende Tier über mich hinwegfuhr. Ich war auf meine Knie gefallen, mein Kopf begrub sich in den Decken, und diese schützten mich gegen einen zweiten rasenden Ansturm, währenddessen ich seine scharfen Zähne durch die Wolle hindurch an meinem Nacken fühlte; doch konnten sie zum Glück nicht durch die Falten dringen. Ich lag jetzt unter dem Tier, die nächsten Augenblicke würden mich völlig in seine Gewalt bringen. Die Verzweiflung gab mir Stärke; ich erhob mich mutig, schüttelte ihn mit aller Macht ab und schleppte die Decken von der Matratze mit mir fort. Diese Decken warf ich ihm nun über, und bevor er sich herauswickeln konnte, war ich durch die Tür und hatte sie alsbald so verschlossen, daß er mich nicht verfolgen konnte. Doch mußte ich während dieses Kampfes das Stück Schwarte loslassen und sah jetzt meinen ganzen Vorrat auf das Fläschchen Schnaps beschränkt. Als ich dies bedachte, wandelte mich eine Art Verkehrtheit an, wie sie etwa ein verdorbenes Kind unter ähnlichen Umständen beeinflussen mag; ich hob die Flasche an die Lippen, leerte sie bis auf den letzten Tropfen und schleuderte sie dann wütend auf den Boden hin.

Kaum war der Widerhall dieses Kraches verklungen, da hörte ich, wie eine eifrige, aber gedämpfte Stimme meinen Namen aussprach, sie kam aus der Richtung des Matrosenlogis. Es war so unerwartet, die Gemütsbewegung, die der Laut hervorrief, war so heftig, daß ich außerstande war, zu antworten. Die Fähigkeit, zu sprechen, ließ mich gänzlich im Stich, und in einer tödlichen Angst, mein Freund könnte mich für tot halten und umkehren, ohne mich erreicht zu haben, stand ich zwischen den Körben bei der Koffertür, bebte konvulsivisch und rang nach Worten. Hätte eine Silbe über tausend Welten zu entscheiden gehabt, ich hätte nicht vermocht, sie auszusprechen. Jetzt entstand eine leise Regung im Gerümpel, etwas mehr in der Nähe meines Standorts. Der Schall nahm ab, er wurde noch leiser, er verhallte schon! Kann ich jemals vergessen, was ich in jenem Augenblick empfand? Er war im Begriff, zu gehen – er, mein Freund, mein Genosse, von dem ich das Recht hatte, viel, sehr viel zu verlangen; er ging – er würde mich verlassen – er war fort! Er würde mich hier lassen, daß ich elend zugrunde ginge, daß ich in dem scheußlichsten, ekelhaftesten Kerker verfaulte; und ein Wort, nur eine kleine Silbe konnte mich retten, aber diese Silbe auszusprechen war mir versagt! Ich fühlte, dessen bin ich gewiß, zehntausendfach die Ängste der letzten Stunde. Mein Hirn gab nach, und ich stürzte in tödlichem Übelsein über den Koffer.

Bei meinem Fall wurde das Messer aus meinem Hosengürtel herausgeschüttelt und sprang klirrend auf den Fußboden. Nie hat die süßeste Musik meinen Ohren so hold geschmeichelt! In der höchsten Spannung horchte ich auf, ob das Geräusch eine Wirkung auf Augustus hervorgebracht hatte, denn nur er konnte meinen Namen gerufen haben. Minutenlang war alles still. Endlich hörte ich ihn das Wort »Artur« wiederholen, in leisem Tone und wie mit bangem Zögern. Die neubelebte Hoffnung löste mir auf einmal die Zunge, und jetzt schrie ich mit aller Macht meiner Kehle: »Augustus! O Augustus!« – »Pst! Um Gottes willen, verhalte dich ruhig!« erwiderte er mit vor Erregung zitternder Stimme. »Gleich bin ich bei dir, ich muß erst meinen Weg durch den Kielraum finden.« Lange hörte ich ihn sich im Gerümpel bewegen, und jeder Augenblick schien eine Ewigkeit zu sein. Endlich, endlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter, und zugleich setzte er eine Flasche Wasser an meinen Mund. Nur jene, die plötzlich dem Rachen des Grabes entrissen werden, oder jene, die so unerträgliche Durstesqualen kennenlernten, wie ich sie unter den schwersten Umständen in meinem traurigen Kerker zu erdulden hatte, nur sie vermögen sich einen Begriff von dem unaussprechlichen Glücksgefühl zu machen, den ein langer Zug dieser kostbarsten aller irdischen Herrlichkeiten mir gewährte.

Sobald ich meinen Durst einigermaßen gestillt hatte, zog Augustus aus seiner Tasche drei oder vier gekochte Kartoffeln, die ich mit der größten Gier hinabschlang. Er trug ein Licht in einer Blendlaterne bei sich, und die gütigen Strahlen schenkten kaum geringeren Trost als Essen und Trinken. Aber ich verlangte mit Ungeduld zu erfahren, was ihn so lange ferngehalten haben konnte, und alsbald begann er mir alles zu berichten, was sich während meiner Gefangenschaft an Bord zugetragen hatte.

Viertes Kapitel

Wie ich vermutete, war die Brigg ungefähr eine Stunde, nachdem er mir die Uhr dagelassen hatte, in See gestochen. Das war am zwanzigsten Juni. Man wird sich entsinnen, daß ich drei Tage lang im Kielraum gewesen war, und während dieser Zeit gab es an Bord solch ein Durcheinander und Herumlaufen, besonders in der Kajüte und den Staatskabinen, daß er keine Gelegenheit gefunden hatte, mich zu besuchen, ohne das Geheimnis der Falltür aufs Spiel zu setzen. Als er nun endlich kam, versicherte ich ihn, alles gehe so gut als irgend möglich; und darum empfand er die beiden folgenden Tage meinetwegen keine Besorgnis, obwohl er immer auf der Lauer lag, ob sich nicht Gelegenheit böte, hinabzusteigen. Erst am vierten Tage fand er sie. In der Zwischenzeit hatte er sich schon öfter entschlossen, seinem Vater alles anzuvertrauen und mich sofort an Deck holen zu lassen; aber wir waren noch nicht sehr weit von Nantucket entfernt, und nach mehreren Äußerungen, die dem Kapitän entschlüpften, erschien es zweifelhaft, ob er nicht umkehren würde, sobald er meine Anwesenheit erführe. Außerdem, erzählte mir Augustus, konnte er nach reiflichem Nachdenken sich nicht recht vorstellen, daß ich mich in unmittelbarer Not befände oder daß ich in solchem Falle zögern würde, mich an der Falltür bemerkbar zu machen. Als er so alles in Betracht gezogen hatte, beschloß er, mich unten zu lassen, bis er in die Lage käme, mich unbemerkt aufzusuchen. Das geschah, wie schon erwähnt, erst am vierten Tage nach Überbringung der Uhr und am siebenten nach meinem Einzug in den Kielraum. Er war hinuntergestiegen, ohne Wasser oder Vorräte mitzunehmen, da er mich vor allem zur Falltür rufen wollte, um mich dann von der Kabine aus zu verproviantieren. Er hörte mich sehr laut schnarchen, mußte also annehmen, ich schlafe. Nach meinen Berechnungen war dies der Schlummer, in den ich nach Abholung der Uhr gesunken war; er mußte somit mindestens drei ganze Tage und Nächte gedauert haben. Neuerdings bin ich durch eigene Erfahrung und die Versicherungen anderer mit den starken, einschläfernden Wirkungen bekannt geworden, die der Ausdünstung alten, engverwahrten Fischtrans eigen sind; und wenn ich mich des Zustandes erinnere, in dem der Kielraum sich befand, und bedenke, wie lange die Brigg als Walfänger gedient hatte, bin ich manchmal geneigt, mich zu wundern, daß ich überhaupt wieder erwachte.

Augustus rief mich zuerst leise und ohne die Falltür zu schließen, aber ich gab keine Antwort. Nun schloß er die Klappe und sprach lauter, zuletzt mit sehr starker Stimme: ich schnarchte weiter. Was sollte er beginnen? Um durch das Gerümpel zu mir durchzudringen, bedurfte er einiger Zeit, und inzwischen konnte seine Abwesenheit von Kapitän Barnard bemerkt werden, da dieser ihn jeden Augenblick zum Ordnen und Abschreiben von gewissen Geschäftspapieren nötig hatte. Er entschloß sich somit, hinaufzugehen und eine andere Gelegenheit abzuwarten. Dieser Entschluß wurde ihm um so leichter, als mein Schlummer äußerst friedlicher Natur schien und er nicht annehmen konnte, meine Gefangenschaft habe mir irgend geschadet. Eben war er mit sich einig geworden, als seine Aufmerksamkeit durch eine ungewöhnliche Unruhe gefesselt wurde, die von der Kajüte auszugehen schien. Er sprang durch die Falltür, schloß sie zu und öffnete weit die Tür der Kajüte. Kaum hatte er einen Fuß über die Schwelle gesetzt, so blitzte ein Pistolenlauf vor seinen Augen, und zugleich schlug ihn ein Hebebaum zu Boden. Eine kräftige Hand, die seinen Hals fest umklammerte, drückte ihn an den Fußboden der Kajüte; aber was um ihn her vorging, konnte er deutlich wahrnehmen. Sein Vater, an Händen und Füßen gebunden, lag auf den Stufen der Kajütentreppe, mit dem Kopf nach unten und einer tiefen Stirnwunde, aus der Blut ununterbrochen hervorströmte. Er sprach kein Wort und rang offenbar mit dem Tode. Über ihm stand der Unterschiffer, betrachtete ihn mit teuflischem Hohne und durchsuchte ruhig seine Taschen, denen er alsbald einen Schnappsack und ein Chronometer entnahm. Sieben von der Mannschaft, darunter der Koch, ein Neger, durchstöberten die Backbordkabinen nach Waffen und waren bald mit Musketen und Munition versehen. Neben Augustus und seinem Vater befanden sich im ganzen neun Kerle in der Kajüte, der Abschaum der Bemannung. Die Schurken gingen jetzt aufs Deck und schleppten meinen Freund mit sich, nachdem sie ihm die Arme auf den Rücken gebunden hatten. Sie begaben sich flugs nach dem Vorderkastell, dessen Luke verschlossen war; zwei von den Meuterern hielten dort mit Äxten Wacht; ebenso war es mit der Hauptluke bestellt. Der Unterschiffer rief mit lauter Stimme: »Hört, ihr da unten! Macht, daß ihr raufkommt, einer nach dem andern – hört ihr? Und daß mir keiner aufmuckt!« Es dauerte einige Minuten, bis sie zum Vorschein kamen; endlich stieg ein Engländer, der sich als Neuangeworbener eingeschifft hatte, herauf, kläglich weinend und den Maat aufs demütigste beschwörend, er möge ihm das Leben schenken. Die einzige Antwort war ein Axthieb über die Stirn. Der arme Teufel stürzte ohne einen Seufzer auf das Verdeck hin, und der schwarze Koch hob ihn wie ein Kind in die Höhe und schleuderte ihn in das Meer.

 

Die Menschen drunten hatten den Krach und den Fall ins Wasser gehört, und weder Drohungen noch Versprechen vermochten sie auf das Verdeck zu locken. Sie versuchten alsdann einen allgemeinen Ansturm, und es schien einen Augenblick, als würde die Brigg zurückerobert werden. Doch gelang es den Meuterern schließlich, das Vorderkastell zu schließen, ehe mehr als sechs ihrer Gegner heraufgestiegen waren. Diese sechs sahen sich einer großen Überzahl gegenüber und waren ohne Waffen; sie ergaben sich daher nach kurzem Kampf. Der Unterschiffer gab ihnen freundliche Worte, jedenfalls in der Absicht, die noch unter Deck Befindlichen zum Nachgeben zu veranlassen, denn sie konnten ohne Mühe alles, was oben gesprochen wurde, verstehen. Der Erfolg sprach ebensosehr für seine Schlauheit wie für seine höllische Niedertracht. Alle, die noch im Vorderkastell waren, erklärten sich zur Übergabe bereit; dann stiegen sie einer nach dem andern herauf, man band sie und warf sie samt den ersten sechs auf den Rücken; es waren im ganzen siebenundzwanzig Personen, die nicht an der Meuterei teilgenommen hatten.

Eine unsagbar scheußliche Schlächterei folgte. Die gefesselten Matrosen wurden an das Fallreep geschleppt. Hier stand der Koch mit einer Axt und schlug jedem der Opfer auf den Kopf, während es von den Meuterern über die Reling gehalten wurde. In dieser Art starben ihrer zweiundzwanzig, und Augustus verzweifelte an seinem Leben; er erwartete jeden Moment, auch an die Reihe zu kommen. Aber entweder waren die Schurken müde, oder ihre blutige Arbeit ekelte sie; die vier Übriggebliebenen erhielten samt meinem Freunde eine Galgenfrist, während die ganze Mordbande ein Saufgelage abhielt, das bis zum Untergang der Sonne währte. Nun stritten sie sich wegen des Schicksals der Überlebenden, die nur vier Schritte entfernt lagen und jedes Wort mit anhören mußten. Einige der Meuterer schien der Branntwein zu besänftigen, denn mehrere Stimmen wurden laut, man möge die Gefangenen freilassen unter der Bedingung, daß sie sich der Meuterei nachträglich anschließen sollten. Der schwarze Koch aber, der in jeder Hinsicht ein vollkommener Satan war und mindestens ebensoviel Einfluß wie der Maat, wenn nicht größeren, besaß, wollte auf keinen derartigen Vorschlag hören und stand wiederholt auf, um seine Tätigkeit am Fallreep fortzusetzen. Zum Glück war er so von Trunkenheit übermannt, daß die weniger Blutdürstigen ihn leicht zurückhalten konnten; unter diesen war ein Leinenführer, der Dirk Peters hieß. Er war der Sohn einer Indianerin aus dem Stamme der Upsarokas, die in den Wildnissen der Schwarzen Berge leben, nahe der Quelle des Missouri. Sein Vater war, glaube ich, ein Pelzhändler, oder wenigstens stand er irgendwie in Beziehung zu den indianischen Händlerposten am Lewisflusse. Peters hatte das grimmigste Aussehen, das ich jemals an einem Menschen wahrnahm. Er war von kleiner Figur, nicht mehr als vier Fuß acht Zoll hoch, aber von herkulischem Körperbau. Besonders die Hände waren so furchtbar dick und breit, daß sie kaum Menschenhänden glichen. Seine Arme und Beine waren auf wunderliche Art gebogen, so daß sie scheinbar gar keine Beweglichkeit besaßen. Auch sein Kopf war unförmlich, nämlich von riesiger Größe, mit einer Vertiefung am Schädel, wie man sie bei den meisten Negern findet, und völlig kahl. Um diesen Mangel, der keine Folge des Alters war, zu verbergen, pflegte er eine Perücke aus irgendwelchem haarigen Zeug – gelegentlich vom Fell eines spanischen Hundes oder amerikanischen Graubären – zu tragen. Zur erwähnten Zeit trug er ein Stück Bärenfell auf dem Kopfe, und es erhöhte nicht wenig die Wildheit seines Gesichtes, das den Typus der Upsarokas hatte. Der Mund zog sich fast von einem Ohr zum andern, die Lippen waren dünn und schienen gleich einigen anderen Teilen seines Körpers unbeweglich, so daß der herrschende Ausdruck seiner Züge stets derselbe blieb. Seine Zähne waren lang und standen weit vor, so daß sie niemals von den Lippen verdeckt wurden. Auf den ersten Blick schien dieser Mensch sich in Lachkrämpfen zu winden, auf den zweiten aber mußte man sich sagen, daß seine Lustigkeit nur die eines Teufels sein könne. Unter den Seeleuten Nantuckets waren mancherlei Geschichten über dieses sonderbare Wesen im Umlauf. Diese Anekdoten bewiesen die wunderbare Stärke, über die er in erregtem Zustande verfügte, und einige von ihnen ließen einen Zweifel übrig, ob er bei gesundem Verstande sei. Aber an Bord des »Grampus« wurde er, zur Zeit der Meuterei, offenbar mehr als komische Figur betrachtet. Ich erzähle so ausführlich von Dirk Peters, weil er trotz seines furchtbaren Aussehens der eigentliche Retter meines Freundes wurde und weil ich ihn im Laufe meiner Erzählung noch öfter erwähnen muß – dieser Erzählung, die, wie ich hier vorausschicken möchte, Ereignisse berichtet, die außerhalb aller menschlichen Erfahrung zu stehen scheinen und daher auch so schwer zu glauben sind, daß ich jede Hoffnung aufgeben muß, man werde meine Mitteilungen für wahr halten, aber der Zeit und dem Fortschritt der Wissenschaft vertraue, die gewiß die wichtigsten und unwahrscheinlichsten meiner Erlebnisse als wirklich erweisen werden.

Nach vieler Unschlüssigkeit und drei oder vier heftigen Streitigkeiten wurde zuletzt beschlossen, daß alle Gefangenen (außer Augustus, den Peters mit scherzenden Worten als seinen Schreiber beanspruchte) in einem der kleinen Fangboote ausgesetzt werden sollten. Der Maat ging nach der Kajüte, um zu sehen, ob Kapitän Barnard noch lebe; bald erschienen die beiden wieder, der Kapitän, bleich wie der Tod, aber etwas erholt von seiner Verwundung. Mit einer Stimme, die kaum zu artikulieren vermochte, flehte er sie an, ihn nicht auszusetzen, sondern zu ihrer Pflicht zurückzukehren, und versprach, sie auszuschiffen, wo sie wollten, und keine Schritte zu ihrer gerichtlichen Verfolgung zu unternehmen. Er sprach völlig in den Wind. Zwei Halunken packten ihn bei den Armen und stießen ihn über die Reling ins Boot, das inzwischen herabgelassen worden war. Die vier Leute, die noch auf Deck lagen, wurden losgebunden; man befahl ihnen, dem Kapitän zu folgen, was sie nicht ohne Widerstand taten, während Augustus noch in seiner peinlichen Lage verblieb, obwohl er bat und flehte, man möchte ihm nur die Gnade gewähren, von seinem Vater Abschied nehmen zu dürfen. Eine Handvoll Zwieback und ein Krug Wasser wurden herabgereicht, aber weder Mast, Segel, Ruder noch Kompaß. Das Boot wurde eine Minute lang geschleppt, während die Meuterer sich abermals besprachen; dann wurde das Tau zerschnitten. Die Nacht war hereingebrochen, man sah nicht Mond noch Sterne, die See ging in bösen, kurzen Stößen, obgleich der Wind nicht eben kräftig blies. Das Boot war sofort außer Sicht; für die armen Dulder blieb wenig zu hoffen. Dies ereignete sich auf dem 33. Grad 30 Min. nördlicher Breite, 61 Grad 20 Min. westlicher Länge, daher in nicht allzu großer Entfernung von den Bermudainseln. Somit tröstete sich Augustus in dem Gedanken, das Boot könne entweder Land erreichen oder ihm nahe genug kommen, um von Küstenschiffern gesichtet zu werden.

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