Die Träume von Macht

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Die Einladung

Nie hatte Thessi die Mutter nach seinem Vater gefragt, sieht man einmal von den ersten Kindheitsjahren ab. Und nie hat sie von sich aus über diesen Mann gesprochen. Es war wie ein geheimes Einverständnis, das beide schweigen ließ. Außerdem: Was hätte die Frau ihrem Sohn schon erzählen können, sieht man von dem reinen Erlebnis dieser einzigen Liebesnacht einmal ab. So lebte sie ihr einsames Witwendasein, in sich gekehrt und enttäuscht vom Leben, das jene Nacht ihr für immer geraubt hatte.

Sie wußte wenig von dem, was ihr Sohn in all den Jahren seines Heranwachsens trieb, und noch weniger wußte sie davon, was er dachte und träumte. Seitdem sie nicht mehr von den Schulen einbestellt wurde, um wegen mangelhafter Leistungen ihres Sohnes belehrt und ermahnt zu werden, war auch seine Ausbildung für sie keine Angelegenheit mütterlicher Pflichten mehr, zumal sie immer weniger von all dem verstand, was die Lehrpläne den Schülern abverlangten. So begnügte sie sich, solange es erforderlich war, seine Zeugnisse gegenzuzeichnen.

Doch nun hatte er die letzte Klasse - und wie sie mit Erstaunen sah, sogar mit großem Erfolg - abgeschlossen, auch wenn es nicht das beste Zeugnis aller Zeiten geworden war, wie er es sich erträumt hatte. Die Schulzeit war irgendwie fast unerwartet für seine Mutter zu Ende gegangen, und wieder wußte sie nicht, was sie nun raten, vorschlagen oder gar verlangen sollte, wenn es um Thessis Zukunft, seine weitere Ausbildung oder einen möglichen Beruf ging. Also wartete sie erst einmal ab, ob er von sich aus etwas unternahm. Aber auch Thessi wartete. Er hatte Träume, er hatte einen festen Willen, er war voller Machtfantasien, aber er hatte kein Ziel. Doch er hatte das unbegründbar sichere Gefühl, in Kürze würde die Entscheidung ganz von alleine fallen.

Und das geschah nur wenige Tage nach der offiziellen Abschiedsfeier für die Abiturienten. Thessi lag, bereits angekleidet, aber antriebslos auf seinem Bett, als seine Mutter zaghaft anklopfte - sie trat nie einfach in sein Zimmer, seitdem er in das Gymnasium gewechselt war. Auch das eine schweigende Übereinkunft, die er zwar erwartet, aber nie erbeten hatte. Thessi schwang die Beine auf den Boden, blieb aber auf dem Bett sitzen, als er die Mutter hereinbat. Sie hatte einen Brief in der Hand, der nach einem geschäftlichen Schreiben aussah, aber an den Sohn - mit der Bemerkung "persönlich" - adressiert war. Der Absender, eine Hamburger Reederei, sagte weder ihr noch ihrem Sohn etwas. Dennoch ließ sie ihn mit dem Schreiben allein. Sie wußte, daß er mütterliche Neugier haßte.

Thessi hielt den Umschlag eine Weile in der Hand, ehe er ihn vorsichtig aufschnitt. Es war der Briefkopf dieser Reederei, aber darunter folgte ein handschriftliches Schreiben. Und mit wachsendem Erstaunen las Thessi die wenigen Zeilen:

"Mein lieber Sohn,

mit Freude habe ich erfahren, daß Du Dein Abitur erreicht hast, und offenbar sogar mit recht ansehnlichen Noten. Dazu gratuliere ich. Du wirst fragen, wer ich bin, woher ich das weiß, und warum ich mich jetzt - erst jetzt - bei Dir melde. Das alles will ich Dir erklären. Nicht hier in einem Brief, sondern in einem persönlichen Gespräch. Darum lade ich Dich ein zu einer Begegnung. Da ich nicht weiß, was Du von einem Vater hältst, der Dir nie Vater war, schlage ich vor, wir treffen uns auf einem unverfänglichen, neutralen Boden, wo Du jederzeit Gespräch und Beziehung abbrechen kannst, wenn Du es wünscht. Auch dafür hätte ich Verständnis. Wie Du Dich auch immer entscheiden wirst, Du solltest es nicht tun, ehe Du mir Auge in Auge gegenüber gestanden hast. Und ich meine, Dich so gut zu kennen, daß Du einem solchen Treffen nicht aus dem Wege gehen wirst.

Ich mache Dir also ein Terminangebot: Am Dienstag, 17. April, um 15.00 Uhr auf der Bank am Alsterufer unmittelbar vor dem Alsterpavillon. Ich werde dort auf Dich warten. Und sollte es allzu regnerisch sein, was in Hamburg ja nie auszuschließen ist, dann komm bitte in das Café. Ich werde mich bemerkbar machen.

Ich freue mich auf Deinen Besuch. Dein Vater."

Thessi lies das Papier sinken. Sein Blick ging ins Leere, aber sein Verstand stellte viele Fragen, vor allem aber die eine, die ihn am meisten beunruhigte: Woher weiß dieser Mann, der sich mein Vater nennt, offensichtlich vieles von mir? Nicht nur das Abitur, das stand ja in der Zeitung. Aber meine Zensuren. Und auch die Art, wie ich die Dinge angehe. Und weiß er vielleicht noch viel mehr, als er hier preisgibt? Ist mir entgangen, daß ich möglicherweise schon seit Jahren observiert worden bin? Ich könnte es nicht ertragen. Aber ich muß mir Gewißheit darüber verschaffen. Plötzlich ist da einer, der mächtiger scheint als ich, auch wenn es mein Vater sein sollte. Was auch immer er von mir will, jetzt will ich etwas von ihm - Klarheit. Er hat recht mit seiner Vermutung: Ich werde dieser Begegnung nicht ausweichen. Ich will ihn sehen, mit ihm reden, mich vergewissern - Auge in Auge, wie er schreibt. Dann werde ich entscheiden, ob ich ihn lieben kann oder ihn hassen werde. Oder beides?

Er stand auf, ging zur Tür. Seine Mutter saß in der Küche, die Hände reglos auf dem Tisch. Sie wartete, daß er etwas sagen würde. Sie sieht richtig alt aus, schoß es ihm durch den Kopf. Dabei muß sie doch einmal liebenswert gewesen sein, wenigstens für eine Nacht. Und jemand, der einen solchen Brief schickt, hätte sich kaum mit irgendjemand eingelassen. Er unterdrückte den Wunsch, jetzt zum ersten Mal nach dem Vater zu fragen. So sagte er nur: "Ich werde am Dienstag nach Hamburg fahren." Und als sie ihn fragend ansah, fügte er hinzu: "Es ist ein berufliches Angebot. Mal sehen, vielleicht wird ja etwas daraus." Und er war froh, daß sie sich damit zufrieden gab. Es fiel ihm leicht, andere zu täuschen, notfalls auch zu belügen, wenn seine Interessen auf dem Spiel standen. Aber die Mutter mochte er nicht gerne anlügen, immer noch nicht. Es reichte, wenn sie sich selbst belog.

Die Begegnung

Thessi hatte es so eingerichtet, daß er fast eine Stunde vor dem angegebenen Termin in Hamburg eintraf. Er schlenderte die wenigen Schritte vom Hauptbahnhof zur Binnenalster, die im Licht der Frühlingssonne an immer unterschiedlichen Stellen aufblitzte. Dann ging er den Ballindamm hinunter und blieb immer wieder stehen, um die Promenade vor dem Alsterpavillon zu beobachten. Dessen Außenterrasse war gut besucht, die Sonne wärmte bereits. Er machte auch die Bank am Ufer aus. Sie war leer. Dort also würde er sich mit seinem Vater treffen, dort würde er jenen Mann kennenlernen, nach dem er sich als Kind so manches Mal gesehnt hatte und der ihm doch so unendlich fern und fremd erschien - fast wie jemand, der längst schon verstorben war.

Er hatte kein Bild von ihm vor Augen; er hatte seiner Fantasie verboten, sich ein solches Bild zu machen. Sonst war es ihm wichtig für seine Träume, aber jetzt wollte er nichts tun, was wahrscheinlich in einer Enttäuschung enden würde. Er blickte auf die Uhr: Es waren noch zwanzig Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Thessi wechselte auf den Jungfernstieg, ging an den Schaufenstern entlang, ohne doch auf die Auslagen zu achten, ließ den Alsterpavillon rechts liegen, ging bis zur Straßenkreuzung, um dann hinüber ans Ufer zu gelangen. Dort lehnte er der steinernen Brüstung und blickte hinunter auf das Wasser, das in kleinen, schmutzigen Wellen ans befestigte Ufer schlug. Ein Fahrgastschiff verließ den Anlegeplatz und nahm Kurs auf die Lombardsbrücke. Thessi drehte sich um, stützte sich rückwärts mit beiden Ellenbogen auf den kühlen Stein und musterte die Gäste, die die vorderste Reihe der Tische auf der Terrasse besetzt hatten. Vielleicht saß er ja dort und wartete, den Blick auf die leere Bank geheftet.

Es könnte doch sein, daß sich jetzt jemand anderes dort niederläßt, dachte er plötzlich - jemand, der die Möwen füttert, der auf den nächsten Dampfer warten oder einfach die Sonne genießen will. Und was dann? Mit raschem Entschluß stieß er sich ab, ging zur Bank und setzte sich, möglichst in die Mitte, um damit anzudeuten: Hier ist kein Platz mehr. Dann zog er das Buch, das er während der Bahnfahrt gelesen hatte, aus dem Rucksack, den er über die Schulter gehängt mit sich trug, und schlug es auf, irgendwo, denn lesen würde er sowieso nicht. Aber es gab ihm den Anschein von Kultur.

Und dann setzte sich jemand neben ihn, rechts an das Ende der Bank. Ein Mann mittleren Alters, das Haar an den Schläfen schon etwas grau, zur Mitte des Schädeldachs hin nur noch dünn. Mit den tiefeingekerbten Falten im gebräunten Gesicht sah er allerdings älter aus, als Thessi erwartet hatte. Zur grauen Tuchhose trug er einen marineblauen Pullover, an der Schultern mit Leder abgesetzt. Wie der Mann, der den Alsterdampfer abgetäut hatte, dachte Thessi.

"Hallo, Thessi, schön daß du gekommen bist," sagte der Fremde. "Hallo," antwortete der Angesprochene kurz. Er wartete ab, was geschehen würde, ohne irgendwelche Gefühle zu verraten. "Wie geht es deiner Mutter?" "Danke, einigermaßen," war die kurzsilbige Antwort. Dann eine Weile Schweigen. "Ich denke, du wunderst dich über dieses Treffen. Und du bist mißtrauisch gegenüber einem Vater, der nach so vielen Jahren plötzlich auftaucht." Thessi blieb stumm.

"Es ist auch nicht leicht zu erklären," fuhr der andere fort. "Als ich deine Mutter traf, war ich auf der Durchreise, hatte kurz Station gemacht bei einem - sagen wir Geschäftsfreund. Ich will ganz offen sein: Es war nur eine flüchtige Begegnung, ohne besondere Absicht, und vor allem ohne einkalkulierte Folgen." Er schwieg einen Augenblick. Da sagte Thessi, ohne dabei irgendwelche Gefühle zu offenbaren: "Ich weiß, ich war nicht gewollt."

 

"Es mag bitter für dich sein, aber es stimmt. Doch die Antibabypille war noch nicht auf dem Markt. Daß deine Mutter schwanger geworden war, habe ich erst viel später erfahren. Ich fuhr damals zur See, da gab es wenig Kontakt zum Land hin, und mein Geschäftsfreund hat mir nichts berichtet, anfangs jedenfalls."

"Aber Sie haben es erfahren!" Thessi mußte es einfach loswerden, und es klang ziemlich bitter. "Sag doch bitte du, trotz allem bin ich dein Vater. Ja, ich habe es erfahren, und ich habe mancherlei Erkundigungen eingezogen, die ganze Zeit über. Aber ich habe mich nicht gemeldet, das ist wahr. Ich habe deine Mutter.. ich habe dich alleingelassen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe anfangs wenig Verantwortung empfunden für das, was geschehen war. Und es gab noch zwei Gründe: Ich habe in jenen Jahren herzlich wenig verdient, und - ich hatte geheiratet. Wir hatten einen Sohn, und ich wollte meine Ehe nicht aufs Spiel setzen - auch wenn du ja viel früher geboren wurdest. Der Junge ist übrigens mit zwölf Jahren tödlich verunglückt. Und seine Mutter hat diesen Verlust nicht überwinden können, sie folgte ihrem Kind wenige Jahre später. Sie hat sich nicht gewehrt gegen ihre Krankheit, ich denke, sie hat sie sogar dankbar angenommen als Ausweg. Wenn du so willst: Es war wie eine späte Strafe für mich." Er hielt inne, und auch Thessi wußte nichts zu sagen, er schwankte zwischen einer gewissen Anteilnahme und dem Gefühl von Genugtuung. So saßen sie eine Weile nebeneinander und blickten auf das Wasser, auf dem die Möwen umher schwammen und lärmten.

"Ich habe mich in der Arbeit vergraben, damals. Meine Frau war Erbin einer kleinen Reederei, die ich dann übernommen hatte. Ich war erfolgreich damit, sehr erfolgreich. Aber davon später. Ich hatte mancherlei Informationen über dich, die ganze Zeit. Und ich habe damals überlegt, ob ich dich zu mir holen sollte. Doch da gab es Bedenken: Du gehörtest deiner Mutter, ich hatte nun wirklich kein Recht, ihr den Sohn wegzunehmen. Und zu ihr gab es für mich keinen Weg. Und du hattest deinen Platz dort, du hattest eine Rolle, davon habe ich manches erfahren. Was ich erkannte, war dies: Du mußtest diese Rolle zu Ende spielen, es war dein Leben, deine Entwicklung, dein Weg. Ich hatte kein Recht, ihn zu zerstören oder auch nur zu beeinflussen. Dafür war es zu spät. Mir blieb nur, unerkannt zuzuschauen, auch wenn es mir zunehmend schwerer fiel - das magst du nun glauben oder nicht."

Als er einen Augenblick verstummte, wandte sich Thessi ihm zu. Zum ersten Mal blickte er ihm direkt ins Gesicht: "Was weißt du alles von mir?" Der Mann neben ihm, der sein Vater war, lächelte ein ganz klein wenig: "Nicht so viel, wie du befürchtest. Nur so viel, wie ein Außenstehender über jemand erfährt, der in solch überschaubaren Verhältnissen lebt, wie sie deine Heimatstadt nun einmal aufweist. Und doch soviel, daß ich ein Bild von dir habe. Aber darüber laß uns später einmal reden, wenn wir uns näher kennen sollten. Denn das alles ist jetzt auch für dich ein abgeschlossenes Kapitel, denke ich. Und weil du ein neues Kapitel anfängst, anfangen mußt, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Das war mir klar geworden: Wenn ich jetzt nicht handle, wird es unweigerlich zu spät sein. Trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen - oder nicht geschehen ist: Du bist mein Sohn, und du hast ein Recht darauf, deinen Vater kennenzulernen. Und noch eins: Du bist mein Erbe, der einzige, den ich habe. Und du hast ein Recht auf dieses Erbe, wenn du es nicht ausschlägst. Auch das steht dir frei. Aber du sollst wissen: Es gibt ein Testament, zu deinen Gunsten. Laß mich dir darum ein Angebot machen: Ich kann dir ein Studium finanzieren, wenn du das möchtest - was auch immer es sein mag. Ich kann dir auch einen Platz in meinem Unternehmen anbieten, damit du lernend hineinwächst in das, was dir einmal gehören soll. Du mußt dich jetzt nicht entscheiden. Du solltest dir damit Zeit lassen. Und du kannst dich auch gegen mich entscheiden, ich könnte das verstehen, auch wenn es für mich bitter wäre. Aber auch das solltest du in Ruhe bedenken."

Wieder dehnte sich eine Pause. Es stimmte: Thessi, der sonst so rasch entschlossene, auf seine Vorteile bedachte, seinen hochfahrenden Träumen verpflichtete, er wußte nicht, was er antworten sollte. Er mußte nachdenken, über sich - und über diesen Mann, der da neben ihm saß. Er mußte abwägen, Zeit gewinnen, Sicherheit gewinnen. Sein Vater unterbrach seine Gedanken: "Ich werde jetzt gehen. Ich werde dich allein lassen mit dem, was du heute erfahren hast. Ich will keinen Einfluß nehmen auf deine Entscheidung. Ich bitte dich nur um eins: Laß mich wissen, wie du dich entschieden hast. Ich werde in einer Woche, zur gleichen Zeit, wieder hier sein und auf dich warten. Und ich hoffe, ich hoffe wirklich, daß wir uns dann wiedersehen." Er stand auf und trat an die Brüstung, schaute einen Augenblick lang hinunter ins Wasser. Dann wandte er sich um: "Leb wohl, mein Junge." Er war schon einige Schritte gegangen, da blieb er plötzlich stehen und blickte zu Thessi zurück, der reglos auf der Bank saß. "Ach ja, was ich dir noch gar nicht verraten habe: Ich heiße Gerhard Eigen." Er nickte noch einmal zur Bank hinüber, hob fast unmerklich eine Hand wie zu einem Gruß und schritt die Stufen hinauf zur Terrasse des Pavillons, ging zwischen den aufgereihten Tischen hindurch und verschwand im Inneren, ohne zurückzublicken.

Thessi verfolgte ihn mit den Augen, dann wanderte sein Blick wieder auf die Wasserfläche, auf die Möwen und ein paar Schwäne, die an der Anlegestelle im Kreis ruderten, auf den Alsterdampfer, der sich dem Ufer näherte, die Menschen, die auf ihn warteten, die Spaziergänger, die die Promenade heraufkamen. Nach einer Weile erhob er sich, griff nach seinem Rucksack, warf ihn über den Rücken und ging den Promenadenweg entlang Richtung Bahnhof. Auf der Heimfahrt blieb sein Buch geschlossen; er hätte sich nicht konzentrieren können. So schaute er hinaus auf die Häuser der Stadt, an denen der Zug vorbeifuhr, auf Hinterhöfe und Gärten und dann auf die weiten Felder des flachen Landes, das sich bis hin zur Nordsee erstreckte, irgendwo dort unter der niedrigstehenden Sonne, in unsichtbarer Ferne, bis der Zug nach Osten abbog.

Die Entscheidung

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich habe damals meiner Mutter nicht erzählt, mit wem ich mich getroffen hatte. Es sollte mein Geheimnis bleiben, ganz allein meine Sache. Und außerdem: Es würde nur alte Wunden aufreißen, sie in einen schmerzlichen Zwiespalt bringen. Und es könnte auch zwischen uns beide einen Keil treiben. Wenn ich auch schon viele Jahre mein eigenes Leben lebte, an dem sie keinerlei Anteil, ja von dem sie wohl auch keinerlei Ahnung hatte - irgendetwas verband uns dennoch, und das wollte ich nicht zerreißen. Nein, es war auch für sie besser, wenn sie nichts erfährt. Vorerst jedenfalls.

Noch war ich mir selbst ja nicht im Klaren, wie ich reagieren sollte. Da war mein Stolz, und er sagte: Du hast nichts zu schaffen mit diesem Mann, der dich solange verleugnet hat. Du kannst auch ohne ihn deinen Weg gehen. Aber da war auch meine Neugier: Was weiß er tatsächlich von mir? Und was kann ich über ihn erfahren? Wissen ist Macht, und es wäre ganz sicher ein Vorteil für mich, seine Macht zu beschneiden und meine zu vergrößern. Macht über ihn zu bekommen, der so selbstsicher tat, der Sohn über den Vater, der Verratene über den Verräter - das war eine Versuchung. Und wenn dieses Wissen Verständnis wecken sollte, vielleicht sogar Vergebung? Dann soll es so sein, dann ist Großmut eine Tugend, zu der nur Helden fähig sein können.

Bald schlich sich noch eine Überlegung in mein Denken: Er hat vom Erbe gesprochen. Und steht es mir nicht zu, als Entschädigung für alles Unrecht, daß er meiner Mutter und mir angetan hat? Sein Sohn, der andere, der halbwegs ja auch mein Bruder war, ist tot. Ihn hatte ich nicht zu fürchten. Ich würde ihn auch so nicht fürchten. Ich hätte den Kampf aufgenommen mit dem Recht des Erstgeborenen, wäre es um den Nachlaß gegangen. Aber lieber war mir schon, daß es ihn nicht mehr gab. Schließlich kenne ich ihn nicht, und es wäre ja auch denkbar gewesen, daß ich in ihm tatsächlich einen Bruder entdeckt hätte - und nicht nur Abel, den Kain totschlagen muß mit seinem Anspruch auf die Vaterliebe.

Da war zudem sein Angebot. Es stimmte ja: Ich muß mich entschließen, was mein Zukunft betrifft. Die Zeit hier - in dieser engen Stadt zwischen den engen Moränenhügeln, in dieser muffigen, kleinbürgerlichen Welt, in die ich nicht passe mit meinen Träumen, meinem Streben - diese Zeit war abgelaufen. Das zumindest war jetzt beschlossene Sache: Ich werde diesen Ort verlassen. Was ich damals nicht wußte: Ich habe ihn auch nie wieder betreten. Doch - einmal noch: um meine Mutter zu begraben.

Es gab also eine Chance - nein, es gab sogar zwei: Es gab die verlockende Aussicht, einfach hinauszugehen in eine andere Welt, mir neues Wissen zu erschließen, mit Gleichgesinnten zu debattieren, zu forschen und zu lernen. Aber was ist eine Universität? Letztlich doch wieder eine Schule - mit Lehrenden, die alles besser wissen und meist doch nichts wirklich wissen, mit überfüllten Hörsälen, mit überlaufenen Seminaren und Laboren, mit Mengen von dumpf dahinlebenden, alles schluckenden Studierenden, die mich überall nur behinderten. Wollte ich das wirklich - nur um irgendwelcher Titel willen? Könnte das meine Fantasien stillen, meine Macht vergrößern?

Doch da war ja auch dieses andere Angebot: In der Reederei anzufangen, als was auch immer. Jedenfalls weit unten, aber mit der verlockenden Aussicht, aufzusteigen, mich zu beweisen, mich durchzusetzen gegen andere, die vielleicht ältere Rechte, aber längst nicht größere Fähigkeiten haben. Ein Kampf ums Dasein in einer modernen Welt - survival of the fittest, ein ständiges Streben nach Einfluß, nach Vorrang, nach Macht. Ja, das könnte mich reizen, mich herausfordern.

Und damit war ein anderes verbunden: Ich würde in der Nähe des Vaters sein - nicht als sein Schützling, aber als sein Schatten. Was ich immer nur in meinen Träumen konnte - ihn beobachten, sein Tun verstehen, mich ihm beweisen und endlich über ihn zu obsiegen, das könnte so Wirklichkeit werden. Ich würde mit ihm reden, ihn kennenlernen, ihn ausforschen, ich würde in seine Geheimnisse eindringen und seine eigenen Träume erfahren. Und eines Tages gäbe es keine Mauer mehr zwischen uns, wäre er schutzlos, mir ausgeliefert. Ja, das ist ein Ziel! Und am Ende würde ich der Bessere sein, der Erfolgreichere, und er müßte es anerkennen. Ich würde das Recht haben auf sein Erbe, auch vor mir selbst - weil ich es mir erkämpft habe, statt es mir schenken zu lassen.

Tagelang bin ich durch die Straßen gelaufen, um Bewegung zu empfinden für alles, was mich bewegte, meine Überlegungen, meine Pläne, meine Träume. Und um zugleich Abschied zu nehmen von all diesen Orten um mich her, von Kindheit und Jugend. Deren Erfolge galten nun nicht mehr, jetzt zählten nur noch die zukünftigen. Und ich würde sie erringen!

So fuhr ich schon einen Tag früher nach Hamburg, besorgte mir eine Bleibe, weil ich nicht in das väterliche Haus ziehen wollte, jedenfalls nicht sofort, nicht auf Befehl. Der Machtkampf hatte also schon begonnen, noch ehe ich ihn wiedertraf. Auch wenn er nichts davon ahnte. Und ich sagte zu, reserviert, aber freundlich im Ton, in seinem Unternehmen eine Ausbildung zu beginnen, und ich sah mit Genugtuung, daß es ihn bewegte. Das war der Grundstein für meinen Aufstieg in der Welt der Schifffahrt, des Handels, der weltweiten Wirtschaft!

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