»Besteht aber die Lektion nicht darin, dass du alle indischen Verteidiger einladen solltest, eine Zigarette mit dir zu rauchen?«
»Vielleicht. Aber die Zeit ist leider beschränkt, und das Fleisch ist schwach. Mir ist es immer noch lieber, im Klub zusammen mit meinesgleichen zu rauchen.«
»Warum dann aber nicht die Verteidiger in den Klub einladen?«, fragte Miss Quested hartnäckig weiter.
»Nicht erlaubt.« Er war freundlich und geduldig und verstand offensichtlich auch, warum sie nicht verstand. Er ließ durchblicken, dass auch er einmal wie sie gedacht hatte, aber nicht sehr lange. Auf die Veranda hinaustretend, rief er mit fester Stimme etwas in Richtung des Mondes. Sein sais antwortete, und ohne den Kopf zu senken, gab er Anweisung, seinen Einspänner vorfahren zu lassen.
Mrs. Moore, die vom Klubbetrieb ein wenig benommen war, bekam im Freien gleich wieder einen klaren Kopf. Sie betrachtete den Mond, dessen Glanz das Purpurrot des umgebenden Himmels mit einem blässlichen Gelbgrün trübte. In England war der Mond ihr stets leblos und fremdartig vorgekommen. Hier war er mit der Erde und allen anderen Gestirnen zusammen in den Schal der Nacht eingehüllt. Ein plötzliches Gefühl für die Einheit alles Geschaffenen, der Verwandtschaft mit allen Himmelskörpern durchströmte die alte Frau wie Wasser einen künstlichen Teich, eine seltsame Frische hinter sich lassend. Sie hatte nichts gegen »Cousin Kate«, nichts gegen die Nationalhymne einzuwenden, aber der Nachhall von beidem war nun in einen neuen Klang eingegangen, so wie Cocktails und Zigarren in das nur für ihr inneres Auge sichtbare Bild von Blumen eingegangen waren. Als an der Straßenbiegung die Moschee aufschimmerte, lang gestreckt, kuppellos, rief sie aus: »O ja – bis hierher bin ich gekommen, hier bin ich gewesen.«
»Wann denn gewesen?«, fragte ihr Sohn.
»In der Zwischenpause.«
»Aber Mutter, so etwas darfst du dir einfach nicht leisten.«
»Das darf Mutter nicht?«
»Nein, wahrhaftig, nicht in diesem Land. Es gehört sich einfach nicht. Man hat sich beispielsweise vor den Schlangen in Acht zu nehmen. Am Abend kommen sie gewöhnlich aus ihren Schlupflöchern heraus.«
»Ach ja, das hat auch der junge Mann in der Moschee gesagt.«
»Das klingt ja ganz romantisch«, bemerkte Miss Quested, die, Mrs. Moore von Herzen zugetan, sich ehrlich darüber freute, dass ihr ein kleines Abenteuer vergönnt gewesen war. »Du triffst in der Moschee einen jungen Mann und erzählst mir dann nichts davon!«
»Ich war gerade drauf und dran, es dir zu erzählen, Adela, aber irgendwie bog die Unterhaltung dann in ein anderes Gleis ein, und ich vergaß es. Mein Gedächtnis wird immer unzuverlässiger.«
»War er nett?«
Mrs. Moore zögerte ein wenig, um dann mit vollem Nachdruck zu erklären: »Außerordentlich nett.«
»Wer war’s denn?«, forschte Ronny.
»Ein Arzt. Ich weiß nicht, wie er hieß.«
»Ein Arzt? Ich kenne in Tschandrapur keinen jungen Arzt. Wie merkwürdig! Wie sah er denn aus?«
»Er war ziemlich klein, hatte einen kleinen Schnurrbart und flinke Augen. Er rief mir etwas zu, als ich mich noch im dunklen Teil der Moschee befand – etwas, das sich auf meine Schuhe bezog. Auf diese Weise kamen wir ins Gespräch. Er bildete sich ein, dass ich welche anhätte. Aber glücklicherweise hatte ich dran gedacht, sie abzutun. Er erzählte mir von seinen Kindern, und dann hat er mich bis zum Klubeingang gebracht. Er kennt dich.«
»Ich wünschte, du hättest ihn mir gezeigt. Ich ahne nicht, wer es ist.«
»Er kam nicht mit in den Klub. Er sagte, er dürfe nicht mit hinein.«
Ronny ging endlich ein Licht auf. »Ach du lieber Himmel«, rief er, »das war doch nicht etwa ein Mohammedaner? Warum hast du mir nur um alles in der Welt nicht erzählt, dass du dich mit einem Eingeborenen unterhalten hast? Ich war völlig auf dem Holzweg.«
»Ein Mohammedaner! Das ist ja großartig«, rief Miss Quested aus. »Ronny, sieht das deiner Mutter nicht ganz ähnlich? Wir reden fortwährend davon, dass wir etwas vom wirklichen Indien sehen wollen, und sie geht hin und sieht es. Und dann vergisst sie, dass sie es gesehen hat!«
Aber Ronny fühlte sich beunruhigt. Nach den Worten seiner Mutter hatte er angenommen, dass der Arzt der junge Muggins vom anderen Ufer des Ganges war, und er hatte bereits alle kameradschaftlichen Gefühle gezückt. Was für eine Verwechslung! Warum hatte sie nicht wenigstens mit einem Nebenton in der Stimme angedeutet, dass sie von einem Inder sprach! Gereizt und ein wenig diktatorisch, begann er sie zu verhören: »Er rief dir in der Moschee etwas zu, wie? In welchem Ton? Unverschämt? Was hatte er zu so später Stunde dort zu suchen? Nein, es ist nicht die Stunde ihres Gebets.« Das Letztere war die Antwort auf eine Frage Miss Questeds, die sich ihrerseits ungemein interessiert zeigte. »Er hat dich also wegen deiner Schuhe zur Rede gestellt. Dann war es Unverschämtheit. Ein alter Kniff. Ich wünschte, du hättest sie anbehalten.«
»Ja, unverschämt war es schon, aber ein Kniff? Er war mit den Nerven so ziemlich am Ende – das konnte ich am Ton seiner Stimme erkennen. Sobald ich antwortete, benahm er sich völlig anders.«
»Du hättest ihm überhaupt nicht antworten sollen.«
»Na hör mal«, warf die logische junge Dame ein, »würdest du nicht zum Beispiel von einem Mohammedaner erwarten, dass er dir antwortete, wenn du ihn darum bätest, in der Kirche seinen Fez abzunehmen?«
»Das ist etwas anderes, etwas völlig anderes. Das kannst du nicht verstehen.«
»Nein, ich weiß, aber ich möchte es gern verstehen. Worin liegt denn, bitte, der Unterschied?«
Wenn sie sich doch nicht immer einmischen wollte! Was seine Mutter betraf, so war von ihr nicht allzu viel zu befürchten – sie war nichts als eine Touristin, Reisebegleiterin, die jederzeit wieder nach England zurückkehren durfte und von deren Eindrücken auch gar nicht viel abhing. Aber mit Adela, die ernstlich erwog, ihr weiteres Leben in diesem Land zu verbringen, verhielt es sich weitaus bedenklicher. Wie lästig, wenn sie von vornherein mit einer falschen Einstellung an die ganze Eingeborenenfrage heranginge! Die Stute zum Halten bringend, sagte er: »Da ist euer Ganges.«
Die Aufmerksamkeit der beiden Frauen war tatsächlich abgelenkt. Vor ihnen in der Tiefe war plötzlich ein seltsamer Schimmer sichtbar geworden, der weder mit dem Wasser noch mit dem Mondlicht zu tun hatte – er stand wie eine Leuchtgarbe auf dem Feld des Dunkels. Ronny erklärte, dass das die Stelle sei, an der die neue Sandbank sich bildete, dass das schwärzliche Gekräusel am oberen Ende der Sand sei, und dass in ihrer Nähe auch die Leichen aus Benares herabtrieben – oder vielmehr herabtreiben würden, wenn die Krokodile es zuließen. »Von einer Leiche ist nicht mehr viel übrig, wenn sie nach Tschandrapur gelangt.«
»Auch Krokodile im Fluss, wie schrecklich«, murmelte die Mutter. Die jungen Leute wechselten rasch einen Blick und lächelten. Es belustigte sie stets ein wenig, die alte Dame von solchen Anwandlungen leisen Schauders heimgesucht zu sehen, und damit war die Eintracht zwischen ihnen wiederhergestellt. »Was für ein schrecklicher Fluss«, fuhr Mrs. Moore fort. »Was für ein herrlicher Fluss!« Sie seufzte. Der Schimmer war bereits am Verblassen, vielleicht, weil mit Mond oder mit Sand eine Veränderung vor sich gegangen war. Bald war es wohl auch um die helle Garbe geschehen, und nichts anderes würde von ihr mehr verbleiben als ein winziger zitternder Lichtkreis, wie eingeglüht in die flutende Leere. Die Frauen überlegten, ob sie den Wechsel der Beleuchtung noch abwarten sollten oder nicht, während rings um sie her die Stille bereits in kleine Flackerlaute von Unruhe zerbröckelte und die Stute zu zittern begann. Um ihretwillen beschlossen sie, nicht länger zu warten. Sie fuhren gleich weiter bis zum Bungalow des Richters, wo Miss Quested schlafen ging und Mrs. Moore noch eine kurze Unterredung mit ihrem Sohn hatte.
Er wollte noch mehr von dem mohammedanischen Arzt wissen, den sie in der Moschee getroffen hatte. Es gehörte zu seinen Pflichten, verdächtige Individuen anzuzeigen, und möglicherweise war es irgendeiner der zweifelhaften hakim aus dem Basarviertel, der auf ein Opfer gelauert hatte. Als Mrs. Moore ihm berichtete, dass es jemand war, der im Minto-Hospital angestellt war, atmete er erleichtert auf und bemerkte, der Bursche müsse Aziz heißen, und er sei einwandfrei, völlig einwandfrei.
»Aziz – was für ein reizender Name!«
»Ihr beide kamt also ins Gespräch. Hattest du den Eindruck, dass er freundlich gesonnen war?«
Ohne die Bedeutung dieser Frage zu ermessen, antwortete sie:
»O ja, das schon, zumindest nach einer kleinen Weile.«
»Ich meine, ganz allgemein. Schien er uns gelten zu lassen – die brutalen Eroberer, die blutlosen Bürokraten – und wie man uns so nennt?«
»O ja, ich glaube schon – bloß die Callendars nicht. Für die Callendars hat er nicht das Geringste übrig.«
»Oh. Das hat er dir ohne alle Umschweife gesagt, wie? Das wird den Major interessieren. Ich überlege nur, worauf er mit seiner Bemerkung hinauswollte.«
»Ronny, Ronny, das wirst du doch Major Callendar um Himmels willen nicht weiterberichten?«
»O doch. Ich muss es sogar.«
»Aber lieber Junge –.«
»Wenn der Major erführe, dass ein mir unterstellter Inder schlecht von mir spricht, würde er es mir auch gleich wiedererzählen.«
»Aber lieber Junge – eine Privatunterhaltung!«
»Nichts ist in Indien privat. Das wusste Aziz genau, als er so offen sprach. Mach dir also keine Gedanken. Er muss für seine Äußerung irgendein bestimmtes Motiv gehabt haben. Ich bin sogar überzeugt, dass die Bemerkung nicht ehrlich gemeint war.«
»Wieso denn nicht ehrlich gemeint?«
»Er putzte den Major nur herunter, um Eindruck auf dich zu machen.«
»Lieber – ich weiß wirklich nicht, wie du das meinst.«
»Es ist der neueste Kniff des gebildeten Eingeborenen. Früher pflegten sie einfach zu katzbuckeln, aber die jüngere Generation legt es darauf an, männliche Unabhängigkeit zu bekunden. Sie sind auch der Meinung, dass man auf diese Weise bei einem der herumreisenden Parlamentsmitglieder mehr herausschlagen kann. Aber ob ein Eingeborener angibt oder winselt: immer steckt hinter seinen Bemerkungen noch etwas anderes, irgendetwas, und sei es auch nur die Absicht, sein izzat zu verstärken – auf gut Englisch, Eindruck zu schinden. Natürlich gibt es Ausnahmen.«
»Bei uns zu Hause pflegtest du Leute nie mit solcher Elle zu messen.«
»Indien ist nicht Zu Hause«, entgegnete er etwas schroff. Aber um seine Mutter zum Schweigen zu bringen, hatte er sich gewisser Wendungen und Argumente bedient, die er älteren Beamten abgelauscht hatte. Er fühlte sich seiner selbst nicht ganz sicher. Als er sagte: »Natürlich gibt es Ausnahmen«, hatte er Turton zitiert, während die Wendung »das izzat verstärken« auf Major Callendar selbst zurückging. Beides bewährte sich und war auch bei den Klubunterhaltungen gängige Münze. Aber Mrs. Moore war klug genug, bei Ronny das Selbstbeobachtete vom Nachgeredeten zu unterscheiden, und es bestand die Gefahr, dass sie konkrete Beispiele von ihm verlangen würde.
Aber sie sagte lediglich: »Es lässt sich nicht leugnen, dass alles das recht vernünftig klingt. Trotzdem darfst du unter keinen Umständen Major Callendar auch nur das Geringste von dem weitergeben, was ich dir von Dr. Aziz erzählt habe.«
Ronny hatte das Gefühl, seiner Kaste gegenüber nicht ganz loyal zu handeln, trotzdem versprach er seiner Mutter, worum sie ihn bat. Nur fügte er hinzu: »Zum Ausgleich sprich du auch bitte nicht mit Adela über Aziz.«
»Nicht über ihn? Wieso?«
»Ach, du lieber Gott, Mutter, da wären wir nun glücklich wieder am Ausgangspunkt angelangt – ich kann dir wirklich nicht alles erklären. Ich möchte nicht, dass Adela sich die geringsten Gedanken macht – das ist der einzige Grund. Sie würde sich gleich die Frage vorlegen, ob wir die Eingeborenen richtig behandeln – und noch mehr solchen Unsinn.«
»Aber sie ist ja eigentlich nach Indien gekommen, um sich Gedanken zu machen – gerade darum ist sie ja hier. Sie hat auf dem Schiff immer wieder davon gesprochen. Wir hatten eine längere Unterhaltung, als wir in Aden zusammen an Land gingen. Sie hat dir, wie sie es ausdrückt, bisher nur beim Spiel zugesehen, aber noch nicht bei der Arbeit, und sie hatte das Gefühl, an Ort und Stelle zunächst ein wenig Umschau halten zu müssen, bevor sie sich endgültig entscheidet – und bevor du dich entscheidest. Sie möchte allen und allem gerecht werden.«
»Ich weiß«, sagte er etwas mutlos.
Der Beiklang von Dringlichkeit in seiner Stimme machte ihn für seine Mutter wieder zum kleinen Jungen, der unbedingt bekommen musste, was er haben wollte, und sie versprach zu tun, worum er gebeten hatte, und beide gaben sich einen Gutenachtkuss. Er hatte ihr jedoch nicht verboten, über Aziz nachzudenken, und eben das tat sie, sobald sie sich in ihrem Zimmer befand. Im Licht der Erklärung ihres Sohnes ließ sie die Begegnung in der Moschee noch einmal an sich vorüberziehen, um herauszufinden, wessen Eindruck der richtige sei. Ja, es ließ sich schon etwas durchaus Unerfreuliches daraus herauslesen. Der Arzt hatte sie zunächst angefaucht, hatte erklärt, Mrs. Callendar wäre nett, und hatte dann – nachdem er sich vergewissert hatte, dass er sich auf sicherem Gelände befand – den Ton gewechselt. Er hatte über die Kränkungen gejammert, die er hatte ausstehen müssen, und sich zugleich ihr, Mrs. Moore, gegenüber als Beschützer aufgespielt, hatte in einem einzigen Satz ein Dutzend widersprechender Feststellungen gemacht, war zudringlich, eitel und im Ganzen wohl auch nicht vertrauenerweckend gewesen. Ja, das stimmte schon alles – aber was für ein falsches Bild ergab es am Ende! Was an Aziz wirklich lebendig war, war völlig daraus entschwunden.
Als sie ihren Mantel aufhängen wollte, entdeckte sie, dass die Spitze des Garderobenhakens von einer kleinen Wespe eingenommen war. Sie hatte diese besondere Wespe oder eine ihrer Anverwandten schon am Tage bemerkt. Anders als die englischen Wespen hatten die indischen lange gelbe Beine, die sie beim Fliegen herabhängen ließen. Vielleicht verwechselte diese Wespe den Haken mit einem Zweig – kein Tier in Indien kann zwischen Außen- und Innenraum unterscheiden. Fledermäuse, Ratten, Vögel, Insekten legen sich kaum davon Rechenschaft ab, ob sie im Innern eines Hauses nisten oder im Freien. Für sie gehört alles zu einem ewigen Dschungel, das abwechselnd Häuser und Bäume, Bäume und Häuser hervortreibt. Da saß also die kleine Wespe schlafend auf ihrem Haken, während drunten in der Ebene die Schakale heulend ihre Gelüste kundtaten und gleichzeitig das Dröhnen von Trommeln erscholl.
»Du hübsche Kleine«, sagte Mrs. Moore zu der Wespe. Die Angeredete schlief ungestört weiter, aber Mrs. Moores Stimme schwang fort von ihr, hinaus, die verstörenden Laute der Nacht noch zu mehren.
4
Der Verwaltungsdirektor hielt Wort. Am nächsten Vormittag ließ er zahlreichen höhergestellten Indern der Umgebung Einladungskarten zugehen, auf denen zu lesen stand, dass er sie am folgenden Dienstag zwischen fünf und sieben Uhr nachmittags im Garten des Klubhauses erwarte und dass auch Mrs. Turton sich freuen werde, alle diejenigen ihrer weiblichen Angehörigen zu begrüßen, die sich nicht mehr an die Vorschrift des purdah gebunden fühlten. Dieser Schritt rief allgemeine Aufregung hervor und wurde in verschiedenen Sphären lebhaft erörtert.
»Das geht natürlich auf eine Anordnung des Provinzstatthalters zurück«, lautete Mahmoud Alis Erklärung. »Turton würde auf eigene Faust so etwas niemals riskieren. Die ganz hohen Beamten sind anders: sie haben für uns Verständnis, der Vizekönig hat Verständnis, und sie wollen uns anständig behandelt sehen. Nur kommen sie nicht oft genug her und leben zu weit entfernt. Inzwischen –«.
»Es ist nicht weiter schwierig, aus der Ferne Verständnis zu bezeigen«, erklärte ein alter vollbärtiger Mann. »Ich schätze ein freundliches Wort umso höher, je dichter es vor meinem Ohr gesprochen wird. Und das hat Mr. Turton getan – aus welchem Grund auch immer. Er spricht, und wir hören. Ich sehe nicht ein, warum wir noch länger darüber diskutieren sollen.« Worauf ein paar Zitate aus dem Koran folgten.
»Leider verfügen wir anderen nicht über deine Friedfertigkeit, Nawab Bahadur, und über deine Gelehrsamkeit auch nicht.«
»Der Provinzstatthalter mag mir persönlich gewogen sein, aber ich mache ihm auch meinerseits das Leben nicht schwer. Wie geht es Ihnen, Nawab Bahadur? – Danke der Nachfrage, Sir Gilbert, recht gut. Und wie geht es Ihnen? – Und das wäre dann auch alles. Aber dafür kann ich ein Stachel in Mr. Turtons Fleisch sein, und wenn er mich zu sich bittet, nehme ich seine Einladung an. Ich werde sogar eigens von Dilkusha in die Stadt dazu kommen, auch wenn andere Abmachungen dann vertagt werden müssen.«
»Womit Sie sich leider selbst etwas vergeben«, sagte plötzlich ein kleiner Schwarzhaariger.
Ein Gemurmel allgemeiner Missbilligung erhob sich. Wer war denn dieser ungebildete Emporkömmling, der sich erdreistete, den führenden mohammedanischen Grundbesitzer der Gegend zu kritisieren? Mahmoud Ali teilte zwar seine Meinung, fühlte sich aber verpflichtet, ihm zu widersprechen. »Mr. Ram Chand«, sagte er, mit der Hand an der Hüfte steif vorwärts wippend.
»Mr. Mahmoud Ali!«
»Mr. Ram Chand, der Nawab Bahadur kann wohl selbst entscheiden, wann und wie man sich etwas vergibt, ohne dass wir ihm dafür erst die Maßstäbe liefern.«
»Ich glaube kaum, dass ich mir etwas vergeben werde«, sagte der Nawab Bahadur in durchaus freundlichem Ton, zu Mr. Ram Chand gewandt. Gerade weil dieser unhöflich gewesen war, hatte er ihn vor den Folgen seines Verhaltens zu schützen. Einen Augenblick lang war er versucht gewesen zu antworten: »Ja, ich werde mir wohl etwas vergeben«, aber diese Entgegnung verwarf er als zu wenig rücksichtsvoll. »Ich kann beim besten Willen nicht einsehen, wieso wir uns etwas vergeben sollten. Wirklich, das kann ich nicht einsehen. Die Einladung ist doch höchst huldvoll stilisiert.« In der Überzeugung, dass er die gesellschaftliche Kluft zwischen sich und seinen Zuhörern nicht noch mehr vermindern durfte, ließ er sich von seinem eleganten Enkel, den er stets um sich zu haben pflegte, den Wagen holen. Dann wiederholte er noch einmal alles, was er zuvor schon gesagt hatte – nur etwas ausführlicher –, und schloss mit den Worten: »Bis Dienstag also, meine Herren – ich hoffe, wir werden uns alle im Blumengarten des Klubs wiedersehen.«
Dieser Meinung kam ein besonderes Schwergewicht zu. Der Nawab Bahadur war ein Großgrundbesitzer und Wohltäter, der es weder an menschenfreundlicher Gesinnung noch an Entschlusskraft fehlen ließ. Bei allen Islamgemeinden der Provinz stand sein Name in hohem Ansehen. Er war ein großmütiger Feind und ein zuverlässiger Freund, und seine Gastlichkeit war geradezu sprichwörtlich: »Schenke, aber leihe nicht – wer würde es dir nach dem Tode noch danken?«, lautete seine Lieblingsdevise. Er hielt es für verwerflich, im Vollbesitz des Reichtums dahinzugehen. Wenn also eine solche Persönlichkeit bereit war, aus fünfzig Kilometer Entfernung mit dem Wagen zu kommen, um dem Verwaltungsdirektor die Hand zu schütteln, dann rückte die ganze Veranstaltung in ein anderes Licht. Denn er gehörte nicht zu den Berühmtheiten, die die Nachricht verbreiten lassen, sie würden sich auf der und der Gesellschaft höchstpersönlich einfinden, die dann aber im letzten Augenblick ausbleiben und das kleinere Kroppzeug allein im Netz zappeln lassen. Wenn er sagte, er würde kommen, dann kam er auch. Niemals täuschte, enttäuschte er seine Anhänger. Die Männer, denen er eben einen Vortrag gehalten hatte, redeten einander nun auch ihrerseits lebhaft zu, an der geplanten Gesellschaft teilzunehmen, wenngleich sie im Stillen überzeugt waren, dass sein Rat unverständig war.
Er hatte in dem kleinen geschlossenen Raum in der Nähe des Gerichts gesprochen, in dem die Anwälte und Klienten warteten. Die Klienten, die ihrerseits auf Anwälte warteten, hockten draußen im Staub. Sie hatten von Mr. Turton keine Einladung erhalten, aber auch tief unter ihnen gab es noch Zahllose, Leute, die nur einen Hüftschurz, andere, die nicht einmal so viel trugen, und die ihr ganzes Leben damit verbrachten, vor einer scharlachrot gekleideten Puppe mit zwei hölzernen Stäbchen ein Klappergeräusch zu vollführen, menschliche Wesen, die, in immer weiteren und tieferen Abstufungen, auch immer weiter dem Gesichtskreis der Gebildeten entgleiten, bis keine irdische Einladung sie mehr zu erfassen vermag.
Vielleicht sollten alle Einladungen überhaupt vom Himmel selbst ausgehen, und vielleicht sollten die Menschen lieber auf den Versuch verzichten, eine innere Zusammengehörigkeit vorzutäuschen – allzu leicht erweitern sie nur die zwischen ihnen bestehende Kluft. Auf jeden Fall waren dieser Meinung der alte Mr. Graysford und der junge Mr. Sorley, die beiden einzigen Missionare, die hinter den Schlachthäusern wohnten, bei Reisen stets dritter Klasse fuhren und niemals im Klub erschienen. In unseres Vaters Hause sind viele Wohnungen, lehrten sie, und nur dort würden auch die unvereinbar-mannigfaltigen Arten der Menschengattung willkommen geheißen und gespeist. Auf Seiner Veranda sollte von den Dienern keiner je abgewiesen werden, ob weiß- oder dunkelhäutig, und keiner sollte zum Stehen verurteilt sein, sofern er sich nur mit liebendem Herzen näherte. Und warum sollte göttliche Gastfreundlichkeit es bei den Menschen bewenden lassen? Man brauchte, ganz untertänig sei es bemerkt, nur an die Affen zu denken. Sollte es nicht auch für die Affen noch irgendeine Wohnung geben? Nein, meinte der alte Mr. Graysford, aber Mr. Sorley, der fortschrittlich gesinnt war, sagte ja. Er konnte keinen Grund dafür sehen, warum nicht auch den Affen Mitanteil an der ewigen Seligkeit vergönnt sein sollte, und er hatte sich in diesem Sinne auch befreundeten Hindus gegenüber recht verständnisvoll ausgelassen. Und die Schakale? Von den Schakalen hielt Mr. Sorley nicht ganz so viel, aber da die Güte Gottes ja unermesslich war, so mochte sie sich auf alle Arten von Säugetieren erstrecken. Und die Wespen? Beim Abstieg zu den Wespen war Mr. Sorley nicht ganz geheuer zumute, und wenn das Gespräch darauf kam, fühlte er sich stets geneigt, das Thema zu wechseln. Und Orangen, Kakteen, Kristalle und Straßenschmutz? Und die Bakterien, die Mr. Sorley in seinem Innern beherbergte? Nein, nein, so weit sollte man doch lieber nicht gehen. Irgendwelche Geschöpfe mussten von unserem himmlischen Beisammensein schon ausgeschlossen werden – was sollte sonst für uns selbst übrig bleiben?
5
Die Bridge-Party verlief nicht gerade erfolgreich – zumindest nicht in dem Sinne, in dem Mrs. Moore und Miss Quested eine Gesellschaft sonst erfolgreich zu nennen gewohnt waren. Sie fanden sich schon sehr früh dazu ein, da die Gesellschaft ja ihnen zu Ehren gegeben wurde. Aber die meisten der indischen Gäste hatten sich noch früher eingefunden und standen auf der anderen Seite der Tennisplätze herum, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Es ist eben erst fünf«, sagte Mrs. Turton. »Mein Mann wird gleich aus dem Amt zurück sein und das Ganze in Schwung bringen. Ich habe keine Ahnung, wie das geschehen soll. Wir haben bisher noch nie eine solche Gesellschaft im Klub gegeben. Mr. Heaslop, wenn ich selbst nicht mehr unter den Lebenden weile: werden Sie dann noch weiter Gesellschaften solcher Art veranstalten? Der alte Typ des Burrah Sahib würde sich im Grabe umdrehen, wenn er je davon zu hören bekäme.«
Ronny lachte ehrerbietig. »Du wolltest etwas Nicht-nur-Malerisches zu sehen bekommen«, sagte er zu Miss Quested, »und da hast du es nun. Was hältst du von unserem arischen Bruder, wenn er dir in Tropenhelm und kurzen Gamaschen entgegentritt?«
Weder die Angeredete noch Ronnys Mutter fühlten sich bemüßigt zu antworten. Sie ließen einen etwas bekümmerten Blick über den Tennisplatz schweifen. Nein, das war sicher nicht malerisch. Der Osten hatte sich seiner irdischen Herrlichkeit entäußert und war beim Abstieg in ein Tal begriffen, dessen andere Seite vorerst noch nicht erkennbar war.
»Die Hauptsache ist, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass keiner der hier Anwesenden wirklich zählt. Und umgekehrt sind die, auf die es ankommt, alle nicht hier – habe ich nicht recht, Mrs. Turton?«
»Völlig recht«, sagte die hohe Dame, sich zurücklehnend. Sie »sparte sich«, wie sie selbst es auszudrücken beliebte, »auf« – nicht etwa für irgendein an jenem Nachmittag oder auch nur in jener Woche bevorstehendes Ereignis, sondern für eine künftige Gelegenheit unbestimmten Datums, bei der einer der höchsten Beamten zu ihr zu Besuch kommen und ihre gesellschaftlichen Talente auf die Probe stellen würde. Fast jedes Mal war ihr öffentliches Auftreten durch eine solche Art der Zurückhaltung gekennzeichnet.
Ihrer Zustimmung nunmehr sicher, fuhr Ronny fort: »Die gebildeten Inder werden uns im Fall einer Auseinandersetzung gar nichts nütze sein. Es lohnt einfach nicht, sie friedlich zu stimmen – und eben darum zählen sie auch nicht mit. Die meisten der Leute, die du hier vor dir siehst, sind im Grunde ihres Herzens Rebellen, und die übrigen Schlappschwänze. Der Mann, der in Indien den Boden beackert – das ist ein andrer Kerl. Und auch der Afghan ist ein richtiger Mann. Aber diese Leute hier – bilde dir bitte nicht ein, dass sie Indien verkörpern.« Er wies auf die ungegliederte Masse hinter dem Tennisplatz, die gelegentlich mit dem Aufblitzen eines Klemmers und der Schlenkerbewegung eines Fußes anzudeuten schien, dass sie seiner hochnäsigen Bemerkungen gewahr wurde. Europäische Kleidung war wie Aussatz über sie gekommen. Wenige waren ihr völlig verfallen, aber niemand war ganz von ihr verschont geblieben. Sobald Ronny zu Ende gesprochen hatte, trat zu beiden Seiten des Tennisplatzes völlige Stille ein. Immerhin gesellten sich der englischen Gruppe noch ein paar weibliche Gäste zu, deren Worte, kaum geäußert, im Leeren zu verhallen schienen. Über den beiden Lagern schwebten, gleichsam unparteiisch, ein paar Papierdrachen, über die der massige Schatten eines Geiers glitt, und mit einer alles andere noch beschämenden Unparteilichkeit ließ der keineswegs tieffarbige, sondern durchsichtig schimmernde Himmel rings umher sein Licht herniederströmen. Wenig wahrscheinlich, dass damit die Höhenfolge bereits an ihrem Ende angelangt sein sollte. Musste sich über dem Himmel nicht noch ein anderes dehnen, das alle einzelnen Himmel überwölbte und selbst diese noch an Unparteilichkeit übertrumpfte? Und darüber wiederum …
Man unterhielt sich über »Cousin Kate«.
Die Engländer hatten versucht, auf der Bühne ihren eigenen Lebensstil wiederzugeben, und sich dabei als gute englische Bürger kostümiert – die sie ja in Wirklichkeit waren. Nächstes Jahr wollten sie das Lustspiel »Quality Street« oder das Singspiel »The Yeomen of the Guard« zur Aufführung bringen. Abgesehen von diesem alljährlichen Abstecher aber wollten sie von der Literatur nicht viel wissen. Die Männer hatten keine Zeit dafür übrig, und die Frauen hielten sich allem fern, was sie mit den Männern nicht teilen konnten. Ihre künstlerische Ahnungslosigkeit war bemerkenswert, und sie ließen sich auch keine Gelegenheit entgehen, sie sich gegenseitig unter die Nase zu reiben. Es war die Lebenseinstellung der Public School, die hier in Indien viel üppiger ins Kraut schießen durfte, als es ihr in England jemals hätte gelingen können. Wenn von den Indern zu sprechen uninteressant geworden war, so galt es als geradezu ungehörig, die schönen Künste zu erwähnen, und Ronny war seiner Mutter über den Mund gefahren, als sie sich nach seiner Bratsche erkundigte. Eine Bratsche war fast etwas Unwürdiges, jedenfalls nicht die Art von Musikinstrument, deren man in der Öffentlichkeit Erwähnung tun durfte. Mrs. Moore stellte bei sich fest, wie lax und konventionell ihr Sohn im Urteil geworden war. Als sie früher einmal in London gemeinsam »Cousin Kate« auf der Bühne gesehen hatten, hatte er eine schnoddrige Bemerkung nach der anderen darüber gemacht. Nun gab er, um niemand zu kränken, vor, das Stück für gut zu halten. Im Lokalblatt war eine »unfreundliche Besprechung« erschienen – »kein weißer Kritiker hätte es fertiggebracht, so etwas zu schreiben«, hatte Mrs. Lesley bemerkt. Gewiss wurde das Stück gerühmt, und ebenso Inszenierung und Darstellung als Ganzes, aber dafür fand sich in der Besprechung folgender Satz: »Wenn Miss Derek in ihrer Erscheinung dem Charakter ihrer Rolle auch aufs Reizendste gerecht wurde, so ermangelte sie doch der notwendigen Bühnenerfahrung und vergaß gelegentlich ihren Text.« Dieser winzige Hauch von echter Kritik hatte weithin Ärgernis erregt – nicht etwa bei Miss Derek selbst, die durchaus dickfellig war, wohl aber bei ihren Freunden. Miss Derek gehörte nicht mit zu Tschandrapur. Sie weilte auf vierzehn Tage zu Gast bei den McBrydes, dem Polizeichef und seiner Frau, und war so liebenswürdig gewesen, im letzten Augenblick eine bei der Besetzung verbliebene Lücke füllen zu helfen. Was für einen Eindruck von Gastlichkeit sollte sie aus dieser Stadt mit sich davontragen!