Der Diener wies mit einer großmütigen Geste ins Innere des Hauses, aber Aziz glaubte es seiner Würde schuldig zu sein, diesseits der Schwelle zu verharren. Auf die Veranda hinaus wurden ihm Papier und Tinte gebracht. Er begann: »Sehr geehrter Herr Major! Auf Ihren ausdrücklichen Befehl habe ich, wie es sich für einen Untergebenen gehört, nicht gesäumt –«. Er hielt inne. »Sag ihm, dass ich hier war – das genügt«, rief er, seinen Protest in Stücke reißend. »Hier ist meine Karte. Besorge mir eine Tonga.«
»Huzoor – sie sind alle gerade beim Klub.«
»Dann bestelle mir telefonisch eine am Bahnhof.« Und da der Diener sich eilig anschickte, das Gewünschte zu tun, sagte er: »Schon gut, schon gut, ich möchte doch lieber zu Fuß gehen.« Er ließ sich ein Zündholz reichen und steckte sich eine Zigarette an. Diese kleine Aufmerksamkeit hatte, wiewohl erkauft, etwas Beruhigendes für ihn. Er durfte auf Entsprechendes rechnen, solange er noch Rupien in der Tasche hatte – immerhin etwas. Hätte er nur schon den Staub Anglo-Indiens von den Sohlen geschüttelt, sich aus dem Netz herausgewunden, und sähe er sich nur wieder Umgangsformen und Gebärden gegenüber, die ihm vertraut waren! Er begann, eine ihm ungewohnte Tätigkeit, rasch auszuschreiten.
Aziz war behende und klein und zierlich gebaut, aber im Grunde recht kräftig. Dennoch ermüdete es ihn, zu Fuß zu gehen, was in Indien bis auf den Neuankömmling jeden ermüdet. Der Boden scheint etwas Feindliches an sich zu haben. Er gibt entweder nach, und man sinkt beim Gehen tief in ihn ein, oder er ist unerwartet zäh und scharfkantig, und mehr als einmal verspürt man, ausschreitend, den Gegendruck von Stein und Kristall. Nach einer Reihe solch kleiner Überraschungen fühlt man sich ganz erschöpft. Und Aziz trug obendrein Schuhe, die keine Absätze hatten – in jedem Land eine für Fußgänger unzulängliche Ausrüstung. Am Außenrand der Beamtenstation schwenkte er in die Moschee ein, um hier ein wenig zu rasten.
Er hatte gerade für diese Moschee stets etwas übrig gehabt. Sie war anmutig gegliedert, und die bauliche Anordnung sagte ihm zu. Im Hof, den er durch ein verfallenes Tor betrat, befand sich ein Reinigungsbrunnen mit fließendem klarem Wasser – Teil einer die ganze Stadt versorgenden Zuflussleitung. Die Pflasterung des Hofes bestand aus geborstenen Platten. Der überdachte Teil der Moschee war weiträumiger, als es sonst der Fall war – man fühlte sich bei seinem Anblick an eine englische Gemeindekirche erinnert, bei der eine Seitenwand fehlt. Von dort, wo Aziz saß, konnte er in drei Bogengänge hineinblicken, deren Dunkel nur durch eine kleine Hängelampe und den Mond aufgehellt war. Die Vorderwand schien, im vollen Mondlicht, aus Marmor zu bestehen, und auf dem Fries hoben sich die neunundneunzig Namen Gottes schwärzlich vom Steingrund ab, während der Fries selbst weiß leuchtend vor dem nächtlichen Himmel stand. Am Wettstreit der Gegensätze und am Wechselspiel der Schatten im Innern des Baus fand Aziz Gefallen, und er versuchte, beidem sinnbildliche Bedeutung für irgendeine Wahrheit der Liebe oder der Religion abzugewinnen. Wann immer eine Moschee ästhetisches Wohlgefallen bei ihm erweckte, vermochte sie auch seine Einbildungskraft zu beflügeln. Der Anblick eines anderen Tempels, sei es von Hindus, von Christen oder von Griechen, würde ihn gelangweilt, würde auch sein Schönheitsgefühl unbeteiligt gelassen haben. Hier aber war der Islam, war seine geistige Heimat, mehr als ein Glaube, als ein Schlachtruf, mehr, sehr viel mehr … Islam: ein Lebensgehäuse, das köstlich-erlesen und gleichzeitig dauerfest war und in dem sein Körper und seine Gedanken sich daheim fühlen durften.
Sein Ruhesitz befand sich auf einer niedrigen Mauer, die den Hof zur Linken begrenzte. Vor seinen Füßen fiel der Boden in Richtung der Stadt ein wenig ab, die jetzt nicht mehr war als ein Schattengebilde von Bäumen, und in der Stille vernahm er vielerlei ferne Laute. Zur Rechten, drüben im Klubgebäude, steuerte die englische Kolonie den Klang eines Amateurorchesters dazu bei. Irgendwo anders rührten Hindus die Trommeln – er wusste, dass es Hindus waren, weil der Rhythmus dem seines Wesens zuwiderlief –, während andere eine Totenklage angestimmt hatten – er wusste, wer der Verstorbene war, denn er hatte ihm erst am Nachmittag den ärztlichen Totenschein ausgestellt. Endlich waren Eulen zu hören und der Pandschab-Express … und aus dem Garten des Stationsvorstehers wehte berückender Blumenduft. Aber die Moschee – nur ihr war geistige Wirklichkeit eigen, und dem vielfältigen Anruf der Nacht sich verschließend, wandte er sich ihr wieder zu und schmückte sie mit Bedeutungen, von denen ihr Erbauer sich nie hätte träumen lassen. Eines Tages würde auch er eine Moschee errichten lassen, kleiner als diese, aber von erlesenstem Geschmack, auf dass alle, die zufällig hier des Weges kamen, das gleiche Gefühl der Glückseligkeit auskosten durften, das er selbst jetzt empfand. Und ganz in ihrer Nähe sollte, in einem niedrigen Gewölbe, sein Grab sich befinden, mit einer persischen Inschrift:
»Ohne mich wird nun, wehe, viele Jahrtausende
Die Rose erblühen, der Frühling erschimmern,
Aber wer im Geheimen mein Herz verstanden hat,
Wird herpilgern zu dem Grab, das mir Ruhestatt ist.«
Er hatte diesen Vierzeiler einst auf dem Grab eines Königs im Dekhan erblickt und betrachtete ihn als Ausdruck einer tiefsinnigen Weltanschauung – stets setzte er das Pathetische mit dem Tiefgründigen gleich. Das geheime Verstehen des Herzens! Mit Tränen im Auge wiederholte er die Floskel, und währenddessen schien eine der Moscheesäulen ins Wanken zu geraten. Sie bebte in der Düsternis, schien sich abzusondern. Geisterglaube spukte ihm im Blut, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Eine zweite Säule bewegte sich, eine dritte, und dann trat ins Mondlicht hinaus die Gestalt einer Frau – einer Engländerin. Plötzlich von Wut gepackt, rief er laut: »Madam! Madam! Madam!«
»Oh, oh«, hauchte erschrocken die Frau.
»Madam, dies ist eine Moschee. Sie haben kein Recht, sie zu betreten! Sie hätten Ihre Schuhe ablegen sollen. Dies ist für Moslems eine heilige Stätte.«
»Ich habe die Schuhe abgelegt.«
»Tatsächlich?«
»Ich habe sie am Eingang gelassen.«
»Dann bitte ich um Verzeihung.«
Noch immer erschrocken, bewegte die Frau sich dem Ausgang zu, wobei sie sich absichtlich auf der anderen Seite des Reinigungsbrunnens hielt. »Ich bitte aufrichtig um Verzeihung für meine Worte«, rief er ihr nach.
»Ja, es war doch alles in Ordnung, nicht wahr? Wenn ich meine Schuhe ausziehe, bin ich doch zugelassen?«
»Natürlich. Aber so wenige Damen nehmen sich diese Mühe, vor allem, wenn sie glauben, dass es niemand sieht.«
»Das macht doch nicht den geringsten Unterschied. Gott ist hier.«
»Madam!«
»Bitte lassen Sie mich nun gehen.«
»Oh, kann ich Ihnen jetzt oder ein anderes Mal in irgendeiner Weise gefällig sein?«
»Nein, danke schön, wirklich nicht – Gute Nacht.«
»Darf ich wohl Ihren Namen wissen?«
Sie stand nun im Schatten des Torwegs, sodass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber sie sah das seine und sagte mit einem Wechsel der Stimme: »Mrs. Moore.«
»Mrs. –.« Ein paar Schritte vortretend, bemerkte er, dass sie gar keine junge Frau mehr war. Ein Traumschloss, leuchtender als die Moschee, sank in Trümmer, und er wusste nicht, ob er froh sein sollte oder betrübt. Sie war älter als die Hamidullah-Begum, hatte ein rötliches Gesicht und weißes Haar. Ihre Stimme hatte ihn getäuscht.
»Mrs. Moore, ich fürchte, ich habe Sie erschreckt. Ich werde meinen Glaubensbrüdern – unseren Freunden – berichten, was Sie gesagt haben. Dass Gott hier ist – wie gut, wie schön das klingt! Sie sind wohl noch nicht lange in Indien?«
»Gar nicht lange. Aber woran erkennen Sie das?«
»An der Art, wie Sie mit mir sprechen. Nein, nicht nur das. Aber darf ich Ihnen einen Wagen holen?«
»Ich bin nur eben vom Klub einen Moment herübergekommen. Sie führen dort ein Stück auf, das ich schon in London gesehen habe, und im Saal war es so heiß.«
»Was ist denn das für ein Stück?«
»›Cousin Kate‹.«
»Sie sollten bei Nacht hier lieber nicht allein spazieren gehen, Mrs. Moore. Es treibt sich allerhand Gesindel herum, und von den Marabar-Hügeln wagen sich mitunter sogar Leoparden hierher. Auch Schlangen.«
Sie stieß einen Laut des Schreckens aus. An die Schlangen hatte sie nicht mehr gedacht.
»Oder auch ein bestimmter Käfer mit sechs Pünktchen auf den Flügeln. Sie lesen ihn auf, er sticht, und Sie müssen sterben.«
»Aber Sie gehen ja selbst hier spazieren!«
»Oh, ich bin es gewohnt.«
»Die Schlangen gewohnt?«
Beide lachten. »Ich bin Arzt«, sagte er. »Schlangen trauen sich nicht an mich heran.« Seite an Seite ließen sie sich in dem weiten Eingangstor nieder und streiften sich die Schuhe wieder über.
»Darf ich bitte noch eine Frage an Sie richten? Warum kommen Sie eigentlich um diese Zeit des Jahres nach Indien, ausgerechnet jetzt, wo das kühle Wetter zu Ende geht?«
»Ursprünglich hatte ich die Absicht, früher zu kommen, aber es gab einen unvermeidlichen Aufschub.«
»Bald wird es hier ganz ungesund für Sie sein. Und warum kommen Sie ausgerechnet nach Tschandrapur?«
»Um meinen Sohn zu besuchen. Er ist der Richter für diese Stadt!«
»Aber nein, entschuldigen Sie, das ist ja unmöglich. Der Richter in unserer Stadt heißt Mr. Heaslop. Ich kenne ihn ganz genau.«
»Er ist trotzdem mein Sohn«, sagte sie lächelnd.
»Aber Mrs. Moore – wie kann er das sein?«
»Ich war zweimal verheiratet.«
»Ja, nun verstehe ich. Und Ihr erster Gatte ist gestorben.«
»Jawohl, und auch mein zweiter Mann.«
»Dann sind wir genau in derselben Lage«, sagte er geheimnisvoll. »Dann ist der Richter in dieser Stadt der Einzige, der Ihnen von allen Ihren Angehörigen geblieben ist?«
»Nein, ich habe noch zwei jüngere Kinder – Ralph und Stella, die in England leben.«
»Und der Herr hier in der Stadt – er ist Ralphs und Stellas Halbbruder?«
»Ganz richtig.«
»Mrs. Moore – das ist alles ungeheuer seltsam, weil auch ich, genau wie Sie, zwei Söhne und eine Tochter habe. Ist das nicht eine merkwürdige Zufallsfügung?«
»Wie heißen denn Ihre Kinder? Doch nicht wohl auch Ronny, Ralph und Stella?«
Die Frage entzückte ihn. »Nein, das nun wirklich nicht. Wie komisch das klingt! Sie heißen ganz anders – Sie werden überrascht sein. Hören Sie bitte. Ich werde Ihnen jetzt die Namen meiner Kinder sagen: das erste heißt Achmed, das zweite Karim, das dritte – die Erstgeborene – ist Dschemila. Drei Kinder sind genug. Ist das nicht auch Ihre Meinung?«
»O ja.«
Beide versanken für einen Augenblick in Schweigen und gedachten ihrer eigenen Sprösslinge. Mrs. Moore erhob sich mit einem Seufzer.
»Hätten Sie nicht einmal Lust, sich frühmorgens das Minto-Krankenhaus anzusehen?«, fragte er. »Etwas anderes habe ich Ihnen in Tschandrapur nicht zu bieten.«
»Danke schön, ich habe es bereits gesehen. Sonst hätte ich es mir wirklich gern von Ihnen zeigen lassen.«
»Dann hat es Ihnen wohl der Oberarzt gezeigt?«
»Jawohl, er und Mrs. Callendar.«
Seine Stimme wechselte den Klang. »Oh, eine wirklich reizende Dame!«
»Möglicherweise. Wenn man sie etwas näher kennt.«
»Wie? Was? Sie hat Ihnen nicht gefallen?«
»Sie hat es durchaus nicht an Freundlichkeit fehlen lassen, nur finde ich sie nicht gerade reizend.«
»Sie hat eben erst ohne meine Einwilligung meine Tonga entführt«, brach Aziz aus. »Nennen Sie so etwas reizend? – Und Major Callendar stört mich Abend für Abend beim Essen. Er lässt mich aus dem Haus meiner Freunde holen, und ich habe sofort zu ihm zu gehen und eine höchst anregende Unterhaltung abzubrechen, und dann ist er nicht da – nicht einmal eine Botschaft von ihm. Bitte schön – ist das reizend? Aber was kommt es schon drauf an! Ich kann mich ja nicht zur Wehr setzen, und das weiß er. Ich bin nur ein Untergebener, und meine eigene Zeit ist alles andere als kostbar. Für einen Inder ist die Veranda gerade gut genug, ja, jawohl, warum sollte er sich auch niedersetzen? Und Mrs. Callendar nimmt meine Tonga – ich bin einfach Luft für sie!«
Mrs. Moore hielt ihm ihr Ohr zugeneigt.
In Erregung geraten war Aziz zum einen bei dem Gedanken an die ihm angetane Kränkung, in weit höherem Maße aber deshalb, weil ein anderer Mensch ihm Teilnahme schenkte. Und das war es auch, was ihn zu Wiederholungen, Übertreibungen, Widersprüchen verführte. Sie hatte ihm ihr Mitgefühl dadurch bewiesen, dass sie ihm gegenüber Kritik an einer anderen Engländerin übte. Aber selbst vorher schon war er dieses Mitgefühls gewiss gewesen. Die Flamme, die nicht einmal der Anblick bloßer Schönheit entzünden kann, loderte auf, und wenn seine Worte auch wehleidig klangen, so begann sein Herz doch im Geheimen zu glühen. Und sogleich ging ihm die Zunge über.
»Sie verstehen mich, Sie wissen, wie einem Menschen zumute ist. Oh, wenn doch auch die anderen Ihnen ähnlich wären!«
Etwas überrascht erwiderte sie: »Ich glaube, ich verstehe von anderen Menschen nicht viel. Ich weiß nur, ob ich sie gern habe oder nicht.«
»Dann sind Sie Orientalin!«
Sie ließ sich, wie er es vorgeschlagen hatte, von ihm zum Klub zurückbegleiten und bemerkte an der Tür, sie wünschte, sie wäre selbst Mitglied, weil sie ihn dann mit hätte hereinbitten können.
»Im Klub von Tschandrapur sind Inder nicht einmal als Gäste zugelassen«, sagte er einfach. Er verbreitete sich auch nicht weiter über die ihm angetanen Kränkungen, denn er fühlte sich glücklich. Als er unter dem lieblichen Mond hügelab wanderte und die liebliche Moschee wieder vor sich erblickte, war es ihm, als habe er nicht weniger Besitzanrecht auf das ganze Land als irgendeiner der anderen. Was lag schon daran, dass ein paar schwächliche Hindus bereits vor ihm da waren, ein paar frostige Engländer noch nach ihm da sein würden!
3
Als Mrs. Moore den Klubsaal wieder betrat, war man schon mitten im dritten Akt der Aufführung von »Cousin Kate«. Die Fenster waren verhängt, damit die Diener ihre Memsahibs nicht schauspielern sehen konnten, und infolgedessen war die Hitze ganz unerträglich. Einer der elektrischen Ventilatoren wirbelte um sich selbst wie ein wunder Vögel, ein anderer funktionierte nicht. Da Mrs. Moore keine Lust verspürte, sich wieder unter die Zuschauer zu mischen, suchte sie stattdessen das Billardzimmer auf, in dem sie mit dem Ausruf: »Ich möchte aber etwas vom wahren Indien sehen!«, begrüßt wurde, und schon hatte das ihr zugeteilte Dasein wieder Besitz von ihr ergriffen. Der Ausruf kam von Adela Quested, dem seltsamen, vorsichtigen jungen Mädchen, das sie im Auftrag Ronnys aus England hatte herüberbringen müssen, und Ronny war ihr – gleichfalls vorsichtiger – Sohn, der Miss Quested mit einiger Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit aller Bestimmtheit heiraten würde, und sie selbst war eine etwas ältliche Dame.
»Auch ich möchte etwas davon sehen und wünschte nur, wir brächten es wirklich fertig. Offenbar wollen die Turtons am nächsten Dienstag irgendetwas veranstalten.«
»Das wird, wie immer, mit einem Elefantenritt enden. Denk nur an diesen Abend. ›Cousin Kate‹. Stell dir vor: ›Cousin Kate‹. Aber wo bist du denn in der Zwischenzeit gewesen? Ist es dir gelungen, den Mond diesmal im Ganges schimmern zu sehen?«
Zufällig hatten beide Frauen am Abend vorher in einem ferner gelegenen Seitenkanal des Stromes den Widerschein des Mondes erblickt, freilich vom Wasser so sehr in die Länge gezogen, dass er größer wirkte als der richtige Mond, und heller dazu, und das hatte ihnen Vergnügen bereitet.
»Ich bin bis zur Moschee gekommen, habe aber leider nichts vom Mond gesehen.«
»Heute wäre wohl auch der Winkel etwas anders – er geht erst später auf.«
»Später und immer später«, gähnte Mrs. Moore, die sich nach ihrem Spaziergang etwas müde fühlte. »Lass mich nachdenken – wir sehen hier nichts von der anderen Seite des Mondes, nein.«
»Aber, aber, so schlimm ist es mit Indien nun wieder nicht«, sagte eine freundliche Stimme. »Die andere Seite der Erde, na schön, aber wir halten es noch immer mit dem gleichen alten Mond.« Keine der beiden Frauen kannte den Sprecher, und keine sollte ihn je wieder zu Gesicht bekommen. Mit seinem gut gemeinten Wort entschwand er hinter den roten Backsteinsäulen im Dunkel.
»Wir bekommen nicht einmal etwas von der anderen Seite der Welt zu sehen – das ist unser Kummer«, bemerkte Adela. Mrs. Moore stimmte ihr zu. Auch sie war über die Reizlosigkeit ihres neuen Lebens enttäuscht. Ihre Reise, die sie zunächst über das Mittelmeer und dann zwischen den Sandflächen Ägyptens hindurch bis zum Hafen von Bombay geführt hatte, war so romantisch gewesen, und nur an ihrem Endpunkt hatten sie nichts anderes vorgefunden als den Gitterrost einer Bungalowsiedlung. Aber sie nahm die Enttäuschung nicht ganz so schwer wie Miss Quested – sie war immerhin vierzig Jahre älter und hatte erfahren, dass das Leben uns niemals in dem Augenblick unsere Wünsche erfüllt, den wir für den richtigen halten. Gewiss ereignet sich allerhand Abenteuerliches, aber niemals auf die Minute pünktlich. Nochmals bemerkte sie, sie hoffe, dass am folgenden Dienstag irgendetwas Interessantes zustande kommen werde.
»Lassen Sie sich etwas einschenken«, sagte eine andere freundliche Stimme – »Mrs. Moore – Miss Quested – lassen Sie sich beide Ihr Glas füllen!« Diesmal wussten sie, wessen Stimme es war – die des Verwaltungsdirektors Mr. Turton, in dessen Haus sie zu Abend gegessen hatten. Ganz wie ihnen, war es auch ihm bei »Cousin Kate« etwas zu heiß geworden. Ronny, berichtete er ihnen, verträte heute Abend Major Callendar, den irgendein indischer Untergebener hätte sitzen lassen, in der Rolle des Bühneninspizienten, und er mache seine Sache vortrefflich. Dann ließ er sich über Ronnys Vorzüge aus und äußerte ruhig und entschieden allerhand Schmeichelhaftes über ihn. Nicht, dass der junge Mann sich auf sprachlichem oder sportlichem Gebiet besonders hervortat oder dass er auch das der Jurisprudenz schon beherrschte. Aber – und das war offenbar ein gewichtiges Aber – Ronny hatte persönliche Würde.
Mrs. Moore vernahm es zu ihrer Überraschung, denn Würde gehört an sich nicht gerade zu den Eigenschaften, die eine Mutter ihrem Sohn zuzutrauen pflegt. Miss Quested vernahm es mit einer gewissen Besorgnis, denn sie war sich noch nicht darüber im Klaren, ob sie für würdige Männer allzu viel übrig hatte. Tatsächlich versuchte sie, diese Frage mit Mr. Turton zu erörtern, aber er verwies sie mit einer gutgelaunten Handbewegung zum Schweigen und fuhr fort zu äußern, was zu äußern er eigentlich gekommen war. »Kurz und gut – Heaslop ist ein Sahib. Er ist einer von denen, die wir hier brauchen. Er ist einer der Unseren.« Und ein anderer Zivilist, der sich gerade über den Billardtisch beugte, sagte vernehmlich: »Hört, hört!« Damit war die ganze Frage dem Bereich des Zweifels entrückt, und der Verwaltungsdirektor durfte seinen Weg fortsetzen, denn es riefen ihn andere Pflichten.
Inzwischen war die Theateraufführung am Ende angelangt, und das Amateurorchester spielte die Nationalhymne. Unterhaltung und Billardspiel brachen ab, die Gesichter nahmen einen steiferen Ausdruck an. Es war die Hymne der Besatzungsarmee, und die Klubmitglieder, Männer und Frauen, fühlten sich daran erinnert, dass sie Briten waren – Briten im Exil. Sie hatten ihr ein wenig Rührung zu danken und einen nützlichen Zuwachs an Willenskraft. Die dürftige Weise und die kurze Abfolge der an Jehova gestellten Ansprüche verschmolzen zu einem Gebet, wie es in England unbekannt war, und wenn die Teilnehmer am Gesang auch weder von der irdischen noch von der himmlischen Majestät eine deutliche Vorstellung hatten, so hatten sie gleichwohl irgendeine Vorstellung und fühlten sich so weit gestärkt, dass sie dem kommenden Tag mit Fassung ins Auge blicken konnten. Dann füllten sie die Gläser und boten sich gegenseitig etwas zum Trinken an.
»Adela – hier! Mutter – auch etwas!«
Die Angesprochenen lehnten dankend ab – sie hatten mehr als genug von drinks –, und Miss Quested, die immer geradeheraus sagte, was ihr in den Sinn kam, erklärte von Neuem, dass sie unbedingt etwas vom wirklichen Indien kennenlernen wolle.
Ronny war in bester Stimmung. Adelas Begehren mutete ihn komisch an, und er rief einem der in der Nähe Vorüberstreifenden zu: »Fielding! Wie kann man etwas vom wirklichen Indien kennenlernen?«
»Indem man Inder kennenzulernen sucht«, erwiderte jener und löste sich wieder in Luft auf.
»Wer war denn das?«
»Unser Schulmeister – vom Beamtenseminar.«
»Als ob man je vermeiden könnte, sie kennenzulernen«, seufzte Mrs. Lesley.
»Bisher habe ich es leider erfolgreich vermieden«, sagte Miss Quested. »Abgesehen von meinem eigenen Diener habe ich seit der Landung kaum mit einem einzigen Inder ein Wort gewechselt.«
»Oh, Sie Glückliche!«
»Aber ich möchte sie kennenlernen.«
Adela war nun der Mittelpunkt einer ganzen Gruppe belustigter Damen. »Sich zu wünschen, Inder kennenzulernen! Wie neu das klingt!«, sagte eine, und eine andere: »Eingeborene – man stelle sich vor!« Aber eine dritte, ernster gesinnte bemerkte: »Lassen Sie mich bitte erklären. Wenn wir mit Eingeborenen persönlich bekannt werden, heißt das noch lange nicht, dass sie uns deshalb auch mehr respektieren.«
»Was allerdings nicht nur im Fall von Eingeborenen gilt.« Aber die Sprecherin, so törichten wie freundlichen Herzens, fuhr fort: »Was ich sagen wollte – ich war vor meiner Heirat Krankenpflegerin und hatte beruflich eine ganze Menge mit Indern zu tun. Darum weiß ich Bescheid. Ich weiß, wie es sich mit Indern in Wahrheit verhält. Eine denkbar ungeeignete Stellung für eine Engländerin – ich war Krankenhausschwester in einem der indischen Fürstenstaaten. Die einzige Hoffnung, die mir blieb, war die, mich völlig abseits zu halten.«
»Selbst von den Patienten?«
»Das Beste, was man einem Eingeborenen antun kann, ist, ihn umkommen zu lassen«, erklärte Mrs. Callendar.
»Wenn er nun aber in den Himmel käme?«, fragte Mrs. Moore mit einem sanften, obschon etwas hinterhältigen Lächeln.
»Er kann hingehen, wo es ihm Spaß macht – Hauptsache, dass er nicht in meine Nähe kommt. Beim Anblick von Indern wird mir immer ganz anders.«
»Ich habe mir schon öfter Gedanken gemacht über das, was Sie in Bezug auf den Himmel sagen. Darum bin ich auch gegen die Missionare«, sagte die Dame, die einmal Krankenschwester gewesen war. »Ich bin durchaus für Militärgeistliche, aber gegen Missionare. Lassen Sie mich erklären.«
Aber bevor sie dazu ausholen konnte, griff der Verwaltungsdirektor wieder in die Unterhaltung ein.
»Möchten Sie wirklich den arischen Bruder kennenlernen, Miss Quested? Das lässt sich ohne Weiteres bewerkstelligen. Ich hatte keine Ahnung, dass Ihnen so etwas Vergnügen machen würde.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich kann Sie mit jedem erdenklichen Typus zusammenbringen. Sie brauchen mir nur zu sagen, mit welchem. Ich kenne die Leute, die mit der Regierung zu tun haben, und ich kenne die Großgrundbesitzer. Unser Freund Heaslop kann die Anwälte herbeibeordern, wogegen wir uns auf Fielding verlassen dürfen, wenn Sie es speziell auf das Erziehungswesen abgesehen haben sollten.«
»Ich bin es etwas müde, malerische Gestalten an mir vorüberziehen zu sehen, wie auf einem Wandelbild«, erklärte die junge Dame. »Beim Landen fanden wir alles so großartig, aber der oberflächliche Reiz stumpft bald ab.«
Ihre persönlichen Eindrücke waren für den Verwaltungsdirektor ohne jedes Interesse – es war ihm lediglich darum zu tun, ihr den Aufenthalt in Indien so angenehm wie möglich zu machen. Ob sie wohl Lust auf eine Bridge-Party hatte? Er erklärte ihr, was das war – nicht etwa das wohlbekannte Kartenspiel dieses Namens, sondern eine Party, die die Kluft zwischen Ost und West überbrücken helfen sollte. Er selbst hatte den Ausdruck geprägt, und dieser belustigte alle, die ihn zu hören bekamen.
»Ich möchte nur die Inder kennenlernen, mit denen Sie gesellschaftlich verkehren – Ihre Freunde.«
»Nun, gesellschaftlich verkehren wir eigentlich nicht weiter mit ihnen«, sagte er lächelnd. »Sie haben alle erdenklichen Tugenden, und trotzdem halten wir sie uns vom Leibe, und es ist nun halb zwölf, und also zu spät, die Gründe dafür aufzuzählen.«
»Miss Quested – was für ein Name«, bemerkte Mrs. Turton, als sie sich mit ihrem Mann auf der Rückfahrt befand. Sie hatte die junge Dame nicht gerade ins Herz geschlossen – in ihren Augen war sie unmanierlich und verschroben. Hoffentlich war sie nicht herübergeschleppt worden, um sich mit dem netten kleinen Heaslop zu verheiraten. Nur sah es leider so aus. Im Stillen pflichtete ihr Mann ihr bei. Aber er äußerte, wenn es sich irgend umgehen ließ, niemals ein böses Wort über eine Engländerin, und darum bemerkte er lediglich, Miss Quested hege natürlich gewisse irrige Vorstellungen. Er fügte hinzu: »Indien wirkt Wunder in Bezug auf das persönliche Urteil, vor allem zur heißesten Zeit des Jahres. Es hat auch bei Fielding Wunder gewirkt.« Bei Erwähnung dieses Namens schloss Mrs. Turton die Augen und erklärte, dass Mr. Fielding nicht pukka sei, und lieber solle er Miss Quested heiraten, denn sie sei gleichfalls nicht pukka. Dann langten beide an ihrem Bungalow an, der, niedrig und weitläufig, das älteste und unbequemste Haus in der ganzen Beamtensiedlung war und einen Rasenplatz hatte, der wie ein eingelassener Suppenteller aussah. Sie genehmigten sich noch einen weiteren drink, der freilich nur aus Sprudel bestand, und gingen dann zu Bett. Ihr Aufbruch vom Klub hatte dem Abend dort vorzeitig ein Ende gesetzt, der, wie alle ähnlichen Veranstaltungen, einen offiziellen Anstrich gehabt hatte. Eine Gemeinschaft, die vor einem Vizekönig das Knie beugt und des Glaubens ist, dass die einen König umgebende Göttlichkeit übertragbar sei, muss auch vor jedem vizeköniglichen Ersatz Ehrfurcht empfinden. In Tschandrapur waren die Turtons wie kleine Götter. Bald jedoch würden sie sich in irgendeiner Vorortvilla zur Ruhe setzen und, fern der Stätte ihrer einstigen Herrlichkeit, im Exil ihre Lebenstage beschließen.
»Es war doch sehr anständig von dem hohen Herrn«, schwatzte Ronny, der über die seinen Gästen erwiesene Liebenswürdigkeit sehr befriedigt war. »Wisst ihr, dass er bisher noch niemals eine Bridge-Party veranstaltet hat? Und für euch hat er sogar schon ein offizielles Essen gegeben. Ich wünschte, ich hätte selber etwas arrangieren können. Aber sobald ihr die Eingeborenen ein bisschen genauer kennt, werdet ihr verstehen, dass es für den Burra Sahib einfacher ist als für mich. Ihnen ist er ja kein Fremder – sie wissen auch, dass er sich nichts vormachen lässt –, und ich selber bin noch nicht lange genug im Lande. Kein Mensch darf sich einbilden, dieses Land zu kennen, wenn er nicht mindestens zwanzig Jahre hier gelebt hat. Ach, da ist ja Mutter! Hier ist dein Mantel. Tja – nur ein Beispiel für die Art Irrtümer, die man sich hier leistet. Kurz nachdem ich herübergekommen war, lud ich mal einen indischen Verteidiger ein, eine Zigarette mit mir zu rauchen – bitte schön, eine einzige Zigarette. Später kam ich dahinter, dass im ganzen Basarviertel jeder seiner Unterlinge diese Tatsache an die große Glocke hatte hängen und allen Prozesslustigen hatte versichern müssen: ›Oh, kommt nur zu meinem Vakil Mahmoud Ali – er ist gut Freund mit dem Richter!‹ Seitdem habe ich ihn mir vor Gericht immer besonders scharf vorgeknöpft. Jedenfalls war das Ganze eine Lektion für mich, und für ihn hoffentlich auch.«