Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

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Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union
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Domica Dreyer-Plum

Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

UVK Verlag · München

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Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen

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ISBN 978-3-8252-5346-2 (Print)

ISBN 978-3-8463-5346-2 (ePub)

Inhalt

  Für meine Eltern

  Abkürzungsverzeichnis

  1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

 2 Historische Grundlagen2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses2.1.1 Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik2.1.2 Die Grenz‑ und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten2.2.2 Schengen und Theorien europäischer Integration2.3 Zusammenfassung und Literatur

 3 Grenzpolitik der Europäischen Union3.1 Grenzen der Europäischen Union – Auflösung der Binnengrenzen3.1.1 Von Schengen-5 zu Schengen-263.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts3.2 Kompetenzen der Europäischen Union in der Grenzpolitik3.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Grenzpolitik3.2.2 Rechtsinstrumente zur gemeinsamen Steuerung der europäischen Grenzpolitik3.2.3 Frontex: Gründung, erste Einsätze und rechtliche Entwicklung der europäischen Grenzschutzagentur3.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Grenzpolitik3.3.1 Europäische Grenzpolitik (Schengener Grenzkodex)3.3.2 Europäische und nationale Visatitel3.3.3 Grenzschutz und Asyl: Einreise ohne Dokumente3.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Grenzpolitik3.4.1 Zur Lage an den Außengrenzen3.4.2 Grenzschutz und Kooperation an den Außengrenzen3.4.3 Zur Praxis der Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen3.5 Streit um die europäische Grenzpolitik seit 20153.6 Zusammenfassung und Literatur

 4 Asylpolitik der Europäischen Union4.1 Asyl: internationaler Schutz vor Verfolgung4.1.1 Was bedeutet Asyl?4.1.2 Genfer Flüchtlingskonvention und UNHCR: Internationale Konvention und Organisation zum Flüchtlingsschutz4.1.3 Die Bedeutung der Genfer Flüchtlingskonvention für den europäischen Asylschutz4.2 Komptenzen der EU in der Asylpolitik4.2.1 Die europäischen Verträge und das Mandat für eine europäische Asylpolitik4.2.2 Prägende Rechtsinstrumente der gemeinsamen Asylpolitik4.3 Geltende Bestimmungen in der europäischen Asylpolitik: Gemeinsames Europäisches Asylsystem4.3.1 Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens: die Dublin-Verordnung4.3.2 Verpflichtungen der europäischen Staaten beim Umgang mit Asylsuchenden: die Aufnahmerichtlinie4.3.3 Gemeinsame Regeln bei der Begutachtung eines Asylantrags: die Verfahrensrichtlinie4.3.4 Kriterien für internationalen Schutz: die Anerkennungsrichtlinie4.4 Aufgaben und Kompetenzen der Mitgliedstaaten in der Asylpolitik4.4.1 Zahlen zu Asyl4.4.2 Dublin-Transfers und Ausgleichsmechanismen4.4.3 Divergierende nationale Asylpolitik trotz gemeinsamer Standards4.5 Streit um die europäische Asylpolitik seit 20154.5.1 Krisensituation im Sommer 20154.5.2 Politischer Streit um die europäische Asylpolitik seit 20154.6 Zusammenfassung und Literatur

  5 Schlussbetrachtung und Ausblick: Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

  6 Literatur

  Register

Für meine Eltern

Abkürzungsverzeichnis


Abs. Absatz
AEMR Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
EASO Unterstützungsbüro für Asylfragen (Agentur)
EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (auch: Europäische Menschenrechtskonvention)
endg. endgültig
EP Europäisches Parlament
Eurojust Justizbehörde der Europäischen Union (Agentur)
Europol Stafverfolgungsbehörde der Europäischen Union (Agentur)
EU Europäische Union
EuGH Gerichtshof der Europäischen Union
EUV Vertrag über die Europäische Union
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
FRA Fundamental Rights Agency, dt. Grundrechtsagentur
Frontex Grenzschutzagentur (Agentur, von frz.: frontières extérieures)
GFK Genfer Flüchtlingskonvention
iVm in Verbindung mit
k.A. keine Angabe
lit. Buchstabe
KOM Kommission
mwN mit weiteren Nachweisen
SDÜ Schengener Durchführungsübereinkommen
SIS Schengen-Informationssystem
UAbs. Unterabsatz
UNO United Nations Organization, dt.: Vereinte Nationen
UNHCR United Nations High Commissioner for Refuees, dt: Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
VIS Visa-Informationssystem

1 Einführung: Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

Flucht, Asyl und Migration sind keine nationalen oder europäischen, sondern globale Themen, die Fragen globaler Gerechtigkeit betreffen und liberale Demokratien mit der Frage konfrontieren, ob individuelle Rechte (Asyl) oder staatliche Souveränität (Grenzschutz) Vorrang erhalten.

 

Flucht, Asyl und vor allem Schutzgewährung sind mit der Zuwanderung im Jahr 2015 von mehr als 1 Mio. Menschen nach Europa – und vor allem nach Deutschland und Schweden – zu Topthemen der Tagespolitik geworden. Rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und der Front National (seit 2018: Rassemblement National) in Frankreich nutzen bewusst fremdenfeindliche Parolen, um ihre Wählerschaft in diesem Segment zu gewinnen. Demgegenüber stehen PolitikerInnen und BürgerInnen, die eine humanitäre Asylpolitik im Sinne rechtsstaatlicher Grundwerte einfordern. Seit 2015 ist die Asylpolitik nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene eine Streitfrage mit dem Potenzial, Gesellschaften zu spalten.

Asylpolitik ist unter den geltenden rechtlichen Bestimmungen immer auch Grenzpolitik, weil es bisher nicht möglich ist, ein Visum zu beantragen, um in einem europäischen Land wegen politischer oder religiöser Verfolgung Schutz zu suchen. Daher ist die irreguläre Einreise unter Nutzung von Schleusernetzwerken oft die einzige Möglichkeit für Asylsuchende, unter Umgehung der geltenden Einreisebestimmungen nach Europa zu gelangen.

Die Politikfelder Grenze und Asyl sind in der Justiz- und Innenpolitik angesiedelt und liegen teilweise in der Kompetenz der Europäischen Union, teilweise in mitgliedstaatlicher Souveränität. In jedem Fall erfolgt die Umsetzung des Unionsrechts1 in den Mitgliedstaaten durch deren Behörden und Akteure.

Während die Kontrolle der Außengrenzen prinzipiell in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, so unterliegen die Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Schengener Rechtsprinzipien, die die Offenheit der Grenzen zur Gewährleistung des freien Personen- und Warenverkehrs vorsehen. Die Asylpolitik ist stärker europäisiert als andere Politikfelder und dennoch divergieren sowohl die Asylentscheidungen zwischen Mitgliedstaaten als auch die Leistungen gegenüber Asylsuchenden erheblich.

Aus diesen Beobachtungen ergeben sich allerlei Fragen: Wer sind die entscheidenden Akteure in der europäischen Grenzpolitik respektive Asylpolitik? Welche Verantwortung trägt die Europäische Union (EU) und welche Kompetenzen sind ihr zur Gestaltung der Außengrenzschutz- und Asylpolitik übertragen worden? Welche Möglichkeiten haben die Mitgliedstaaten, die europäische Politik mitzugestalten? Durch welche Rechtsinstrumente haben die europäischen Institutionen bisher die Grenz- und Asylpolitik geprägt? Welche Regeln gelten und welche Bedeutung haben sie in der Asylschutzkrise seit 2015?

Ziel dieses Lehrbuchs ist es, einen Überblick über die bestehenden europäischen Regeln in den Bereichen der Grenz‑ und Asylpolitik zu geben. Dabei wird es wichtig sein, den engen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen aufzuzeigen und die Kompetenzverwebungen zwischen nationaler und europäischer Ebene aufzuzeigen.

Zunächst widmen wir uns dem historischen und politischen Hintergrund der Vergemeinschaftung europäischer Grenz‑ und Asylpoiltik, die wesentlich im Integrationsprojekt Schengen begründet liegt (Kapitel 2). Darauf folgt eine genaue Betrachtung der Grenzpolitik mit einem Blick auf politische Ziele und praktischen Grenzschutz, Einreisebestimmungen und Konflikte (Kapitel 3). Dem folgt eine Auseinandersetzung mit der Asylpolitik (Kapitel 4) anhand folgender Fragen: Was bedeutet Asyl? Seit wann bestimmt die Europäische Union über europäische Asylpolitik? Mit welchen Mitteln wird Asylpolitik gestaltet? Was ist der Kern des politischen Streits um europäische Asylpolitik? Im Schlusskapitel (Kapitel 5) werden die wichtigsten Antworten auf die aufgeworfenen Fragen festgehalten.

2 Historische Grundlagen

Die europäische Grenz‑ und Asylpolitik ist ebenso wie andere Politikfelder erst im Laufe der europäischen Integrationsgeschichte in die Gemeinschaftspolitik hineingewachsen. Als wesentliche Erklärung für die schrittweise Vergemeinschaftung der Grenz‑ und Asylpolitik gilt der Kooperationsbeginn im sogenannten Schengenraum1 in den 1980er Jahren. Der politische Wille zur Realisierung einer der Grundfreiheiten der Römischen Verträge – freier Personenverkehr (Art. 3 Abs. c EWG-Vertrag) – leitete zunächst Deutschland und Frankreich an, in Kooperation mit den Benelux-Staaten die Öffnung ihrer Binnengrenzen zu verwirklichen. In diesem Kapitel wird in das Thema eingeführt, indem der Beginn der politischen Zusammenarbeit in Grenz‑ und Asylfragen skizziert (Kapitel 2.1) und die Grenz‑ und Asylpolitik als typisches Beispiel für europäische Integrationsprozesse besprochen werden (Kapitel 2.2).

2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses

Mit dem Begriff europäischer Integrationsprozess ist die Entwicklung der europäischen Rechtsgemeinschaft gemeint, die in den 1950er Jahren begonnen und bis heute nicht abgeschlossen ist. Im Jahr 1952 unterzeichneten sechs europäische Staaten einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und StahlEuropäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der die transnationale Zusammenlegung dieser kriegsintensiven Märkte vorsah.

Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg erhofften sich in der Nachkriegszeit von dieser Zusammenarbeit einerseits die Rückgewinnung des Vertrauens ineinander, andererseits bestimmte der wirtschaftliche Wiederaufbau die politische Agenda der Gründerstaaten. Die Zusammenarbeit in den Industriezweigen Kohle und Stahl sollte wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand generieren. Dieses Anliegen hielten die Unterzeichner auch in der Präambel des Vertrags fest. Ihr Ziel war es „durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschtitt der Werke des Friedens beizutragen“ und zeigten sich

„entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß [sic!] ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errrichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen“ (EGKS-Vertrag, Präambel).

Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige internationale Behörde (Hohe Behörde) war mit der Aufgabe betraut, die Ziele des Vertrags durch Verwaltungsakte zu verwirklichen. Kontrolliert wurde diese Behörde durch einen Rat, in dem die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten waren; sowie durch eine parlamentarische Versammlung, in die gewählte Abgeordnete der nationalen Parlamente für die jährliche Sitzungsperiode entsandt wurden.

Die folgenden knapp 70 Jahre seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – die auch als Montanunion bezeichnet wird – sind gleichermaßen geprägt durch Prozesse der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft. Die Aufnahme neuer Mitgliedsländer hat die Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf 28 Mitgliedstaaten wachsen lassen. Zur Vertiefung zählt die wachsende Zuständigkeit der europäischen Gemeinschaft in immer mehr Politikfeldern und gleichzeitig die Intensivierung der Zusammenarbeit.

Die Kooperationsbereiche wurden zunächst auf einen gemeinsamen Markt ausgedehnt (Römische Verträge, 1957 unterzeichnet, 1958 in Kraft getreten), dann um Kooperationen im Bereich Forschung und Technologie, Umwelt, Sozialpolitik, Außen­‑ und Sicherheitspolitik erweitert (Einheitliche Europäische Akte, 1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten). Die Justiz- und Innenpolitik, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Wirtschafts‑ und Währungsunion sind in den 1990er Jahren hinzugetreten (Maastrichter Vertrag, unterzeichnet 1992, in Kraft getreten 1993). Alle Verträge und Reformen gehen in den 2007 unterzeichneten und 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ein.

Immer mehr Politikfelder liegen nun in der ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen UnionZuständigkeit der Europäischen Union, darunter gemäß Art. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Zollunion, Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt, Währungspolitik, Handelspolitik. In weiteren Bereichen teilen sich die Europäische Union und die Mitgliedstaaten die Kompetenzen, darunter gemäß Art. 4 AEUV: Binnenmarkt, Sozialpolitik, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, Energie, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Forschung und Technologie. Schließlich gibt es Bereiche, in denen die Europäische Union die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unterstützt und koordiniert, darunter gemäß Art. 6 AEUV: Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Verwaltungszusammenarbeit.

Doch auch die institutionelle Organisation unterlag tiefgreifenden Veränderungen. Von einer technokratischen Struktur der Montanunion (1952/1953), die zunächst ganz auf die Hohe Behörde (heute: Europäische Kommission) ausgerichtet war, wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) ein System geschaffen, das die exekutiven Regierungsvertreter im Rat zu den Entscheidungsträgern der Gemeinschaft machte. Es folgte die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments (1979) und seit der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem Kooperationsverfahren die stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Gesetzgeber. Seit dem Lissabonner Vertrag (2009) sind Rat und Parlament in den meisten Politikbereichen gleichberechtigte Gesetzgeber. Europäische Politikentwicklung basiert nun überwiegend auf Vorschlägen der Kommission, die vom Rat der EU und vom Europäischen Parlament gelesen, geändert und beschlossen werden. Immer mehr Entscheidungen werden nun durch qualifizierte Mehrheiten statt nach dem lange im Rat dominierenden Einstimmigkeitsprinzip verabschiedet.

Fragen zu Grenzen und Asyl rückten ab den 1980er Jahren im Zuge der Schengen-Politik (ab 1984) und der Neuausrichtung der europäischen Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1985-1987) auf die Agenda der europäischen Politik.

Formal fällt die Grenz‑ und Asylpolitik unter die Justiz‑ und Innenpolitik eines Staates. Es handelt sich um eine der Kernkompetenzen des Staates, schließlich bedeutet die Kontrolle über die Einreise die Kompetenz, darüber zu entscheiden wer sich im Land aufhalten darf. Damit wird – gerade bei langfristigen Aufenthaltstiteln – auch über die Komposition der Gemeinschaft entschieden.

Unter diesen Vorzeichen ist es geradezu revolutionär, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen die Grundfreiheiten der Römischen Verträge von 1957 – freier Waren-, Dienstleistungs- Personen- und Kapitalverkehr – verwirklichten, indem sie Kontrollen an den gemeinsamen Landesgrenzen abschafften und zuließen, dass die Außengrenzen der kooperierenden Staaten zu Außengrenzen der Schengengemeinschaft und damit zu gemeinsamen Außengrenzen wurden.

2.1.1 Grenz- und Asylpolitik als Teil europäischer Justiz- und Innenpolitik

Grenz- und Asylpolitik werden klassischerweise dem Innenressort zugeordnet. Dies ist auch auf europäischer Ebene nicht anders. Doch die Bezeichnung entspricht nicht dem üblichen Sprachgebrauch: Im Vertrag von Lissabon wird die Innen- und JustizpolitikInnen- und Justizpolitik der Europäischen Union unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusammengefasst. Dazu zählen die Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung, justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen sowie polizeiliche Zusammenarbeit (Kapitel 1-5 des Titels V, AEUV).

Die Politikfelder Grenze, Asyl und Einwanderung werden zwar gleichrangig aufgelistet, es gibt allerdings erhebliche Unterschiede bei den Kompetenzzuweisungen zwischen nationaler und europäischer Ebene. Während die Binnengrenzenpolitik ein Gemeinschaftsfeld ist, bleibt der Außengrenzschutz in der Souveränität der jeweiligen Mitgliedstaaten.

In der Einwanderungspolitik gibt es lediglich vereinzelte gemeinsame Ansätze wie die Blaue Karte, die hochqualifizierten Arbeitskräften den Aufenthalt im europäischen Raum für mehr als drei Monate ermöglichen soll (Richtlinie 2009/50/EG v. 25.5.2009). Überwiegend bleibt die Einwanderungspolitik jedoch in der Domäne der Mitgliedstaaten und ist dort als innenpolitisches Streitthema bekannt. Ebendiese politische Brisanz auf nationaler Ebene macht eine Europäisierung bis auf weiteres undenkbar.

 

Die Asylpolitik ist von den drei Bereichen das am weitesten entwickelte europäische Politikfeld. Von 1999 bis 2013 ist in zwei Etappen ein umfassendes Regelwerk entstanden, das alle Schritte eines Asylverfahrens von der Antragstellung bis zu den Rechten als anerkannter Flüchtling festlegt. Doch wie jedes europäisierte Politikfeld bleibt auch die Asylpolitik davon abhängig, dass die Mitgliedstaaten die Vorgaben vor Ort gewährleisten.

Die Europäisierung dieser Bereiche variiert also stark. Grenzschutz und Einwanderungspolitik liegen weiterhin in nationaler Verantwortung und werden auf europäischer Ebene lediglich koordiniert. Die Asylpolitik hingegen ist ein europäisches Thema. Hinzu kommt die Koordinierung der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Daraus ergibt sich die Agenda der Innen- und Justizminister bei ihren regelmäßigen Tagungen im Rat der EU. Die politischen Leitlinien in diesem Politikfeld werden vom Europäischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten festgelegt (Art. 68 AEUV).