Persönlichkeit führt

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1.6 Wie Ich und Selbst zusammenarbeiten

Die Funktion des Ich

In der Tausendfuß-Geschichte kommt das Ich ziemlich schlecht weg. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Das Ich stiftet natürlich auch Nutzen – sonst hätte es sich in der Evolutionsgeschichte nicht entwickeln können. Die vom Ich ermöglichte Einsicht befähigt uns Menschen, unser Verhalten an jede konkret vorliegende Problemsituation individuell anzupassen, während unsere entfernten Vorfahren nur mit vergleichsweise starren und groben angeborenen Verhaltenschemata antworten konnten.

»Kanalenge« des Ich

Allerdings ist unser Bewusstseinsfenster ziemlich schmal – im Zentrum unserer bewussten Aufmerksamkeit haben immer nur wenige Dinge gleichzeitig Platz. Komplexe Verhaltensweisen können deshalb vom Ich nicht bewusst gesteuert werden. Wir können zwar unseren Zeigefinger unter der Kontrolle des Bewusstseins in einem bestimmten Winkel krümmen. Aber denken Sie einmal an einen Ski-Abfahrtslauf, wo wir Hunderte von Muskeln blitzschnell und gleichzeitig koordinieren müssen. Damit wäre unser bewusstes Ich überfordert.

Das Selbst als Hauptquelle komplexen Verhaltens

Komplexe Verhaltensweisen müssen schrittweise erlernt werden und können nur dann schnell und gekonnt ablaufen, wenn sie automatisiert dem Selbst entspringen (statt »automatisiert« sollte man besser von »selbstorganisiert« sprechen). Wie die Abbildungen 2b und c zeigen, kommt dabei der Hauptverhaltensoutput aus dem Selbst, während das bewusste Ich nur einige wenige Schlüsselvariablen des Verhaltensprozesses im Auge behalten kann. Beim Ski-Abfahrtslauf wäre das zum Beispiel die vorausschauende Wahl des Kurses.

Dasselbe gilt auch für komplexes Verhalten in anderen Situationen: beim Halten eines Vortrags, bei der Leitung einer Konferenz oder beim lockeren Herumschwirren zwischen den Gästen einer Party. Je besser Sie die Spezialinhalte beherrschen, die Leute kennen und je mehr Allgemeinwissen Sie haben, desto besser. Dann können Sie den engen Fokus Ihrer Aufmerksamkeit voll auf die Gesichter der Zuhörer beziehungsweise Gäste konzentrieren und die passenden Inhalte entfalten sich spontan aus Ihrem Selbst heraus.

Abb. 2: Grundmodi der Verhaltensregulation: a) Stress, b) bewusstes Lernen, c) Flow

Bewusstes Lernen

Abbildung 2b entspricht dabei der Situation, in der komplexes Verhalten erlernt wird: Wir trainieren in relativ langsamer Fahrt einen bestimmten Skischwung auf dem »Idiotenhügel« oder wir üben unseren Vortrag, was noch etwas stockend geht, weil wir immer wieder bewusst über Auswahl und Formulierung der Inhalte nachdenken müssen. Das Selbst macht dabei eine Vielzahl von Vorschlägen in Form von Verhaltensbausteinen, die per psychoneuraler Selbstorganisation erzeugt werden (»Einfälle«, »Eingebungen«). Das Ich wählt sie mit dem Vernunftauge aus und setzt sie mithilfe des Synergieohres zusammen.

Flow

Mit zunehmender Übung unter Leitung des Synergieohres geraten wir dann immer näher an den Flow-Zustand heran, den Abbildung 2c zeigt. Das Ich kann sich zurückziehen und das Verhalten ganz dem Selbst überlassen: gelingendes Tun in Ich-Vergessenheit und Selbstvertrauen. Doch der Flow-Zustand ist oft instabil und störanfällig: Schlechte Form, überzogene Leistungserwartungen, aufkeimende Selbstzweifel oder ungünstig veränderte Außenbedingungen können schnell dazu führen, dass wir wieder in den Normalzustand b zurückfallen.

Gefahren

Erweisen sich die Probleme als hartnäckig, entsteht Gefahr: Das Ich kommt nun in die Versuchung, den Gesamtprozess unter seine bewusste Kontrolle bringen zu wollen: Hyperreflexion (Überkontrolle, übermäßige Selbstbespiegelung) und Hyperintention (verkrampftes Erzwingenwollen) sind die Folgen. Aufgrund seiner geringen »Kanalkapazität« verbessert das aber nicht die Performance. Im Gegenteil: Das Verhalten wird immer stockender und die Leistung sinkt.

Die Stressblockade

Nun entstehen auf vielen Ebenen Teufelskreise: Die erwähnte Stressreaktion springt an und führt über den »Tunnelblick« zu einer weiteren Verengung der Kanalbreite. Negative Gefühle und negative Gedanken steigern sich wechselseitig immer weiter in eine negative Richtung: Selbstbeschimpfungen und Katastrophengedanken erzeugen Ärger, Wut oder Angst – und diese Gefühle fördern dann wieder das Negativdenken. Der innere Druck steigt, das Ich bläht sich, bildlich gesprochen, auf und erdrückt zunehmend das Selbst. Immer mehr Feinfunktionen des Selbst blockieren. Als Folge des Tunnelblicks und der teilweise nach innen gerichteten Aufmerksamkeit lassen Wahrnehmung und Sensibilität nach außen nach. Die Handlungskompetenzen werden gehemmt bis hin zur totalen Blockierung im Tausendfuß-Syndrom. Spätestens jetzt stürzt der Ski-Abfahrtsläufer, der Redner oder Konferenzleiter beginnt zu stottern, verhaspelt sich und verliert unter Erröten gänzlich den Faden. Diese Entwicklung wird in Abbildung 2a gezeigt.

1.7 Persönlichkeitsentwicklung und chronisches Dysstress-Syndrom

Zugleich lassen sich an unseren drei Schemata einige Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung verdeutlichen. Wie unsere tierischen Vorfahren sind insbesondere kleinere Kinder oft im Flow-Zustand, wie ihn Abbildung 2c zeigt. Spontan und unbekümmert handeln sie drauflos. Doch allmählich wächst das Ich: Das Kind vergleicht sich selbst mit anderen, es wird von anderen bewertet und bekommt Normvorgaben von Eltern und Lehrern, an denen es sich selbst misst.

Der Vergleich als zweischneidiges Schwert

Naturgemäß lauern hier Gefahren: Es ist nicht schwer, diese Vergleiche und Bewertungen sehr zu den eigenen Ungunsten ausfallen zu lassen. Natürlich verfügten wir im Jugendalter in vielen Bereichen über weniger Kompetenz als die bewunderten Stars der Erwachsenenwelt. Außerdem mangelte es uns in diesem Alter noch an eigenen Wertmaßstäben, sodass wir geneigt waren, die Normvorgaben der Autoritäten für bare Münze zu nehmen. Der Abstand zu unseren unrealistischen Idealvorstellungen war riesengroß und entsprechend gewaltig war der Veränderungsdruck, den wir uns auferlegten. Eine ideale Situation für das Ingangkommen der beschriebenen Teufelskreise, die dann in die Ich-Krise der Pubertät führen. Gern entwickeln sich jetzt leichte psychische Störungen wie soziale Ängste (von denen sich dann durchaus psychische Erkrankungen herleiten können, insbesondere nach dem Hinzutreten traumatisierender Erlebnisse).

Das Dysstress-Syndrom infolge überzogener Ansprüche

Bei den meisten Menschen geht das Älterwerden dann mit zweierlei einher: mit einer Relativierung allzu harter Anforderungen an sich selbst und dem Kompetenzzuwachs in vielen Bereichen. Dies bringt das Ich zum Abschwellen und das Selbst zum Wachsen, womit wir uns zumindest in den Normalzustand von Abbildung 2b bewegen. Hier allerdings bleibt die Entwicklung dann oft stecken. Viele Menschen fühlen sich Zeit ihres Lebens unter Veränderungs- und Leistungsdruck Sie haben das Gefühl, nicht gut genug zu sein, taxieren angstvoll ihre Leistung und ihren Wert im Urteil der anderen, stehen unter Spannung und haben ständig das Gefühl, nicht genug geschafft zu haben. Zeiten der Entspannung im Nichtstun oder im Flow sind eher selten. Ein solches chronisches Dysstress-Syndrom ist unfunktional. Es steigert nicht die Leistung, sondern untergräbt sie. Es verdirbt die Stimmung und immer besteht die Gefahr, dass das Ganze in eine Angsterkrankung und/oder eine Depression »umkippt«.

Hier kommt wieder die Psychosynergetik ins Spiel. Sie möchte Menschen dabei helfen, ihre Flow-Potenziale zu stärken, um sich, wie in Abbildung 2 gezeigt, mehr von b nach c zu bewegen.

Der Prozess der inneren Befreiung zielt auf die Entblähung des Ich, der Prozess des inneren Wachstums auf die Stärkung und Vergrößerung des Selbst.

1.8 Wie aus Schmerz Leid wird

Auch starken Schmerz kann man ausblenden

Habe ich Ihnen eigentlich schon von meinem letzten Skiurlaub erzählt? Ich konnte dabei einige wichtige psychologische Erkenntnisse noch einmal sehr eindrucksvoll am eigenen Leib nachvollziehen. Gleich am ersten Tag stürzte ich heftig und zog mir ein dickes, handflächengroßes Hämatom über der rechten Hüfte zu (dessen Ausläufer dann in den nächsten Wochen bis hinab in die Kniekehle wanderten). Glauben Sie mir – das waren richtig starke Schmerzen, bei jeder Bewegung des Beines, beim Drehen im Bett und vor allem beim Sitzen. Das Merkwürdige aber war: Diese starken Schmerzen haben mich in meiner Stimmung praktisch nicht beeinträchtigt. Das Wetter war hervorragend, die mitgereisten Leute unterhaltsam. Ich war oft abgelenkt. Beim Skifahren spürte ich die Schmerzen überhaupt nicht, sie waren tatsächlich zu 100 Prozent ausgeblendet.

 

Am meisten schmerzt die Angst

Am vierten Tag dann wachte ich mit einem ganz leichten Schmerz im linken Knie auf. Das nun verdarb mir sofort die Laune, und zwar mächtig. Ständig bewegte ich das Knie hin und her: Tut es immer noch weh? Ja – verdammt! Ich grübelte herum: Kann ich damit weiterfahren? Gewöhnt sich das Gelenk an die Belastung oder wird es schlimmer? Ruiniere ich mir am Ende das ganze Knie? Ist der Skiurlaub für mich jetzt zu Ende? Werde ich womöglich gar nicht mehr Skifahren können? Nein – bis zum Rollstuhl trieb ich meine Sorge nicht. Schließlich entschied ich mich missmutig für einen Pausentag. Alle anderen haben jetzt Spaß beim Fahren – nur ich nicht .

Die gedankliche Verarbeitung entscheidet

Der Kontrast hätte größer und eindrucksvoller nicht sein können. Unter einem wirklich starken Schmerz litt ich praktisch überhaupt nicht, während ein sehr viel geringerer Schmerz starkes Leiden bei mir verursachte. Das macht eines sehr deutlich: Unsere Gefühlsreaktionen auf äußere und innere Ereignisse hängen offenbar stark davon ab, wie wir gedanklich damit umgehen. Von dem Hämatom-Schmerz wusste ich sicher, dass er harmlos ist, keinerlei Schonung erforderlich macht und sich das Ganze vollständig ohne jede Nachwirkung zurückbilden wird.

Ungewissheit erzeugt Angst

Bei dem leichten Knieschmerz war das ganz anders. Das Knie ist für das Skifahren und die Fortbewegung insgesamt ein ebenso zentrales wie verletzliches Körperteil. Aufgrund meiner mangelnden orthopädischen Erfahrung war ich mir hinsichtlich der Bedeutung der Schmerzen und der nötigen Konsequenzen für mein Verhalten unklar. Es hätte doch sehr unangenehme Folgen haben können, etwas Falsches zu tun. Entsprechend kam es zu einer übermäßigen Beachtung des Schmerzes (Hyperreflexion), zu katastrophisierenden Zukunftsgedanken und gefühlsmäßig zu einer Mischung aus Ärger und Angst. All dies gab diesem kleinen Schmerz viel Raum, verstärkte ihn in Teufelskreisen und erzeugte zusätzliche negative Gefühle. Was lernen wir daraus?

Leid ist ein im Spiegelkabinett des Bewusstseins durch das Denken vervielfachter Schmerz. Wenn wir diese Prozesse besser verstehen und beherrschen lernen, können wir viel unnötiges Leid vermeiden.

1.9 Die Lücke zwischen Reiz und Reaktion: die kognitive Modulation unserer Erbgefühle

Gedanken verändern Gefühle

Offenbar reagieren wir Menschen nicht mehr mit reflektorischer Zwangsläufigkeit auf Empfindungen oder Wahrnehmungen. Zwischen Reiz und Reaktion hat sich das Denken geschoben. Von dessen Art und Inhalt hängt es nun entscheidend ab, welche Gefühls- und Verhaltensreaktion auf den Reiz erfolgt. Natürlich betrifft das nicht nur Innenreize (wie im Beispiel in Form von Schmerz), es betrifft ebenso alle Außenwahrnehmungen.

Stellen Sie sich vor, Sie hängen über einer tiefen Schlucht. Sind Sie als reiner Freizeitkletterer bei einer Bergwanderung abgerutscht und schweben frei, dann wird die Angst Sie überwältigen. Sind Sie aber Profikletterer, kennen Ihre Kompetenzen und wissen sich gut angeseilt, dann wird es Ihnen leichtfallen, die Angst zu beherrschen. Oder: Sollte Sie Ihr Chef auf einmal nicht mehr grüßen, dann wird das Maß der aufkeimenden Sorge entscheidend davon abhängen, wie Sie Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt einschätzen.

Kognitive Modulation

Selbst wenn sie durch real vorhandene angeborene Auslöser hervorgerufen werden – wie stark unsere Erbgefühle im Erleben wirklich werden, hängt von unserer Sichtweise, von unserer gedanklichen Interpretation und Bewertung der Situation ab. Diesen Vorgang der gedanklichen Beeinflussung wollen wir als kognitive Modulation unserer Erbgefühle bezeichnen. Vorstellbar sind verschiedene Situationen:

Varianten

• Wir können real begründete negative Erbgefühle abschwächen und unter Kontrolle halten.

• Wir können völlig unbegründete negative Gefühle erzeugen und in ihrer Bedeutung steigern.

• Wir können positive Gefühle von innen heraus quasi aus dem Nichts erzeugen – z.B. durch bewusstes positives Tagträumen.

• Wir können uns das Genießen von außen induzierter positiver Gefühle vermiesen (z.B. wenn wir während eines Essens in einem Sterne-Restaurant negative Erinnerungen zulassen).

Der am theoretischen Hintergrund interessierte Leser kann sich zu den Themen Konditionierung, Gewöhnung und kognitive Modulation im Exkurs I näher informieren.

Wenn das Denken eine so wichtige Rolle bei der Regulation unseres Befindens spielt, müssen wir uns mit Natur, Möglichkeiten und Grenzen von Denken und Erkenntnis genauer auseinandersetzen.

1.10 Die Natur von Denken und Erkenntnis: Evolutionäre Erkenntnistheorie und Konstruktivismus

Die Grundannahmen des Alltagsdenkens …

Bestimmte Grundtatsachen unserer Existenz scheinen derart sonnenklar, dass viele Menschen sie niemals hinterfragen: Die Welt da draußen vor meinen Augen, die existiert doch objektiv und völlig unabhängig von mir selbst. Die anderen Menschen, die sind doch wie ich, sie haben Augen, Ohren und Nasen. Dann werden sie wohl auch die Welt genau so wahrnehmen und erleben wie ich – wie sollte es denn anders sein?

Und die westliche Wissenschaft – kann sie nicht inzwischen alles in seine kleinsten Bestandteile aufspalten und kann sie mit ihren Teleskopen nicht Äonen von Lichtjahren weit hinein ins All schauen? Ist das, was diese Wissenschaft zutage bringt, nicht ewige und absolute Wahrheit? Und wenn diese Wissenschaft immaterielle Dinge wie Seele oder Gott nicht auffinden kann, dann existieren sie wohl auch nicht.

… sind nichts als Illusionen

Schritt für Schritt zu verstehen, dass all dies Illusionen sind, habe ich als das spannendste intellektuelle Abenteuer meines bisherigen Lebens empfunden, aber auch als das schwierigste. Die sehr komplexen Hintergründe dieser Probleme kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich besprechen. Stattdessen möchte ich drei Gleichnisse mit Ihnen diskutieren, die zumindest annähernd deutlich machen, was die moderne Erkenntnistheorie heute weiß. Diese modernen Theorien heißen Evolutionäre Erkenntnistheorie und (Radikaler) Konstruktivismus, – was ich Ihnen jetzt darlege, entspricht einer Kombination dieser beiden Ansätze. Sollte Sie das nicht völlig überzeugen, aber neugierig machen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, sich einmal mit ausführlicheren Darstellungen dieser Theorien zu befassen (in Hansch 2004 finden Sie eine ausführliche und integrierte Darstellung dieser Themen, etwas kürzer auch in Hansch 2006, siehe auch die Literaturempfehlungen in diesem Buch).

1.10.1 Das Instrumentenflug-Gleichnis

Moderne Flugzeuge fliegen auch dann weiter, wenn sich die Piloten bei Nacht oder Nebel nicht mehr zuverlässig durchs Kabinenfenster orientieren können. Das Cockpit enthält für all die Daten Instrumente und Anzeigen, die für einen sicheren Weiterflug erforderlich sind, unter anderem: Höhen- und Geschwindigkeitsmesser, Raumlage des Flugzeuges und Position in Bezug auf eine Karte, Radar für Hindernisse, Treibstoffanzeige.

Die Flugzeugkonstrukteure wollten es so den Piloten ermöglichen, sicher weiterzufliegen – ohne Kursabweichungen, Kollisionen oder Bruchlandungen. Dafür genügen relativ wenige Zahlen und Symbole. Der Informationsgehalt dieser Zahlen und Symbole ist, verglichen mit dem, was die volle Sicht durchs Kabinenfenster bietet, natürlich sehr viel geringer. Stellen Sie sich nun vor, ein fensterloses Flugzeug würde sich jahrzehntelang auf einem ununterbrochenen, luftbetankten Instrumentenflug befinden. Die im Flugzeug geborenen Pilotengenerationen könnten sich überhaupt kein Bild mehr von der Außenwelt machen. Das Cockpit mit seinen Instrumentenanzeigen wäre die einzige Wirklichkeit, die sie kennen.

Was ist Wirklichkeit?

Sie würden versuchen, die Symbole und Anzeigen samt ihrer korrelierten Veränderungen irgendwie sinnvoll zu deuten. Dabei würden sie fantastische Vorstellungen zusammenkonstruieren, die mit der Realität außerhalb des Flugzeuges wenig zu tun hätten. Manche von ihnen würden sagen: Die Zahlen und Symbole samt unserer Vorstellungen über ihre Bedeutung – das ist alles, was es gibt. Hämisch würden einige besonders Schlaue in die Runde fragen: Oder hat jemand von euch je etwas anderes gesehen?

Die Psyche als Cockpit

Nun, ob Sie es glauben oder nicht – auch unsere Existenz im Universum gleicht einem solchen Instrumentenflug in einem Flugzeug, in das wir hineingeboren wurden und dass wir nicht verlassen können. Das Flugzeug entspricht in diesem Gleichnis unserem Körper samt seinem Gehirn, die Instrumente stehen für unsere Sinnesorgane und das Cockpit-Innere samt den Instrumentenanzeigen gleicht unserer subjektiven Wirklichkeit – jener Welt, die uns von unseren Sinnesorganen präsentiert wird und die wir gleich den eingeborenen Piloten für die einzige und vollständige Welt zu halten geneigt sind.

Was unsere Sinnesorgane leisten

Aber das ist ein Irrtum, eine Illusion, die sich uns im Alltag mit großer Macht aufdrängt. Unsere subjektive Wirklichkeit ist eingebettet in eine äußere Realität, die unendlich viel komplexer und reicher ist. Wie die Flugzeugingenieure hat die Evolution unsere Sinnesorgane nicht konstruiert, um uns diese Realität möglichst vollständig zu zeigen. Sie hat uns nur so viele Sinnesinstrumente eingebaut, wie zum Überleben in unserer Nische notwendig ist.

Die Realität hat viel mehr Eigenschaften, als unsere Sinne erfassen

So verfährt die Evolution auch bei anderen biologischen Arten. Die erdlebenden Würmer etwa haben keine Augen, da es dort unten kein Licht gibt. Und so, wie ein im Museum gezeigtes Flugzeug keine Elektronik mehr braucht, haben auch die unbeweglichen Pflanzen gar nicht erst Nervensysteme eingebaut bekommen. Anders herum gibt es aber auch Tierarten, deren Augen, Ohren oder Nasen sehr viel sensibler sind als die unseren, weil sie dies für ein Überleben in ihrer Nische brauchen – denken Sie an das Geruchsuniversum, in dem die Schmetterlinge leben. Auf eine Vielzahl von Phänomenen, für die wir keine Sinnesorgane haben, ist die Wissenschaft zufällig gestoßen und hat gelernt, Messinstrumente für sie zu bauen: Röntgenstrahlen, Gammastrahlen, magnetische Felder oder Radioaktivität. Mit Sicherheit gibt es viele weitere Aspekte, Phänomene, Dimensionen, Eigenschaften der äußeren Realität, von denen wir nichts ahnen und die wir uns gar nicht vorstellen könnten.

Unsere innere Wirklichkeit hat keine Ähnlichkeit mit der äußeren Realität

Machen Sie sich immer wieder klar, wie wenig die Instrumentenanzeigen beim Instrumentenflug der realen Welt ähneln, durch die sich das Flugzeug bewegt: Eigentlich ähneln sie ihr überhaupt nicht. Der dreidimensionale Raum, die Art, wie sich uns »Materie« darstellt – all das sind nur Anzeigen und Symbole unserer zerebralen Navigationsinstrumente, sie sind nicht die Realität. Mit größter Sicherheit ähnelt unsere subjektive Wirklichkeit der realen Außenwelt wenig bis gar nicht.

Sind auch wir nur Tintenkleckse?

Stellen Sie sich vor, auf der Oberfläche einer riesigen Kugel lebten zweidimensionale Tintenkleckse. Sie würden ihre in sich geschlossene Welt als unendlich erleben. Und sie würden sicher zu der Überzeugung kommen, dass darüber hinaus nichts Weiteres existieren könne. Ja, können sie denn nicht unendlich weit in jede Richtung kriechen? Und hätte je irgendeiner von ihnen etwas Absonderliches gefunden? Aus der Perspektive dreidimensionaler Lebewesen können wir darüber nur lächeln. Doch dieses Lächeln sollte uns auf den Lippen gefrieren, wenn wir uns klarmachen, dass auch die dreidimensionale Welt unseres eigenen Erlebens in noch höherdimensionale Welten eingebettet sein kann. Dann ginge es uns eben selbst wie den platten Tintenklecks-Wesen. Ganz in diesem Sinne findet etwa die renommierte Harvard-Physikerin Lisa Randall viele Argumente dafür, dass die von uns beobachtbare Welt nur eine von vielen Inseln innerhalb eines höherdimensionalen Raumes ist, in dem sich viele Universen quasi überlagern (Randall 2006). Ein fiktives allwissendes Wesen, das dieses Multiversum überblickt, würde mitleidig auf uns herabschauen – so wie wir auf die nichtsahnenden Regenwürmer in unserem Garten.

 

Unsere subjektive Wirklichkeit enthält lediglich einige Eckdaten, die für das Überleben notwendig und ausreichend sind. Die Art und Weise, wie diese Eckdaten in unserer Wirklichkeit in Erscheinung treten, hat nichts mit der Realität zu tun. Sie entspringt der konstruktiven Fantasie der »Ingenieure« Evolution und Gehirn.