Fidibus und die dänische Fibel

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6

Im Gasthaus der Hafenstadt Rorschach wurde vermittelt. Dame Klothilde war mit heisser Stirn erwacht, aus ihrem Bett direkt in die Küche getaumelt und hatte ihre glasigen Augen auf die Wirtin gerichtet.

«Ich friere so», hatte sie mit klappernden Zähnen gejammert und die Arme um ihren fröstelnden Leib geschlungen.

«Ihr habt Euch erkältet, werte Dame. Kein Wunder, wenn Ihr im Februar baden geht. Diese Seepiraten sind einfach ein Gräuel», hatte Wirtin Mara geschimpft und die Edle auf einen Schemel vor die in der Mitte des Raumes kniehoch aufgemauerte offene Feuerstelle gedrückt, in der bereits ein neues Feuer entfacht worden war, denn die Glut des vorigen Tages war über Nacht erloschen. «Nehmt!», hatte sie ihr einen Becher heisse Brühe gereicht, die sie aus einem Dreifusstopf geschöpft hatte, der in der neuen Glut stand, um einige Überlegungen anzustellen, während die Kranke sich aufwärmte. In der Herberge konnte sie nicht bleiben. Unmöglich. Sie würde alle anderen Gäste anstecken und sie für immer vergraulen. Nein, nein. Sie musste hier weg. Der Weg nach Sankt Gallen war viel zu mühselig. Sie hätte reiten müssen. Oder laufen. Aber zum Kloster Münsterlingen, das ein Krankenzimmer besass, führte eine gut fahrbare Strasse entlang des Bodensees und wie es das Schicksal so wollte, sass Händler Ottchen im Schankbereich des grossen Raumes und wollte heute noch mit seinem von zwei Mauleseln gezogenen leeren Karren nach Konstanz reisen, um dort neue Waren aus dem Westfrankenreich zu verladen. Und Münsterlingen lag da genau am Weg. Die schlaue Wirtin organisierte also für wenige Pfennige die Reise der fiebrigen Klothilde und ihres mitleidenden Panzerreiters Trumer im knarrenden Gefährt des Händlers Ottchen von Rorschach nach Münsterlingen und schickte eine mündliche Botschaft ans Kloster Sankt Gallen, die durch Bettler Pip, der heute seine wöchentliche Gratismahlzeit bekam und eh nach Sankt Gallen wollte, um sich dort von den Mönchen gleich nochmal verköstigen zu lassen, überbracht werden würde. Also wurden die beiden werten Gäste auf die Nuckelpinne verfrachtet, mit Sackleinen zugedeckt und los ging’s, an brachliegenden Flachsfeldern vorbei, an Fischerhütten und Bauernkaten, Weilern und Dörfern, am dem Kloster Sankt Gallen gehörenden Untergoldach, am dem Bistum Konstanz Abgaben zahlenden Arbon und immer in der Nähe des grossen Sees, auf den die beiden Überfallenen im Moment gar nicht gut zu sprechen waren.

7

«Sollte unsere reiche Pilgerin nicht langsam angekommen sein?», erkundigte sich Hospitalar Semper bei Fidibus, der gerade die von den fleissigen Weberinnen des Klosterdorfes Sankt Gallen gefertigten Leinenstoffe sortierte. Sie standen in der Kleiderkammer des geschlossenen Teils des Klosters, zu dem eigentlich nur die Mönche Zugang hatten, doch das wurde nicht so genau genommen.

«Ja, die sollte langsam eingetrudelt sein.»

Kaum hatten sie fertig gesprochen, kam Novize Hans hereingepoltert und verkündete, dass Bettler Pip im Gästehaus warte, um Hospitalar Semper eine wichtige Nachricht mitzuteilen.

Als Semper eintrat, hockte Bettler Pip an einem der Tische im Gemeinschaftsraum des Gästehauses und verspeiste gerade eine riesige Fleischpastete, begleitet von einem lüpfigen, stark mit Honig gesüssten Glühwein. Der gut Genährte winkte Semper zu sich an den Tisch und prostete ihm lachend und schmatzend zu.

«Wohl bekomm’s», meinte der Hospitalar leicht säuerlich und setzte sich. «Was gibt’s denn so Dringendes, Pip?»

«Ich habe eine wichtige Botschaft für dich, Mönch. Und zwar von der Wirtin Mara aus dem Gasthaus am Rorschacher Hafen.»

«So, so. Etwas Wichtiges.»

«Ja doch. Wenn ich es dir sage. Diese Dame Klothilde und ihr Panzerreiter Trumer, die zu euch rauf ins Kloster kommen sollten.»

«Ja, was ist mit denen?»

«Na, die kommen nicht.»

«Und warum nicht?»

«Weil sie überfallen wurden.»

«Was?!»

«Keine Sorge, Semper, sie leben noch. Allerdings ist die werte Dame darob arg krank geworden.»

«Und jetzt liegt sie unbetreut in einem fremden Gasthausbett?»

«I wo», winkte Pip ab und pickte mit den Fingern ein grosses Stück Pastete vom Teller, um es sich genüsslich in den Mund zu stopfen. «Die sind ins Kloster Münsterlingen gefahren. Die haben dort ein Krankenzimmer.»

«Ich weiss, dass die dort ein Krankenzimmer haben.»

«Was regst du dich dann so auf? Denen geht’s gut.»

8

So gut ging’s denen allerdings nicht. Dame Klothilde wälzte sich im Münsterlinger Krankenbett hin und her, während Panzerreiter Trumer kühlende Umschläge aus getrockneter Beinwellwurzel, die zu einer Tinktur verarbeitet worden war, aufgelegt bekam.

«Helwi, raus mit dir!», rief Hospitalarin Krätzhilde von der Türe her, «wir haben auch noch andere Gäste, um die du dich kümmern musst.»

«Aber diese beiden hier brauchen meine Hilfe dringender. Das sollte dir eigentlich klar sein, Krätzhilde», antwortete die junge Laienschwester mit einem sardonischen Lächeln.

«Lass deine frechen Sprüche sein, du faules Ding! Die fiebrige Dame hat nun wahrlich genug Holunderblütentee getrunken, ihre Essigwickel sitzen fest und der gequetschte Herr ist auch versorgt. Also komm schon. Die Wäsche muss aufgehängt werden.»

«Wie geht es denn unseren Kranken?», erkundigte sich Äbtissin Dagoberta, die hinter Krätzhilde in Erscheinung getreten war.

«Wunderbar geht’s denen. Vor allem, weil Helwi ewig am Bett der Dame rumsitzt und sich nur bewegt, wenn sie dem Herrn in dem bequemen Stuhl dort ein weiteres Tässchen heissen Würzwein bringt.»

«So soll es doch auch sein, Krätzhilde. Was schimpfst du denn nur? Lass Laienschwester Kora die Wäsche aufhängen und unsere Helwi sich um die beiden Kranken kümmern. Sie hat ein Händchen für diejenigen, die leiden. Sei also nicht immer so streng mit ihr. Komm, Krätzhilde, gehn wir Kora suchen.»

9

«Endlich!», dachte der Ministeriale Furdin, als er in seinem neuen Zimmer in der Niederburg, dem Stadtteil von Konstanz, in dem unter anderen die Beamten wohnten, stand. Dank seiner zufriedenstellenden Arbeit als Spion für Konrad, den Bischof von Konstanz, hatte dieser ihm, Furdin, nun ein neues Zuhause zugewiesen, einen grossen ebenerdigen Raum mit einer eigenen kleinen Küche in der Mitte. Furdin war zwar immer noch ein Höriger und das würde er vermutlich auch immer bleiben, doch er fühlte sich gerade sehr frei. Die offene Feuerstelle war recht gross, so, dass sie das ganze Daheim schön warm hielt, säuberlich kniehoch aufgemauert und mit einem grossen Dreifusstopf bestückt, der gerade in der Glut stand und die Roggengrütze mit Speckwürfeln angenehm duftend dampfen liess. Der Holzkasten, welcher ihm als Bettstatt diente, trug einen gut gefüllten Strohsack, an einer Wand stand eine lange Bank mit einem Esstisch davor, ein Schemel zierte eine andere Mauer und eine geschnitzte Kleidertruhe thronte an der Wand, die der Türe gegenüberlag. Das offene Fenster, das von einem Holzladen von innen her geschlossen werden konnte, war zwar schmal, doch wenn sich Furdin genau davor setzte, konnte er ein Stück des Himmels sehen, und das beruhigte ihn.

Nachdem er gegessen hatte, machte sich der Ministeriale auf, von seinem Bischof neue Befehle zu erhalten. Er verliess die Niederburg, umrundete das Münster Sankt Maria und stand auch schon in der Bischofspfalz. Konrad von Konstanz sass bequem in seinem breiten Stuhl und überlegte, während Furdin stehend wartete.

«Ich habe da von einer reichen bayerischen Adeligen gehört, die dem Kloster Sankt Gallen unbedingt etwas schenken will. Furdin! Finde heraus, wie viel die Frau denen dort vermachen will, obwohl die Mönche wahrlich genug haben, wohlgemerkt. Und warum. Es ist immer gut, die Gründe einer Handlung zu kennen. Nun geh, Furdin, und tue deine Pflicht als mein Ministeriale.»

Furdin wusste nun nicht so recht, wie er die vom Bischof benötigten Informationen in Erfahrung bringen sollte und entschied sich darum, zuerst einmal seine Freundin Helwi im Kloster Münsterlingen zu besuchen. Er eilte also zu einem der Konstanzer Stadttore hinaus und wanderte auf der gut begehbaren Strasse entlang des Bodensees in Richtung Münsterlingen.

10

«Soll sie doch dort bleiben, wenn sie eh keine Münzen mehr hat», fand Abt Craloh, während er im Gästehaus des Klosters Sankt Gallen mit Semper sprach.

«Wir könnten die Arme aber auch pflegen», mischte sich Infirmar Kunibert ein.

«Das können die Münsterlinger Nonnen ebenfalls», sagte Fidibus.

«Es wäre aber ehrenvoll, wenn wir der Dame auch helfen täten, nachdem sie nun nichts mehr zu verschenken hat», gab Kunibert noch nicht auf.

«Du meinst, es wäre gut für den Ruf unseres Klosters», vergewisserte sich der Abt.

«Aber ja doch», bekräftigte Kunibert.

«Dann müssen wir sie hierher holen», befahl der Abt und Fidibus wurde ausgeschickt, die heikle Angelegenheit zu regeln.

Im Klosterstall waren die Knechte schon eifrig dabei, die beiden Fohlen zu hätscheln, Weissmond und Schwarzmond, die Stuten, wurden gerade gestriegelt und Donner, der alte Hengst, den ein sündiger Adeliger diesen Monat bussfertig dem Kloster geschenkt hatte, stand schon zurechtgemacht und gefüttert zur Abreise bereit. Fidibus stellte sich auf einen Schemel und kletterte ächzend auf das pechschwarze Pferd mit den immer noch gefährlich funkelnden Augen.

 

«So, Donner, sei brav und wirf mich nicht ab. Wir sind beides alte Männer und sollten uns dementsprechend benehmen.»

Donner trottete gemütlich zum Klosterstall hinaus, durchs Klosterdorf hindurch, an der Kirche Sankt Mangen, die ausserhalb der erst kniehohen Palisadenmauer stand und für einige umliegende Dörfer zuständig war, vorbei und auf der Konstanzer Strasse den Hügel hinauf. Der dichte Arboner Forst liess jetzt, im Februar, etwas mehr Tageslicht herein als im Sommer, wenn die Laubbäume in diesem Mischwald ihre Blätterkronen schützend über die Bodendecker breiteten und sogar die ab und an heraustretenden Wurzeln auf der ausgetretenen Konstanzer Strasse beschatteten. Schnee lag zwar nicht mehr viel auf den Pflanzen, doch kalt war es immer noch. Fidibus stieg ab und führte Donner über einen Wildwechsel in die Nähe des Steigbaches und zur Hütte seiner guten Freundin Trude, die vom Kräuterverkauf lebte und manchmal den einen oder anderen Zauber verhängte.

«Trude!», rief Fidibus schon von draussen, sodass die Gerufene aus ihrem hübschen Eschen- und Eibenholzhäuschen trat. Unter dem überhängenden Dach, das aus Rindenstücken gefertigt war, hatten sich mehrere Waldvögel auf den Sparren eingenistet und veranstalteten einen Heidenlärm. Ob dies an Fidibus oder an Donner lag, war unklar.

«Fidibus, was machst du hier bei der Kälte? Und was ist das für ein Pferd?»

«Ich bin unterwegs nach Münsterlingen und dachte mir, dass du vielleicht Lust hättest, deine Freundin Dagoberta im Kloster zu besuchen. Und auf Donner haben wir beide Platz.»

«Du reitest ins Kloster?»

«Ja, ich muss dort eine Pilgerin dazu überreden, zu uns nach Sankt Gallen überzusiedeln. Eine längere Geschichte.»

«Gut, ich komme mit.»

Nachdem Trude kaltes Wasser über die Glut in der offenen Feuerstelle in ihrem Häuschen geschüttet, sich ihren Mantel aus schwerer Schafwolle geschnappt und vor der Brust mit einer bronzenen Fibel geschlossen hatte, konnte es losgehen. Während Fidibus erzählte, passierten sie Höfe und Weiler, umgeben von einst gerodeten Feldern, auf denen Getreide und Gemüse angepflanzt wurde, doch meistens führte ihr Weg durch den Wald, bis sie endlich den Bodensee erblickten und von Altnau nach Münsterlingen die bequeme Strasse benutzen konnten.

11

Im Kloster Münsterlingen hatte sich Furdin nach Helwi erkundigt und sass nun neben ihr auf einem Schemel im Krankenzimmer. Er konnte sein Glück kaum fassen. Da lag die bayerische Adelige direkt vor seiner Nase und kränkelte. Von wegen Sankt Gallen. Die trug bestimmt noch ihren ganzen Reichtum bei sich und könnte eventuell dazu überredet werden, ihm, Furdin, ein Gutteil davon abzugeben, wenn er ihr schlimmes Geheimnis für sich behalten würde. Doch zuerst musste er sie unauffällig dazu kriegen, ihm den sündigen Grund für ihre geplante, mehr als grosszügige Schenkung an das Kloster Sankt Gallen anzuvertrauen.

12

Vor der Behausung der Seepiraten ging es hoch her. Gizi, in seinem gelben Wollkittel, putzte sich für das Rollenspiel in Sankt Gallen heraus. Mit den Fingern kämmte er sein Haar, befreite es von diversen Knöpfen, die sich mit der Zeit gebildet hatten und band es dann mit einem breiten Lederstreifen zusammen.

«So, Leute, ich mach mich jetzt auf den Weg und werde einen Haufen Neuigkeiten mitbringen.»

«Steck dir noch die Vogel-Fibel an, Gizi, die macht Eindruck», überreichte Guzi seinem Kumpan das erbeutete Schmuckstück.

Dermassen aufgepeppt stiefelte Gizi also los in Richtung Arboner Forst. Er nahm die Sankt Galler Strasse, die von Rorschach über den Sulzberg nach Sankt Gallen führte. Irgendwo in der Nähe von Obergoldach wurde der Wanderer fast von einem Pferd umgenietet, das im Galopp an ihm vorbeidröhnte und von einem zweiten Pferd eingeholt wurde. Der zweite Reiter, ein Schuppenbepanzerter, der ihm vage bekannt vorkam, drehte sich wenigstens kurz nach ihm um, doch die edle Dame auf der gescheckten Stute kümmerte sich nicht im Geringsten um die Auswirkungen ihres Reitstils.

«Frauen», dachte Gizi und kräuselte seine Nase, «zum Glück habe ich nur wenig mit ihnen zu tun.»

Auf der Martinsbrücke angekommen, musste er zwei Pfennige Wegzoll bezahlen, was er noch nie im Leben getan hatte und ihm seltsamerweise ein Gefühl der Überlegenheit gab. Es musste schön sein, immer genügend Münzen in der Tasche zu haben. Der Wald lichtete sich, Felder taten sich vor ihm auf und bald schon lief er durch eines der zukünftigen Tore in der niedrigen Palisadenmauer des Klosters und Klosterdorfes Sankt Gallen. Als Erstes brauchte er etwas zu trinken und spazierte frech ins Gästehaus des Klosters, wo eine einsame Pilgerin ihre Suppe löffelte. Sonst war da nur noch ein Novize, der ihm ein mit Grut gewürztes Gerstenbier brachte.

«Ist hier immer so wenig los?», fragte Gizi den Novizen.

«Na ja, es ist halt Februar. Im Sommer platzt das Gästehaus aus allen Nähten. Dann müsst Ihr mal hierher kommen. Wenn Ihr Gesellschaft sucht, dann solltet Ihr in die Dorfschenke von Gilbrech gehen.»

Wenig später befolgte Gizi den Rat des Jünglings und setzte sich in das gemütliche Gasthaus «Zur Dorfschenke» an einen langen Tisch, an dem schon etliche Leute hockten, Bier tranken, mit getrocknetem Schnittlauch gewürzte Getreidesuppen löffelten und laut miteinander schwatzten.

«Seid gegrüsst, Fremder. Was führt Euch zu uns?», erkundigte sich ein bärtiger Dicker.

«Das ist unser Richter. Richter Dickbart», stellte der Wirt den Mann vor.

Gizi lief es bei dieser Information zwar kalt den Rücken hinunter, doch liess er sich nichts anmerken.

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