Das vermehrte Ölfässchen

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Das vermehrte Ölfässchen
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Denise Remisberger

Das vermehrte Ölfässchen

Ein Pfarrer Jacques Krimi

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

«Ich weiss wirklich nicht, wieso wir unbedingt mitten im Winter in die Ferien fahren müssen», schimpfte Klara, Oberschwester im Altersheim „Flussmatte“, während sie sich in ihren blauen Wollmantel hüllte.

«Winter? Was für ein Winter?! Wir haben Herbst. Es ist immer noch Herbst, Schwester!», berichtigte Sabine Pfau aus der Frauensinggruppe mit weit tragender Stimme und Jäckchen über sehr kurzem Rock.

Sie standen alle vor dem Kirchgemeindehaus Kreis Fünf in der Stadt Zürich und warteten auf Pfarrer Jacques, welcher den hauseigenen geblümten Kleinbus von einem nahen Parkplatz herkurven sollte, um damit zum Hauptbahnhof zu tuckern.

«Wir könnten auch laufen», bemerkte Tessa Weissfeld, die abgeklärteste der Seniorengruppe, «der Bahnhof befindet sich fünf Minuten Fussweg von hier.»

«Ausgerechnet du mit deinem pompösen Gehstock willst in fünf Minuten zum Bahnhof gehumpelt sein, Angeberin!», pöbelte Hedwig Sandmann, die zynischste der Seniorinnen.

«Ach, halt die Klappe, Hedwig, da kommt unser Pfarrer», gab Tessa trocken zurück.

Pfarrer Jacques schwang sich wendig aus dem Benz, jung, blond, tolle Figur und die leuchtendsten kieselsteinfarbenen Augen weltweit. Und durchtrieben. Der werte Pfarrer betätigte sich nebenberuflich und streng geheim als Dieb und Hehler wertvoller Reliquien, obwohl oder gerade weil er reformiert war.

«Wo ist Pfarrer Sebastienne?», wollte Jacques wissen.

«Der ist noch drinnen und hat Probleme mit seinen Schuhen», meinte Marie Krug, auch bei der Frauensinggruppe, spitz. Sie trug ein korrektes knielanges Jackenkleid in Graubraun.

In diesem Moment drückte der schwule Pfarrer, der die Reisegruppe mit Jacques und Oberschwester Klara zusammen begleiten sollte, die schwere Türe des Kirchgemeindehauses auf und schleppte keuchend einen riesigen Koffer herbei.

«Da sind alle meine Schuhe drin. Auch die spitzigen aus Lackleder.»

«Sebastienne, wir fahren mit dem Zug», erinnerte Pfarrer Jacques, «du wirst diesen Monsterkoffer ganz alleine umherhieven müssen.»

«Ist egal. Für meine Schuhe tue ich alles», strahlte Sebastienne und türmte das unhandliche Ding auf die anderen Koffer drauf, die bereits eifrig in den Kleinbus bugsiert worden waren.

«Sebastienne, zerdrück bloss nicht meine Hutschachtel», schrie Sabine Pfau hysterisch.

«Sabine, deine Hutschachtel liegt weiter vorne in Sicherheit», beschwichtigte Pfarrer Jacques.

«Ach, Jacqui», klimperte Sabine errötend mit den künstlich verlängerten Wimpern, «du bist doch der Allerbeste, immer derart besonnen.»

Zu dieser Reise nach Paris hatten sich nur wenige angemeldet: drei Frauen aus der Seniorengruppe, zwei aus der Frauensinggruppe, eine Mutter mit Kind von der von Pfarrer Kinden betreuten Kinderkrippe und ein junger Mann aus Pfarrerin Rosamundes Drögeli-Gruppe.

Nachdem das Gepäck im Blumenbus stosssicher verstaut worden war und alle eingestiegen waren, konnte es losgehen. Nach drei Minuten waren sie am Bahnhof, nach weiteren 20 Minuten hatten sie einen Parkplatz gefunden. Dann hiess es aussteigen und die ganze Bagage wieder entladen.

«O.K., Leute», intonierte Pfarrer Jacques, «wir suchen jetzt den TGV.»

«Na so gross ist dieser Bahnhof nun auch wieder nicht. Der Zug wird schon irgendwo warten», hauchte Sabine Pfau, die Welterfahrene.

«Ausserdem gibt es hier mehr Abfahrtstafeln als Getränkeautomaten, soweit ich sehe», nörgelte Hunki Chrüter, «ich könnte ein Bier gebrauchen.»

«Um diese Uhrzeit?!», echauffierte sich Marie Krug, «es ist sieben Uhr zehn in der Frühe.»

«Irgendetwas braucht der Mensch!», warf Hunki verzweifelt die Hände in die Luft. Seit zwei Jahren nahm er kein Heroin mehr. Doch das Saufen und Kiffen hatte er sich noch nicht abgewöhnt – und er wollte es sich auch nicht abgewöhnen. Auf Gleis 15 angekommen, lasen sie die Reservationsnummern, die an den Fenstern klebten und stiegen ein. Pfarrer Sebastienne bekam einen Schweissausbruch beim Hochheben seines enormen Koffers, Sabine krallte sich an ihre Hutschachtel in der ständigen Angst, dass sie ihr runterfallen könnte und Hunki schaute sich nach allen Seiten um, nur nicht nach hinten links, wo ein verhärmt aussehender Typ kauerte und so tat, als binde er einen seiner abgelatschten Turnschuhe.

 

«Wir sind im altmodischen Teil des Zuges gelandet», stellte Pfarrer Jacques fest. Ältere geschlossene Sechserabteile. Also verteilten sie sich auf zwei davon. Um Punkt sieben Uhr 34 setzte sich der französische Schnellzug in Bewegung, was ein freudiges und auch erleichtertes allgemeines Seufzen auslöste. Marie Krug packte sofort ein grosses Käsebrot aus, in das sie hungrig hineinbiss, während Oberschwester Klara mit heissem pechschwarzem Kaffee gefüllte Plastikbecher an die ganze Gruppe austeilte. Hunki Chrüter steckte sich eine Selbstgedrehte an, die ganz leicht nach Gras roch, was ihm sofort ein allseitiges Protestgeschrei entgegenbrachte, da bereits das Rauchen von Tabak in der Bahn verboten war, geschweige denn von anderen Ingredienzen. Also tat Hunki sie an der Metallverbrämung des ausziehbaren Tischchens wieder aus und verräumte sie schleunigst für später. Dann verschwand er Richtung Speisewagen, um sich endlich ein Bier zu gönnen nach der frühmorgendlichen Konfrontation mit der Realität.

2

Eine Stunde nach Abfahrt, also um acht Uhr 34, fuhr der Zug in den Hauptbahnhof von Basel ein. Hedwig Sandmann zog ihre Identitätskarte aus ihrem voluminösen himmelblauen Portemonnaie.

«Es gibt keine Passkontrolle mehr, Hedwig, jetzt schon seit vier Jahren nicht mehr», verdrehte Tessa Weissfeld die Augen.

«Und was ist mit der Schleierfahndung, hä?! Da kann zwischen hier und einem guten Stück nach der schweizerisch-französischen Grenze jeder x-beliebige Zollschnösel daherkommen und uns alle kontrollieren. Und unsere Waren sowieso. Warenkontrolle gibt’s immer noch.»

«Was für Waren denn?! Wir tragen doch keine Lastwagenladungen mit uns mit!»

«Oh je!», rief Pfarrer Sebastienne, «hoffentlich nehmen sie mir meine Schuhe nicht weg.»

«Was sollen sie denn mit deinen Schuhen?!», kicherte die fünfjährige Babsi und klatschte in die Hände.

«Babsi, ehrlich», meinte ihre Mutter Gwendolen halbherzig.

«Der Pfarrer hat Schuhe, der Pfarrer hat Schuhe», sang die Kleine rhythmisch mit ihrer Mütze aus rotem Filz auf dem Kopf, die sie keinesfalls ausziehen wollte.

«Und unser Fräulein Teufelchen hier hat 13 Mützen eingepackt», lüftete Mutter Gwendolen das Geheimnis der grossen rosa-grün gestreiften Tragetasche und legte sachte eine Hand auf die beiden Hörnchen, die aus der roten Mütze herausragten.

«Ja, ja, wir haben eben alle unsere kleinen Geheimnisse. Was meint ihr, welches unser Jacques hütet?», seufzte Sebastienne, der ein bisschen verliebt war. Die fünf in diesem Abteil dachten darüber nach und kamen zu der Überzeugung, dass Jacques grundehrlich war. Wie sie sich da täuschten. Denn genau in diesem Moment meldete sich Pfarrer Jacques’ Handy mit einem flotten Glockenton, dessen Anrufnummer auf dem Display ihn dazu animierte, sich schleunigst auf die Toilette zurückzuziehen.

«Hans-Peter, was gibt’s?»

«Jacques, ich muss dir was erzählen», tönte es ganz aus dem Häuschen an des Pfarrers Ohr, «mein Abnehmer, der deutsche Bischof, ist auf der Suche nach einer Reliquie.»

«Wann ist er das nicht?!»

«Ja, ja. Sicher. Die Reliquie befindet sich wahrscheinlich in Paris, genauer gesagt, in der Nähe der Stadt. Und dort fährst du doch gerade hin, nicht wahr, Jacques? Du musst sie für mich, beziehungsweise für den Bischof, organisieren. Er zahlt, na ja, für dich bleiben dann noch, sagen wir, 10.000?»

«Ehrlich, Hans-Peter.»

«Also gut, das Doppelte.»

«Das Dreifache, Hans-Peter.»

«Gut, gut. Ich sende dir ein Bild von ihr mit der Adresse der Kirche, in der sie sich befinden sollte.»

«Ja, tu das. Ich kümmere mich dann darum. Ciao Hans-Peter.»

«Ciao Jacques und viel Glück», frohlockte der Prior des Klosters Sankt Gallen und machte sich an die Arbeit.

Als Abt Cornelius nach ihm rief, musste Hans-Peter allerdings seine Geheimaktion unterbrechen.

«Hans-Peter, Hans-Peter!»

«Ja doch, ich bin hier», eilte der Prior seinem Abt auf dem frisch gebohnerten Gang des kleinen bewohnten Klosters entgegen, das im ehemaligen weitläufigen Abteigelände, das heutzutage teilweise für Regierungsbüros und teilweise von der katholischen Diözese Sankt Gallen inklusive Bischofswohnung genutzt wurde, beheimatet war.

«Bischof Markus hat mir gerade ein Geschenk für die Nonnen des Klosters Notkersegg rübergebracht, Hans-Peter. Bringst du es den Damen bitte?»

«Wieso ich?»

«Ich hab Rheuma, wie du weisst. Und da oben hat es die ganze Nacht heftigst geschneit. Du willst mir doch keinen Fussmarsch da hinauf zumuten, Hans-Peter, oder?!»

«Fussmarsch?»

«Du darfst den Bus nehmen bis Mühlegg, keine Sorge, Hans-Peter. Aber von der Haltestelle an musst du laufen.»

«Ich könnte auch den Lancia nehmen, Cornelius, der hat Vorderradantrieb. Wenigstens bis zur Badanstalt.»

«Also gut. Aber von dort aus läufst du! Hans-Peter, ein bisschen Bewegung wird dir gut tun. Sonst rollst du uns noch weg», kicherte Abt Cornelius.

«Findest du mich zu dick?»

«Na ja, wer viel Nachtisch schöpft, braucht auch viel Sport, sag ich immer.»

«Sport, aha, Sport», schimpfte der genussfreudige Prior vor sich hin, während er das sperrige Geschenk in seinen Rucksack packte und sich ins verdeckte Cabrio setzte. Heizung und Radio Toxic FM voll aufgedreht, flitzte er die Speicherstrasse entlang und den Nordhang des Schattenhügels der Stadt hinauf, sang zu den letzten Tönen Just Breathe von Pearl Jam, schaltete dann auf Radio FM1 Melody um, wo gerade Two Piña Coladas von Garth Brooks lief und vergass das angebliche Dicksein. Auf dem Weg vom Parkplatz der Badanstalt bis zum Kloster kam es ihm allerdings wieder in den Sinn, denn die Strecke war noch nicht gepfadet worden, sodass der runde Prior mit seinen zwar teuren, aber eher ungeeigneten Wildlederstiefeln bei jedem Schritt tief einsank. Und rutschig war es auch.

«Kerstin, ich hab ein Geschenk für euch», rief der Prior ausser Atem und peilte die Schnee schaufelnde Nonne an, die vor dem Eingang ihres Zuhauses eine Schneise freilegte.

«Hans-Peter, was tust denn du hier bei uns oben?», hielt die Nonne mit Schaufeln inne.

«Bischof Markus schickt mich.»

«Wieso sollte Bischof Markus ausgerechnet dich schicken?» Schwester Kerstin traute dem Prior nicht für fünf Rappen über den Weg.

«Ich bin immerhin der Prior.»

«Ja, das ist mir auch so ein Rätsel.»

«Na ja, eigentlich war es die Idee des Abtes, dass ausgerechnet ich Armer bei diesem elenden Wetter hier hinaufstapfen muss. Hast du nicht ein Gläschen für mich?»

«Nein, kein Gläschen. Um diese Zeit gibt es nur ein Tässchen.»

«Grappa?»

«Nicht im Traum, Hans-Peter. Schwarztee. Biologisch. Mit Milch und Rohrzucker. Los, komm rein. Und stell dich nicht so wehleidig an.»

Im Gästehaus bekam Hans-Peter seinen gesunden Tee und überreichte Schwester Kerstin das Geschenk des Bischofs, einen in sonnigen Farben gehaltenen Gobelin, welcher das Kloster Notkersegg und dessen Umgebung mit den „Drei Weiern“ darstellte. Eine gute Stunde später, endlich wieder daheim in seiner luxuriösen Kammer, sendete der Prior ein Bild der gewünschten Reliquie und die Adresse der kleinen Kirche ausserhalb von Paris an Pfarrer Jacques’ Handy.

3

Inzwischen hatten die Reisenden Mulhouse Ville und die Station zwischen Belfort und Montbéliard passiert, der Zoll war nicht gekommen, Hunki Chrüter war, leicht schläfrig und wieder zurück im Abteil, eingenickt und Silvia Gerlind, die dritte der Damen aus dem Altersheim, hatte es ihm gleichgetan.

«Silvia atmet aber flach», starrte Marie Krug auf die Frau mit dem friedlichen Gesichtsausdruck. Sabine Pfau fasste daraufhin das Handgelenk der Betagten an und flüsterte plötzlich: «Scheisse.»

«Was ist los?», wollte Pfarrer Jacques alarmiert wissen.

«Silvia ist tot.»

«Was?», rief der Pfarrer nochmals und untersuchte den Sachverhalt selber. «Es stimmt. Silvia Gerlind ist tot. O.K., Leute, Folgendes: Wir dürfen den Tod Silvias auf keinen Fall melden. Sonst bekommen wir riesige Bürokratie-Probleme wegen der Überführung zurück in die Schweiz und ausserdem müssten wir umkehren. Wir tun einfach so, als würde sie noch leben.»

«Müssen wir sie überhaupt überführen?», steckte Tessa Weissfeld aus dem anderen Abteil den Kopf herein, «soviel ich weiss, hat sie keine Verwandten. Wir könnten sie also auch in Frankreich beerdigen.»

«Gute Idee», meinte Pfarrer Jacques erleichtert, «sag das den anderen und dass sie schweigen sollen, Tessa.»

«Klar, mach ich.»

«Wann wird die Leichenstarre einsetzen und wie lange wird sie andauern?», wollte Marie wissen.

Oberschwester Klara ergriff das Wort: «In einer guten Stunde wird sie wohl einsetzen und in zwei Tagen wird der ganze Spuk wieder vorbei sein. Am besten legen wir sie langgestreckt hin. Dann bleibt sie auch so und wir können sie dann in Paris einfach in die Mitte nehmen und eskortieren.»

Also zogen sie zwei der sich gegenüberliegenden Sitze aus und betteten die Verstorbene darauf zurecht.