NOVA Science-Fiction 29

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T. Elling: Die letzte Jungfrau

»Du bist das? Waaas! Toll. Ich habe dich gar nicht, echt, überhaupt nicht erkannt! Naja – wie auch!«, lachte der Beraterarzt. Er wedelte mir mit der Anmeldung vor den Augen herum, stach dabei mit einem steifen Zeigefinger hörbar auf meinen auf dem Dokument lesbaren Namen ein. Und grinste. Die ganze Sache nervte. Ich sah zu ihm auf.

Er war ein großes Modell, in einem Luxus verkündenden Schokoladenton – echt, nicht eingefärbt – und strahlte mich mit perfekt gerade sitzenden, reinweißen Zähnen an. Seine Augen blitzten.

»Esther! Jungfrau! Du wirst dich doch an mich erinnern. Ich bin Hein, der Opa deiner Schulfreundin Eva, nicht wahr! Aber klar, erkennen kannst du mich nicht! Wie auch! Einst war ich Opa Hein, jetzt bin ich, vielleicht, Freund Hein – ich bin, sozusagen, ein anderer geworden! Ich darf doch ein Selfie mit dir machen, oder?«

Ohne Zögern griff er den an seinem Schreibtisch lehnenden Kamerastick, schwang sich mit einem raumgreifenden Schritt an meine Seite, umarmte mich von rechts, hielt die Kamera in die Standardposition und jubelte »Kriiise!«, bevor er auslöste.

»An den Allgemeinblog senden! Titel: Freund Hein und die letzte Jungfrau!«, wandte er sich an das Assistenzmodul, das als Holokubus auf seinem Schreibtisch thronte. Ich nahm es hin. Im Kubus sah man ein Mini-50s-Retromädchen mit hochtoupierten, blonden Haaren und golden leuchtenden Tätowierungen an einem Minischreibtisch sitzen. Das Minimädchen lächelte und tippte etwas in eine winzige Schreibmaschine. Nettes Detail. »Und je-etzt …« Hein legte das Formblatt auf den Schreibtisch, schwang sich auf seinen Bürofitnesssessel und trat mit langen, muskulösen Beinen in die Pedale, wobei er rhythmisch mit dem Oberkörper schunkelte, als hörte er Musik. Dann schloss er kurz die Augen, als müsste er einen Gedanken fassen. »Nun … Ich muss wohl kaum fragen, was ich für dich tun kann.«

Sein Lächeln war entwaffnend. Optimistisch. Freundlich. Egal. Ich wollte ihn nicht mögen. Er war … Ich kramte in meinem Gedächtnis nach einem Opa Hein. Ja. Da war er. Ich hatte sogar intensive Erinnerungen an ihn, nun, da ich ihn zuordnen konnte: Ein krummes, kahles Männlein, gebeugt, mit Spitz-, Schmer- oder Bierbauch, das sich selbst vernachlässigte und den Mädchen, meinen Freundinnen, nachblickte, als wären sie verpasste Metrobahnen, ein »lächerliches, verbrauchtes Ding«, hatte Jay damals gesagt. Er nannte ihn auch »Faltenstinker«, wegen seiner oft heftigen Körperausdünstungen. Ich betrachtete den Mann vor mir. Muskulös, drahtig, schlank. Bereit. Ich versuchte, mich an den Duft starker, sexuell aktiver Männer zu erinnern – gab es so etwas überhaupt? Rochen die anders? Ich wusste es nicht mehr.

Hein hatte lockiges, gesundes, blondes Haar, hellgrüne, strahlende Augen. Er trug einen halbtransparenten Laborkittel. Darunter war ein nur die Brust umspannendes Ikonshirt mit der Aufschrift »AMOR!« sichtbar, und ein mit floralen Mustern tätowierter Waschbrettbauch. Die Tätowierung verschwand unter dem Shirt, erschien am Halsansatz wieder, zog sich fast bis zum Kopf hoch. Sie rankte sich zudem, aus den T-Shirt-Ärmeln züngelnd, die halben Arme entlang bis kurz über die Ellbogen und erreichte, unter den weißen Shorts herausfließend, gerade so seine wohlgeformten Waden, die er fleißig weiter trainierte. Er bemühte sich, das musste der Neid ihm lassen.

»Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden«, sagte ich. Zwang mich zur Ruhe. Sammelte meine Gedanken. Merkte wieder: Ich wollte ihn nicht mögen, aber … warum eigentlich? Fand ich den Mann vor mir zu gelassen? Zu zufrieden? Auf falsche Art einnehmend? Lächerlich? Ich konnte es nicht einordnen. Ich fühlte nur den Widerstand in mir.

»Nun, es wird langsam Zeit. Dennoch, also, ich kann dir sagen: Ich bewundere dich! Nur wenige halten so lange aus. Und es lohnt sich! Man nimmt etwas … Fantastisches mit sich, einen starken Willen, eine tiefe Einsicht … Ich weiß, was ich sage, ich war ja auch mal richtig, richtig alt – du erinnerst dich …«

Er lächelte, fast entschuldigend, fast schüchtern. Kannte ich den Ausdruck in dem Luxusgesicht vor mir von seinem alten Ich? Ich fiel dem Gedanken an Hein in die Vergangenheit hinterher, landete woanders, erinnerte mich an abfahrende Metrobahnen. An eine verpasste Fähre. An das Dunkel des Meeres am Anleger, an dem ich einmal mit Jay die Nacht verbringen musste. Wie schön das war. Wir froren, waren endlos jung. Das Leben lag vor uns, wie das dunkle, unergründliche Meer damals. Die »Gruftis«, wie wir sie nannten, waren uns fern vorgekommen, fremd. Wie der Blick des alten Hein, der, in meiner Erinnerung, an irgendeiner Wand lehnte, müde. War es vor dem Haus, in dem er wohnte – was war da, damals, in seinen Augen? Ich versuchte, meine Erinnerung scharf zu stellen. War sein Blick lüstern? War er bitter? Oder beides?

»Du bist viel-lei-eicht die jüngste Frau ü-ber-haupt, du – ach was, das ist ja Quatsch! Ich übertreibe gerne, aber die jüngste der Vorgeborenen, vielleicht. Die letzte Frau, die noch nicht den ersten Schritt getan hat? Könnte das sein? Soll ich die Assistentin fragen? Nein? Ist auch egal … Magst du was trinken? Tee? Saft? Und ich muss jetzt doch nachhaken: Wie kann ich dir helfen? Dich zu entscheiden?«

»Es fällt mir schwer.«

An der Wand hinter ihm hing ein Spiegel. Ich sah mein Gesicht. Wie so oft erkannte ich mich nicht recht, obwohl ich wusste: Das ist mein Widerschein, das bin ich. Licht werdendes Haar, schmutzig weiß. Runzeln überall. Eingefallene Wangen, Augensäckchen. Ein bisschen Doppelkinn. Statt der Lebensfreude, die in Heins Augen spielte, boten meine aber … einen gewissen Trotz. Stolz. Behauptete ich mir gegenüber jedenfalls. Ich glaube, im Grund zeigten sie Müdigkeit. Kalte, abgekämpfte, abgenutzte … Schwäche. Und Scham. War es das im Ausdruck des alten Hein, was ich … woran mich erinnerte? Was ich sah? Gesehen hatte?

»Es fällt mir einfach schwer.«

»Wie gesagt, ich verstehe das … Der erste Schritt ist der schwerste.« Hein summte eine Melodie, zeigte eine ernste Miene, eine andere Seite von sich. Machte er sich tatsächlich Gedanken darüber, wie er mir »helfen« könnte?

»Naja, die Alternative ist nun wirklich grässlich und menschenunwürdig, falsch – aber das weißt du ja.«

Hein legte kurz die Hand ans rechte Ohr, die Assistentin sprach wohl privat zu ihm. Die Repräsentation im Kubus sagte bei vorgehaltener Hand etwas in ein historisch aussehendes Minitelefon mit Holokabel. Sie bemerkte meinen Blick und winkte mir mit einem entschuldigenden Lächeln zu, wobei sie mit den Schultern zuckte. Frauensolidarität, hm?

»Mir wurde gesagt, ich werde eventuell … beeinflussend. Bedrängend. Verzeih. Verzeih. Wirklich. Ich beantworte gerne alle deine Fragen. Die Entscheidung kann ich, darf ich dir natürlich nicht abnehmen. Ich darf auch keine Empfehlung aussprechen. Aber dir ehrlich über meine eigenen Erfahrungen berichten, dir Antworten geben, das kann ich machen. Dies ist inzwischen mein vierter Körper, ich bin also – relativ – erfahren!«

Sein vierter Körper. Ich sah ihm in die grünen, meinen Blick direkt erwidernden Augen und versuchte erneut, mich an den Ausdruck in denen des hinfälligen Männleins zu erinnern. Es gelang mir nicht. Ich presste die Lider zusammen. Strengte mich mehr an. Der alte Hein trug damals immer eine Brille. In meiner Erinnerung saß er auf einer Bank am Fluss, unweit von unserer Wohnung. Hustete trocken vor sich hin. Fummelte an der Brille herum, sah, die Brille umständlich wieder aufsetzend, einem jungen Mädchen hinterher, etwas älter als ich … war es Eva? Der Wind fegte durch die Herbstblätter. Ihr Rock umflatterte lange Beine. War sein Blick hart? Furchte sich eine Träne durch sein Gesicht? Hein klatschte in die Hände.

»Soll ich dir erst mal die Kassenmodelle zeigen? Hm?«

Ich schlug die Augen auf. Der Schokohein lächelte mich viril auffordernd an, während er aufstand, nein, auffederte, und meine Hand griff, mich praktisch vom Stuhl zog. Als er merkte, dass ich wegen des Tempos schon beim Erreichen der Tür außer Atem war, husten musste, wurde er langsamer, entschuldigte sich. Er führte mich einen steril wirkenden Gang entlang, durch eine weiße Tür. Der Raum war groß, der Boden weich. Ein filigranes, an maurische Architektur erinnerndes, ästhetisch schmeichelndes Gitter trennte den schmalen Besucherbereich ab. Die Leuchtelemente waren auf unserer Seite angebracht. Das Licht fiel durch mehrfarbige Filter, was ein anregendes Spiel aus Helle und Schatten bedingte. Wir sahen sie durch die Lücken.

»Das sind sie: Adam und Eva!«

Hein legte mir eine Hand auf die Schulter, blickte in den abgegrenzten Raum, kicherte in sich hinein. Leise. Sein Gesicht wirkte hell, verstehend, aufgeschlossen. Er wird den … Witz schon oft gemacht haben. Er amüsierte sich dennoch, echt, ohne Übertreibung.

In dem … Gehege … hielten sich zwei junge Leere auf, ein Weibchen und ein Männchen. Sie waren gleich groß, wirkten wie Teenager, spielten nackt zwischen farbenfrohen, über den Raum verteilten Kissen. Es gab auch ein paar gebogene, farbige Röhren, durch die sie wohl gerne krabbelten. Die Wände zierte eine Landschaftstapete, die einen lichten Wald mit Blumen und anderen Farbtupfern zeigte. Die Szene wirkte märchenhaft. Die beiden Leeren setzen sich hin, erschöpft schnaufend. Glücklich? Das Männchen strich dem Weibchen durchs Haar. Das Weibchen sah zu uns herüber. Nein, sie sah Hein an. Fand sie ihn attraktiv?

 

»Du hast echt Glück! Das sind mit die letzten Mann-Frau-Kassenmodelle – sobald die Geschlechtslosen freigegeben sind, wird man für die Sexoption ex-tra zahlen müssen! Und das wird schon sehr bald der Fall sein!«

Ich schoss einen Blick in sein Gesicht. Er sah mich kurz fragend an.

»Ich denke mal, du willst ein besseres Modell, ein paar Extras?«

Ein besseres Modell. Hein konnte sich, wie ich sah, alle möglichen »Extras« leisten. Wut kochte in mir hoch. Naja, köchelte. Mein Temperament war mit den Jahren … abgekühlt. Ich sah wieder zu den Kassenmodellen. Sie hätten Zwillinge sein können, waren von fast gleicher Statur, bis auf die Geschlechtsteile so gut wie identisch. Die Gesichter wirkten … unfertig. Breit. In der besseren Gesellschaft, in Kuratorenkreisen beispielsweise, konnte man sich damit kaum sehen lassen.

»Wie alt sind diese Modelle?«, fragte ich.

»Vier Jahre, diese beiden wurden letzte Woche freigegeben. Die übliche Nutzungsdauer liegt bei fünfundzwanzig bis dreißig Jahren …«

»Was gibt es für Extras?«

»Im Grunde – was du willst! Echte Sondermodelle müssen, ist ja klar, vorbestellt werden, da ist die Reifungszeit sogar etwas länger – und so viel Zeit hast du eher nicht mehr … Äh, verzeih. Verzeih, wenn ich eine ungerechtfertigte Annahme gemacht habe. Es war nicht meine Absicht. Also … Im Lager haben wir aktuell verschiedene Haar- und Hautfarben, auch einfache Mehrwertmodelle mit Schlankgen, Leistungskörper … Und ein paar Signaturmodelle, von früheren Stars entworfen. Ich glaube, es gibt auch noch ein oder zwei vom Hype übrig gebliebenen Richard-Gere-Männchen, schon ein wenig gealtert, aber … du willst ja wohl einen Frauenkörper, es …«

»Ich bin noch nicht sicher.«


Ich wandte mich wieder dem Gatter zu. Trat leicht erschrocken einen Schritt zurück. Das Leermännchen stand direkt vor mir. Sah mich durch das nette Lochmuster an. War da so etwas wie … Neugierde? Es bleckte die Zähne, blickte – aggressiv? Fühlte es sich eingesperrt? Schlecht behandelt? Es kam näher, legte den Kopf an das Gitter. Lehnte sich mit dem ganzen Körper an. Schnaubte oder brummte oder knurrte. Wollte es, dass ich es berührte? Hein zeigte auf das Weibchen, das auf einem Kissen saß und uns beobachtete. Es hauchte etwas, oder gurrte es? Wollte sie ihr Männchen zu sich rufen? Husten schüttelte mich, es floss wieder rotes Sekret aus meiner Nase. Die Ärzte hatten gesagt, sie könnten nichts mehr tun. Ich fischte nach einem Taschentuch, in Panik. Das Männchen hatte alles gesehen. Betrachtete einen Moment den roten Schmodder, der aus meinem Körper gekommen war. Schnaubte und lief weg.

»Das könntest du sein.« Hein, der durch seinem Blickkontakt mit der Leeren wohl abgelenkt war und nichts bemerkt hatte, und wies auf das Weibchen.

»Was denken sie?«, fragte ich.

»Denken? Natürlichdenken sie nicht. Das wäre gegen das Gesetz … Platzhalterhirne halten den Neukörper aktiv, mehr nicht …«

»Leiden sie?«

»Aber nein! Im Gegenteil! Sie sind glücklich. Ihr Hormonhaushalt ist optimiert. Sie genießen, was für uns ZOT bedeuten wird. Das solltest du wissen. Ist alles in der VAN geregelt, der Verordnung zur Aufzucht von Neukörpern. Sie haben kein Bewusstsein, keine Leidensfähigkeit. Sie kennen keine Not, wissen nichts von ihrer Endlichkeit. Sie spielen und fressen. Da sie steril sind, dürfen sie kopulieren, wann sie wollen. Vor der Operation schlafen sie einfach ein. Ahnungslos, erfüllt. Und du wirst natürlich auch nichts davon mitbekommen, vom Ende deines alten Körpers, meine ich, vom Anfang …«

»Fühlst du das? ZOT?«

»ZOT? Ja, klar …«

»Zufriedenheit, Optimismus, Tatkraft … Aber … Hein … du warst doch nicht immer so. Die Transplantation hat aus dir einen anderen gemacht. Du bist nicht mehr du. Stört dich das nicht?«

Hein sah mich an. Einen Moment lang blieb sein Gesicht seltsam ausdruckslos, dann huschte ein verständnisvolles, vielleicht nachsichtiges Lächeln über Heins sinnliche Lippen. Er nickte langsam, zupfte mit der linken Hand an seinen spitz zugeschnittenen, gepflegten Koteletten. Er überlegte, ernsthaft und sichtbar, was er sagen sollte. Fand ich ihn gönnerhaft?

»Wenn du eines Tages, nach einem … seltsamen, schmerzhaften Traum … aufwachst und glücklich bist. Glücklicher als schon lange, vielleicht denn je, und weißt, die Zukunft hält viel Gutes für dich bereit, und du hast viel, viel Energie. Bist du dann nicht mehr du selbst? Oder zum ersten oder zweiten Mal – wirklich du?«


Ich gab mir Schwung, mit den Beinen. Wann waren die so … mächtig geworden? So elefantös? Die Mittagssonne erwärmte den Spätherbsttag, ein paar Neumenschen spielten nahebei in einer Kletter- und Amüsieranlage. Natürlich wirkten alle jung. Die meisten waren Kassenmodelle. Eingelebt reiften diese nach, wurden zu unterscheidbaren Individuen. Die Körper nachlässiger Nutzer dickten aus, andere schafften es, sie über die gesamte Haltbarkeit fit zu halten. Auch die Gesichter änderten sich, mit der Zeit – erhielten Wesen, Charakter, verloren das Unfertige, das mir an den Leeren bei Hein aufgefallen war. Solche Körper wurden selten bis in deren höheres Alter genutzt – sie sollten die ganze Nutzungszeit über optimal funktionieren. Die Leerkörper – wie seltsam das immer noch klang. Mir fielen ein paar Sondermodelle in der Gruppe auf, die durch ihre meist größeren und schlankeren Körper herausstachen. Sondermodelle konnte man meist auch länger nutzen, sie alterten besser. Allerdings wirkten einige der Kassenmodelle auf mich fast … interessanter, wohl durch ihre individuellere Wahl der Kleidung. Es gab keine Berührungsängste zwischen Sonder- und Kassenmodellen, auch wenn sich selten Mischbeziehungen ergaben, jedenfalls, wenn ich das richtig beobachtete. Warum war das so? Klassendenken? Unwahrscheinlich. Die meisten Menschen mussten einen Körperzyklus durchsparen, um sich einen besseren Leib zu leisten. Heißt es. Ich schaukelte höher, es knarzte in den Seilen. War ich zu schwer für die uralte Kinderschaukel?


Früher hatte ich solche Schaukeln geliebt, als Kind. Ich gab damals Schwung und mehr Schwung, genoss die Angst, zu hoch zu fliegen, in den Himmel zu stürzen. Ich war leicht damals, fast wie ein Vogel. Liebte es, mich in den Himmel zu katapultieren, auf dem Apex abzuspringen. Zu fliegen, um sicher im Sand zu landen. Heute würde ich mir alle Knochen brechen. Aber so hoch flog ich ohnehin nicht mehr. Alles gut. Haha.


Jay war meine erste Liebe. Wir kannten uns schon als Kinder. Er schaukelte immer höher als ich. Vielleicht hatte mich das beeindruckt. Wir trennten uns, nachdem ich schwanger geworden war. Ich hatte auf die Abbruchpille bestanden. Ich wollte etwas aus mir machen, wollte meiner Generation vorausschreiten, auf der Welle reiten. Das war kurz vor dem Jahr eins. Er roch mir, nach dem Abbruch, nach Schmerz und Vergangenheit. Die psychiatrischen Hilfsmittel, die angebotenen Medikationen lehnte ich ab. Vielleicht suchte ich ihn darauf in anderen, oder suchte in anderen, was ich in ihm gesucht und nicht gefunden hatte. Wirklich? – Nein, das stimmt so nicht. Mein Leben, meine Beziehungen waren nicht so … gewollt. Erklärbar. Jede Erfahrung, jedes Kennenlernen war anders. Sich finden war immer Glück. Das Zusammensein jeweils eher … grau. Normal. Das Auseinandergehen dagegen troff, jedes Mal, vor Schmerz.

Ich dachte wieder an den alten Hein. Man erzählte damals, er war einmal ein recht beliebter Mann gewesen. Er hätte einst eine Bar geführt, alle gekannt, Witze gemacht, die Nächte durchgetanzt. Lebenslust in den Augen, in den Beinen. Er sei nur nicht der Hellste gewesen. Kein Ehrgeiz. Kein Wille, für die Gesellschaft besonders wichtig zu sein. Die Mottowerbung jener Bar hing damals in seinem Fenster. Ich konnte mich genau daran erinnern, sah sie vor mir: »Das schönste aller Dinge, ein Schluck mit Hein und Inge«, oder so ähnlich, in gelbem Neon. Inge war seine Frau gewesen. Ich habe sie nie kennengelernt.

Nachdem sie gestorben war, hatte er »abgebaut«, wie die Leute sagten. Fast alle sagten auch, er wäre besser dran, würde er die Medikation nehmen. Ich hatte das vergessen – doch urplötzlich wusste ich es wieder: Ich fand es damals bewundernswert, dass er die Pillen nicht nahm. Anders war als die anderen. Aber waren die Leeren, die Neukörper nicht auch eine Art Medikation? Hatte Hein sich verraten? Wann genau hat er einen Leerkörper besiedelt? Er muss mit einer der Ersten gewesen sein … Damals …


Als Hatou nach unserer Trennung als erster Mann in einen Frauenkörper wechselte und deswegen zum Promi wurde, das war alles noch so neu, radikalisierte sich etwas in mir. Vielleicht. Vielleicht suchte ich auch nur einen Ausweg, weil aus mir »nichts geworden war«, wie ich, das muss ich mir eingestehen, schon damals dachte. Ich dachte: Fand ich zu jener Zeit wirklich, dass Hatou etwas Besonderes war, wertiger, bedeutender, weil die Leute über ihn redeten? War ich so … klein? Oberflächlich? Warum fühlte ich das?

Eine andere Erinnerung stieg in mir auf. Hatou und ich gingen durch im Sonnenlicht glänzende, dicht zusammenstehende Pampasgräserbüschel, die so etwas wie ein Wäldchen bildeten, sich in einer sanften Brise bogen, spannten, dann langsam zurückschwangen. Ich sah zu ihm hinüber, die Luft flirrte vor Hitze, Vitalität. Er wirkte selbstverloren. Zufrieden. Sinnlich auf sich bezogen. Er sah mich gar nicht an. Warum … beneidete ich ihn? Hasste ich ihn dafür?


Und dann waren da die ungenutzten und vertanen Chancen. Die Liebschaften, die »Begegnungen«, die ich als … unnötig erachtet hatte? Das Bedauern. Die Leute sagten … Echt? Stimmt das? Ich hielt die Schaukel an. Mir war etwas schwindelig. Früher sagten die Älteren, man leidet am meisten an den Dingen, die man sich nicht erlaubt hat, die man nicht versucht hat. Ich blickte zurück. Ja? Nein. Es waren meine Entscheidungen. Ich konnte, musste sie akzeptieren. Auch die Feigheiten. Ich merkte, dass es viel schlimmer war. Wie so oft war dieser Gemeinplatz nur eine Ausrede. Gewesen. Ich hörte in mich hinein. Es schmerzte mich mehr, mich nicht mehr gegen Dinge, die ich vielleicht irgendwie wollte, entscheiden zu können. Da sie … gar nicht mehr in meiner Reichweite waren. Das Bedauern der Vergangenheit, dachte ich, war nur eine Ausflucht, ein Mantel. Es war ohnehin egal – heutzutage sagte wohl niemand mehr solchen Quatsch.

Ich starrte zu der spielenden, lachenden Gruppe hinüber. Sie genossen ein Berührungsspiel, umarmten einander im Kollektiv, bildeten Muster, stehend oder liegend, lachten. Im Hintergrund gingen andere Neumenschen vorbei, die kein Interesse für die Spielgruppe zeigten, obwohl sie laut war, Aufmerksamkeit heischte, fast »Macht mit!« schrie. Warum? Verweigerten sie sich, diese anderen? Wie ich, damals? Mit einem jungen Körper, dachte ich, konnte man nach vorne blicken, eigene Entscheidungen vertreten, sich – gefühlt aktiv – enthalten. Das war es. Man hatte die Freiheit, Dinge … nicht zu tun. Mit meinem verbrauchten Leib … Mir blieb nur das Kassenmodell oder das Ende.

»Immerhin, eine Entscheidung«, murmelte ich. Haha.


»Der Tod bedingt unsere Heimat in der Zeit«, hatte Phil betont. Immer wieder. Phil hatte ich nach der Trennung von Hatou auf einer Anti-Klon-Veranstaltung getroffen, wie man das damals nannte. »Klone« waren die Leute, die ihre Hirne in junge Zuchtkörper setzen ließen. Wir waren gegen die »Scheiß-Alten, die den Löffel nicht abgeben wollen«, an ihrem »kleinen bisschen Restleben« hingen und deswegen zu Verbrechern gegen die natürliche Ordnung wurden. Phil sah gut aus, war eloquent, hatte eine vielköpfige Gefolgschaft. Er sprach voll Elan und Leidenschaft über das Leben in Harmonie mit der Natur, über die Freuden des Teilhabens am Werden und Vergehen, den kreativen Akt der Kinderzeugung und -erziehung, den angestammten, versprochenen Platz des Einzelnen im umfassenden, Sinn gebenden Muster. Heute würde ich sagen, das Ganze war religiös angehaucht, eventuell stand auch der Wunsch, eine Elite zu sein, dahinter, aber damals …

Für mich war wichtig, dass ich mich aufgehoben fühlte. Aufgefangen. In einer Familie, einem Clan mit, hm, elitärem Wissen, im ausgewählten Stamm. Ja. Dem ich, an Phils Seite, voranschritt. Es war eine schöne Zeit. Unsere Aktionen waren friedlich, sogar poetisch. Wir förderten temporäre Kunstwerke, hielten Lesungen in Bäumen ab, richteten gemeinsame Feiern mit Lesungen aus, unter freiem Himmel, bei jedem Wetter. Wir priesen das Leben als Fluss, als Abfolge unvermeidlicher und ergo richtiger, nötiger Ereignisse. Geburt. Zeugung. Helfen. All das verstanden wir als Gegebenheiten. Wir begriffen den Tod als unsere Natur, verstanden, dass er unsere Seelen heller brennen ließ, und schrien »Nein« zur Loslösung des Menschen aus der guten Mutter, der Heimat Natur. Laut. Die Leute redeten über uns, wir galten als radikal, wandten uns sogar, soweit möglich, von den technischen Assistenten ab, deren »Intelligenz« wir als »kalt« oder »falsch« betrachteten, deren behauptetes »Bewusstsein« als Imitation, als Lüge. Sie hatten das Körperersatzprogramm gestartet. Erfunden. Ermöglicht. »Unsere Natur verändert«, wie wir Klongegner meinten.

 

»Nur durch die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, die bedingt, dass man erkennt, wir sind Teil von etwas Größerem, sind hier, um anderen zu helfen, Leben zu geben, zu zeugen, das Richtige zu tun und durchzusetzen, wird man erwachsen. Kann man wirklich helfen. Verantwortung übernehmen. Und nur darin liegt das wahre Glück, die wahre Belohnung, der tiefe Trost. Der sogenannte dauernde oder unsterbliche Mensch ist eine Hybris, ein ewiges Kind und ewig ohne Konsequenz«, sagte Phil, und ich glaubte ihm. »Der Tod ist unser Freund, unser Gevatter, der unserem Leben Sinn gibt. Und nun soll er nicht mehr sein? Wie können wir dann noch sein?«, rief Phil und sprach damit vielen aus der Seele. Doch als ich zum ersten Mal einen alten Menschen in den Tod begleiten sollte, meinen »Todfreund« …

Es war eine Feierlichkeit, die Phil sich ausgedacht hatte. Es sollte gezeigt werden, dass man friedlich, harmonisch sterben konnte, dass ein solcher Tod vorgesehen war, von unserer Natur. Er wollte das Sterben öffentlich machen, um ihm seine Schrecken zu nehmen. Ihn zu propagieren. Ich hatte die Videos von den ersten solchen Feiern oder Ritualen gesehen, bei denen Phil selbst der Begleiter war. Es funktionierte. Hatte funktioniert.

Aber bei mir stimmte etwas nicht. Es gab in Wirklichkeit keine Harmonie. Keinen Ernst. Keine Akzeptanz. Weder der Sterbende noch ich empfanden, was geschah, als Befreiung, als Erfüllung oder Erlösung, wie Phil es prophezeit hatte. Wie es in den Videos gewesen war. Es war, stattdessen … falsch. Grausam. Ich denke, der Sterbende tat sein Bestes, versuchte, friedlich zu gehen, aber … Phil sagte, der Todfreund hätte sich falsch verhalten, wäre kindisch geworden, die Lügen der Gesellschaft hätten ihn am Ende eingeholt. Und später … Die Schreie, diese unmenschlichen Schreie, die gar keine waren, eher ein verzweifeltes … Wüten. Sie hallen noch immer in mir nach.


Nach dem Anschlag auf den Körpergarten verließ ich Phil und die »Freunde des Zyklus«, wie sie sich nannten. Ich konnte nicht mehr. Ich … So lächerlich es klingt, ich wurde Vegetarierin, aus einem Gefühl der Schuld. Weil ich getötet hatte. Als Teil eines Kollektivs, ja, aber …


»Liebe die Existenz, nicht die Maschine«, hatte Hein gesagt, als er mich zum Abschied umarmte. »Maschine« – aktuell ist das ein geläufiger Name für die Natur, die reproduktive Natur, aus der sich der Mensch löste, indem er »dauerhaftes Individuum, Möglichkeit ohne Vernichtung« wurde, wie einer der Clipmods sagte, um das Bild einer schönen neuen Welt in die Hirne der Leute zu brennen. Wie stand ich dazu?

Kritisch. Auch wenn meine anfängliche Abneigung gegen die »Körperfresser«, wie Phil sie privat genannt hatte, eher auf einer persönlichen … Beleidigung beruhte, gab es doch viel zu kritisieren. Ich gebe Phil in manchem noch immer recht, das Brennen im Leben ist doch sicher der Kürze des Seins geschuldet, die Flamme, die kurz brennt … Nein. Ich hatte das geglaubt, damals. Jetzt … würde ich nicht einmal mehr sagen, meine Flamme hätte je so heiß gebrannt, wie ich es wollte. Oder dachte. Weil ich zu lange gelebt habe, richtig, Phil? Haha.

War mein Widerstand damals, der durchaus breite Widerstand in meiner Altersgruppe gegen die individuelle Dauerhaftigkeit, nicht auch eine Art Trotz gewesen? Eine Verletztheit, da wir, als Generation, überholt worden waren, nicht mehr die Zukunft besaßen, da sie nun allen gehörte? Aber das war früher. Welches Recht hatte ich, anderen zu sagen, sie … Aber das wollte ich doch nie. Nein. Aber ich tat es, mit Phil. Der Anschlag auf den Körpergarten …

Phil meinte, wir müssten den Menschen ihr Recht auf Endlichkeit, auf Selbsterkenntnis, auf Leiden sogar wiedergeben. Ihr Recht auf ihre identitären Körper – weil die neuen, gesunden Wegwerfkörper, wie er sagte, nicht mehr die Konsequenz hatten, die der Mensch braucht, um zu sein. Weil die Menschen belogen wurden. Er meinte, die Zentralregierung mache uns zu Material, da sie am Hormonhaushalt der neuen Körper drehen konnte. Weniger Rebellion, mehr Leistungsfähigkeit, ja Leistungslust … die »ewigen Schafe«, wie Phil sie nannte, waren nur staatstragende Masse. Keine Menschen, da ihnen die Sicherheit der Endlichkeit genommen worden war. Ihre Menschlichkeit, wie er sagte.

Vielleicht. War ich, im neuen Körper, ich selbst? Hein hatte gesagt, es wäre wie der Übergang von der Pubertät zum Erwachsenensein – die Überzeugungen, die Gedanken blieben im Grunde gleich. Man käme nur besser mit sich aus, sei glücklicher.


Nachdem wir die Leeren getötet hatten … Es geschah, wie wir dachten, um die Menschheit aufzurütteln, aber … Zum einen, hatten sie nicht auch ein Recht auf Leben? Auch ohne Bewusstsein?

Ich hatte nie mit Phil darüber gesprochen, darum ging es ihm nicht, für ihn waren seine Aktionen immer klar definiert, das Ziel stand immer klar vor ihm. »Ich werde den Menschen ihre Heimat zurückgeben, ihre Menschlichkeit.« Davon war er überzeugt, er argumentierte gerne, aber er gab nie nach. »Man muss Eier aufbrechen, um ein Omelett zu machen«, hatte er gesagt. Und sein Schnitzel gegessen.

Hein gegenüber hatte ich meine Zweifel wegen der Leeren erwähnt, heute, nur als – Überlegung. Er zeigte sich verständnisvoll. Man würde daran arbeiten, die Körper in Gebärblasen bis zum nutzbaren Stadium heranwachsen zu lassen. Ganz ohne Gehirn, kontrolliert von der Zucht-KI. Humaner. Er sagte, er selbst habe diese Zweifel gehabt. Ich schüttelte mich bei der Vorstellung, wie der alte, verhunzte Hein, der Feind, die Menschruine, der Faltenstinker daran zweifelte, ob er seinen Körper aufgeben, wieder vital werden sollte. Oder ob es ethisch eher richtig wäre, zu vergehen. Platz zu machen, der Müdigkeit nachzugeben.

Auch das war damals nicht ungewöhnlich. Viele der wirklich alten Menschen wählten in der Übergangszeit den Tod. Ich glaube, es war sogar die Mehrzahl. Ja. Es waren jüngere Schwerkranke, die zuerst neue Körper in größeren Mengen anforderten … Bald taten es fast alle – so mit Mitte fünfzig.

Nun war ich die »letzte Jungfrau«, wie Hein gesagt hatte. Alt. Runzlig. Verhunzt. Eine Jungfrau in Sachen Leben, weil ich mich – noch – nicht für die potenzielle Langlebigkeit entschieden hatte. Die »Existenz«, wie man heute sagt, im Kontrast zur Generationenfolge. Zur »Maschine«. Weil ich, wie die Klone sagen, noch nicht in den Apfel des Lebens gebissen hatte. Ich lachte. Früher bedeutete das Wort »Jungfrau« etwas anderes, aber das ist lange her …

Ich versuchte, wieder ich zu sein, mit vierzig vielleicht … Lange her. Ich schloss die Augen und sah mich im Spiegel meiner Erinnerung. Ich war hübsch. Anziehend. Ich fühlte die Sonne auf meinem Gesicht, dem echten, auf den Konturen, die ich von früher kannte, die ich besser kannte als mein jetziges … Erscheinungsbild. Das mein echtes Antlitz unter sich begraben hatte. Es war gar nicht so schwer. Ich durfte mich nur nicht bewegen. Meine Bewegungen waren so … schwerfällig geworden. Ich – merkte, dass Hein recht hatte. Es war mein Körper, mein naturgegebener Körper, der mich gegen meinen Willen veränderte …