Die Musik der Sprache

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Die Ausdruckskraft der Melodie

Poetik, Rhetorik und Musik werden hier in einem Atemzug genannt und Anton ReichaReicha, Antoine (1814) empfiehlt das Studium seines Werkes ausdrücklich allen lyrischen Poeten, um zu begreifen, dass der Rhythmus das die Poesie und die Musik verbindende Element bildet. Der poetische Rhythmus des Textes ist nunmehr der Melodie übergeordnet.1 Damit rückt auch die ausdrucksstarke und empfindsame Melodiebildung ins Zentrum der Überlegungen und ReichaReicha, Antoine zeigt sich verwundert, dass diese bislang so wenig studiert worden sei.2

Charles Darwin führt die Überlegungen RousseauRousseau, Jean-Jacquess zu einer ursprünglichen Verbindung von Sprache und Gesang weiter aus und erklärt nicht nur, dass „musikalische Laute eine der Grundlagen für die Entwicklung der Sprache abgeben“ (Darwin, 1875: 317), sondern unterstreicht auch die Nähe der melodischen Ausdruckskraft von Sprech-und Gesangsstimme:

Der leidenschaftliche Redner, Barde3 oder Musiker hat, wenn er mit seinen abwechselnden Tönen und Cadenzen4 die stärksten Gemüthserregungen in seinen Hörern erregt, wohl kaum eine Ahnung davon, dass er dieselben Mittel benutzt, durch welche in einer äußerst entfernt zurückliegenden Periode seine halbmenschlichen Vorfahren ineinander die glühenden Leidenschaften während ihrer gegenseitigen Bewerbung und Rivalität erregten. (Darwin, 1875: 318)

Die Rolle der den Gesang imitierenden Sprechstimme wird hier deutlich hervorgehoben: Die Musik der Sprache übermittelt einen Sinn.

Melodie und Phrasierung

In diesem Zusammenhang gewinnt die Einteilung und Gestaltung der Phrasen in der Musik einen wichtigen Platz. Poeten und Grammatiker beobachten für verschiedene Satzzeichen bestimmte melodische Schlussfloskeln und Pausenlängen, und bei den Musikern bildet die Phrasierungskunst ein nunmehr wichtiges Studienobjekt. Schauspieler, Schauspielerinnen, Sänger und Sängerinnen müssen lernen, ihre Atmung genau der Struktur der Komposition anzupassen und immer genügend Luft zur Verfügung zu haben, um die jeweilige Phrase bis zum Ende gut gestalten zu können (vgl. Bsp. 17).

Louis DubrocaDubroca, Louis (1802: 321) unterscheidet generell die repos de la respiration (die Atempausen) von den repos des objets (den inhaltsbestimmten Pausen). Vor allem die zweite Kategorie kann studiert und systematisiert werden. Das Komma erlaubt nur eine fast unmerkliche Atempause und markiert einen kleinen Abschnitt im Verlauf des Satzes. Vor dem Semikolon markiert die Stimme einen leichten melodischen Abfall und die anschließende Pause muss sehr kurz sein. Melodieabfall und Pause sind ausgeprägter für den Doppelpunkt und extrem deutlich nach dem Punkt (1802: 322–325).

Die musikalische Konnotation ist noch deutlicher bei Louis Becq de Fouquères:

Die vollkommene Kadenz entspricht einer Rückkehr der Stimme zum Grundton der Tonleiter und man findet sie im Allgemeinen am Ende eines Satzes. Für Ohr und Verstand bildet sie eine endgültige Ruhepause. Die Rückkehr der Stimme zu einem mit dem Grundton harmonischen Ton der Tonleiter wird als unvollkommene Kadenz bezeichnet. Sie steht am Ende von Satzteilen und bedeutet für Ohr und Geist eine relative Ruhepause. (Becq de Fouquères, 1881)1

Das musikalische Vokabular ist mehr als eindeutig (und erschwert heutigen, musiktheoretisch vielleicht weniger gebildeten Lesern und Leserinnen beinahe die Lektüre):

 Der Grundton der Tonleiter ist der für die Tonart namengebende Ton („C“ in „C-Dur“, usw.).

 Die vollkommene Kadenz besteht in der Harmonielehre aus der Akkordfolge Dominante und Tonika. Die Tonika, das heißt die Grundtonart des Stückes, erscheint dabei mit dem Grundton in der Melodiestimme.

 Die unvollkommene Kadenz besteht ebenfalls aus der Akkordfolge Dominante und Tonika, allerdings endet die Melodie nicht auf dem Grundton, sondern auf einem der anderen Töne des Tonikaakkords.

 Die zum Grundton harmonischen Töne entsprechen den Tönen des Grundakkords (der Tonika) des Stückes.

Wenn man die musikalische Terminologie in eine leichter verständliche Sprache übersetzen möchte, so könnte die obige Passage wie folgt lauten (vgl. auch Bsp. 18):

Die für das Satzende typische Tonlage erlaubt der Stimme eine vollkommene Entspannung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier zu Ende ist. Die für das Ende eines Satzabschnitts typische Tonlage erlaubt der Stimme zwar keine vollkommene, aber doch eine relative Entspannung. Der Hörer (oder die Hörerin) versteht dadurch, dass der Satz hier noch nicht zu Ende ist.

Wissenschaft und die „Lehre vom Schönen“

Auf Seiten der Wissenschaft nimmt die Erforschung der Töne ebenfalls eine wichtige Rolle ein. In seiner Lehre von den Tonempfindungen (1863) sucht Hermann von Helmholtz (1821–1894) eine wissenschaftliche Begründung für das Wesen des „Schönen“ in einer dem Hörer und der Hörerin unbewussten realen Vernunftmäßigkeit (das heißt konkret, die Rolle der Frequenzen und verschiedenen Obertöne).

Aber besonders die ersten Phonetiker haben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidenden Einfluss auf eine neue Art, die Musik der Sprache, das heißt die Prosodie, zu untersuchen. Im Gegensatz zu Musikern, Poeten und Rhetorikern verlassen die Phonetiker die Pfade der alten Forschungsmethoden, die vor allem auf Schlussfolgerungen auf der Basis von Höreindrücken bestanden. Genaue Messungen und Berechnungen kennzeichnen die neuen, von den Phonetikern entwickelten Methoden, zu denen in Frankreich Forscher wie Jean-Pierre RousselotRousselot, Jean-Pierre, Hector MarichelleMarichelle, Hector und Léonce RoudetRoudet, Léonce wichtige Beiträge leisteten.1 Der von RousselotRousselot, Jean-Pierre entwickelte Versuchsaufbau erlaubt eine extrem exakte Transkription der melodischen und zeitlichen Entwicklung (Frequenz und Rhythmus) sowie der Geschwindigkeit der Kehlkopfschwingungen.2 RoudetRoudet, Léonce (1899) äußert sich außerordentlich begeistert dazu: „Genau das, und nichts Anderes, ist die Rolle der experimentalen Wissenschaft: Sie deckt Details auf, die unsere Sinne sonst nur gebündelt und anhand der aus ihnen resultierenden Ergebnisse wahrnehmen können!“3

2.6 Die Moderne: Wissenschaft und Emotionserforschung
Der Parameterbegriff

Diese technischen Möglichkeiten erfahren im 20. Jahrhundert bedeutende Weiter- und Neuentwicklung, die den Forschern das vergleichende Studium größerer Datenmengen und oraler Korpora erlaubten. Maurice GrammontGrammont, Maurice, Hélène-Nathalie Coustenoble, Lilias Eveline Armstrong (alle zu Beginn des Jahrhunderts) und Pierre DelattreDelattre, Pierre (Mitte des Jahrhunderts) haben verschiedene Sprachen, zum Beispiel das Französische, das Englische und das Spanische, miteinander verglichen. Dabei konnten sie zeigen, dass ein perzeptiver Unterschied in der Abgrenzung der Worte im Sprachfluss liegt, wobei im Englischen und Spanischen die Aufmerksamkeit auf das Wort, und im Französischen auf die Sinneinheit (groupe de sens) gelenkt wird (vgl. Vaissière, 2006). Die von den Phonetikern des 19. Jahrhunderts definierten drei Parameter Intonation, Rhythmus und Akzentuation werden gesondert und in Kombination studiert.

Der Parameterbegriff rückt auch bei den Komponisten serieller Musik in den Mittelpunkt. Die betrachteten Elemente sind nicht nur Tonhöhe und Tonlänge, sondern auch akustische Eigenschaften wie Intensität, Klangfarbe oder Stimmregister. Neben Pierre Boulez (1925–2016) ist besonders Olivier MessiaenMessiaen, Olivier eine wichtige (französische) Persönlichkeit auf diesem Gebiet. Verschiedene Reihen mit einer bestimmten Anzahl unterschiedlicher Tonhöhen, Anschlagsarten, Lautstärken, Rhythmen (usw.) werden nach vorab genau festgelegten Kompositionsverfahren (Variationen und Übereinanderschichtungen) miteinander kombiniert. Das Vorgehen ist nicht nur mathematisch (wie man leicht glauben könnte), sondern hat auch eine spielerische Komponente. Die Forderung einer „sprachlichen Melodie“ ist bei MessiaenMessiaen, Olivier (1944) klar ausgedrückt und die Musik ist ausdrücklich als eine Sprache definiert.1

MessiaenMessiaen, Olivier formuliert ebenfalls eine Ästhetik des Schönen und Edlen und das Streben nach religiösen Gefühlen.2 Diese durchaus traditionellen Werte werden aber bei dem Pariser Komponisten und Organisten mit neuen Mitteln angestrebt. MessiaenMessiaen, Olivier selbst beschreibt sie als eine Art Spannung zwischen den unendlichen Möglichkeiten serieller Berechnung und der mathematischer Begrenzung aufgrund des Materials (der Reihen) selbst.3

Phonostylistik und Erforschung der Gesangsstimme

In den 1960ger Jahren sind die technischen Möglichkeiten so weit fortgeschritten, dass großangelegte instrumentale Studien zur Erforschung der Zusammenhänge von perzeptiven Eindrücken und messbaren akustischen Faktoren anvisiert werden können. Damit rückt das Studium der spontanen Sprachäußerung in realen Kommunikationssituationen immer weiter in das Zentrum des Forschungsinteresses. Die Verbindungen zwischen (Norm-) Syntax und Prosodie sind bei dieser Art von Untersuchung weitaus weniger deutlich und andere Funktionen der Prosodie, wie der Ausdruck von Emotionen, Selbstdarstellung und diskursbedingte Stimmmodulationen dominieren. Die Aufteilung des Akzents in de grammaire oder tonique und in d’oratoire oder d’émotion, die sich seit dem 17. Jahrhundert in den französischen Grammatiken gezeigt hatte, spiegelt sich in den Betrachtungen der verschiedenen Parameter wider, die a) zum Verständnis des Codes und der Funktion der Aussage nötig sind, und b) zusätzliche, zum Verständnis ebenfalls wichtige Informationen (wie Stimmfärbung, Intensitätsvariationen, Atmung, usw.) übermitteln.

 

Die letzteren werden im Rahmen der von Nicolas Troubetzky ins Leben gerufenen und in Frankreich vor allem von Ivan FónagyFónagy, Ivan und Pierre Léon entwickelten Phonostylistik wichtig, die in diesem Sinne das Erbe der Rhetoriker des 16. und 17. Jahrhunderts angetreten haben. Die lange Zeit im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehenden Intonationsmuster (zum Beispiel DelattreDelattre, Pierre, 1966) werden durch Studien zu den Verbindungen von Emotionen in Musik und in Sprache komplettiert (zum Beispiel FónagyFónagy, Ivan, 1983).

Bei den Phonetikern wird die Gesangsstimme Objekt eigener Forschungsarbeiten. Dank der genauen Messmöglichkeiten kann die zeitlich unterschiedliche Organisation der Silbe in Sprache und Gesang verglichen werden (Scotto di Carlo & Autesserre, 1992). Die Unterschiede sind auf die bedeutende Verlängerung der Vokale auf Kosten der Konsonantendeutlichkeit zurückzuführen, die bei den im lyrischen Gesang (Opernschule) ausgebildeten Sängern die Regel ist. Diese Veränderung der Silbenstruktur ist auch einer der Gründe, weshalb Opernsänger und Sängerinnen oft schwer – oder gar nicht – zu verstehen sind (Scotto di Carlo, 1978). Im Unterschied zu den barocken Sängern der Lullyschen Tragédie lyrique, von denen absolute Textverständlichkeit erwartet wurde, stellt die auf die romanische Tradition zurückgehende „klassische“ Gesangstechnik die Formung der Stimme in den Vordergrund. Diese muss in erster Linie in der Lage sein, über ein großes sinfonisches Orchester hin zu tragen. Dabei wird generell die italienische Sprache mit ihrer hohen Anzahl offener Vokale bevorzugt (vgl. Schafroth, 2020).

Eine neue Texttradition: das Chanson des 20. Jahrhunderts

Paolo Zedda (1995) betont ausdrücklich die Eigenheiten des französischen Chansons: „Le chant français est un chant d’articulation!“ Der französische Gesang beruht auf der Artikulation, und das heißt vor allem, auf der deutlichen Aussprache der Konsonanten. Die große Ähnlichkeit der beiden vokalen Ausdrucksarten, Sprache und Gesang, wird dabei in anderen Bereichen als dem des Operngesangs fruchtbar eingesetzt. Besonders im Chanson après guerre ist diese Verbindung dadurch gekennzeichnet, dass die Musik im Dienste der Aussage des Textes steht. Laut Herbert Schneider (2016) zielen die Chansonsänger und Sängerinnen in der Regel auf „eine möglichst enge Zusammenführung des sprachlichen und des musikalischen Elements [ab], sodass sich eine Symbiose ergibt. Die Einheit von Text und Musik ist die beste Garantie für seinen Erfolg.“ Mit wenigen Ausnahmen verwenden die Sänger und Sängerinnen keine literarischen Gedichte, sondern bevorzugen in einem familiären Sprechstil geschriebene Texte (Rey et al., 2007: 418-419).

Textverständlichkeit wird durch die Komposition selbst, aber auch durch die Stimmbehandlung garantiert. Die Übergänge vom Singen zum Sprechgesang werden nunmehr häufig als Ausdrucksmittel genutzt. Stellenweise sind diese Übergänge so fließend, dass die Unterscheidung, ob es sich um die Sprech- oder die Gesangsstimme handelt, nicht einfach ist (vgl. Kapitel 1, Tabelle 1). Céline Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008: 129) konnte anhand einer Studie von 27 langen Chansons Léo FerréFerré, Léos1 die Bedeutung der Verwendung der Sprechstimme und der Übergangsregister zeigen: In Chansons mit einer Länge von 10 bis 15 Minuten sind im Durchschnitt nur gut 10 %2 wirklich gesungen. Bei ca. 25 % ist hauptsächlich die Gesangsstimme verwendet, mindestens eine Strophe (oder mehr) ist allerdings gesprochen. Weitere 25 % verwenden beide Stimmen gleichberechtigt und knapp 40 % sind sogar ausschließlich gesprochen.3

Die Arbeitsweise Léo FerréFerré, Léos, wie er sie in einem Interview 1975 in der Radiosendung Grand Echiquier anreißt, erinnert übrigens stark an diejenige Lullys: „Man muss improvisieren, es muss von alleine in die Tasten kommen, die Hände müssen im selben Augenblick sprechen, da die Augen die Poesie lesen.“4

Der Wechsel zwischen verschiedenen Arten stimmlicher Äußerung erlaubt eine Vervielfachung klanglicher Effekte. Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008: 131) konstatiert für Léo FerréFerré, Léo die hauptsächliche Verwendung der Sprechstimme für polemische Themen und diejenige der Gesangsstimme für affektive, zärtliche, traurige oder melancholische Inhalte. Die Sprechstimme erlaubt in besonderer Weise eine differenzierte Aussprache der Konsonanten mittels Hervorhebung oder Nivellierung ihrer akustischen Eigenschaften (Stimmhaftigkeit, Timing der Okklusion, Affrikation oder Friktion…). Die im Gesang bevorzugte regelmäßige Melodiekurve weckt die Erinnerung an zärtlich gesprochene Worte. Hauchen, Flüstern und Schreien geben, so Chabot-CanetChabot-Canet, Céline (2008), ein zusätzliches dynamisches Register, aber sobald sich ein skandierter, an einen stark akzentuierten Gedichtvortrag erinnernder Rhythmus einstellt, ist der Übergang zu musikalischen Deklamationsformen erreicht.

Die neue Bedeutung rhythmischer Elemente

Der Wille, dem Gesang für ein besseres Verständnis sprachliche Qualitäten zu geben, ist auch auf rhythmischer Ebene spürbar. Laut Bruno Joubrel (2002) bevorzugen viele Chansonsänger und Sängerinnen des 20. Jahrhunderts einen regelmäßigen und relativ gleichförmigen, der französische Sprechweise angenäherten Rhythmus und verwenden dazu eine relativ kleine Spanne von Notenwerten (zum Beispiel hauptsächlich Achtel und Viertel, oder Viertel und Halbe Noten). Desgleichen kann man eine maximale Übereinstimmung von Wortakzent und metrischer Betonung der Komposition beobachten: Der letzte accent tonique einer Zeile fällt normalerweise auf eine betonte Taktzählzeit und entspricht einer langen Note. Der rhythmische Ruhepunkt in der Musik (gefolgt von Atmung und möglicherweise einer Pause) entspricht der Atmung (mit eventuell folgender Pause) des Sprechers.

Mit Rap1 und Slam2 entstehen gegen Ende des 20. Jahrhunderts zwei ganz auf Rhythmik angelegte Formen der Stimmproduktion. Der Rap basiert auf einem fein ausgearbeiteten Wechselspiel von Perkussion und Bass, aus dem ein motorisch stimulierender Effekt entsteht. Der dazu vorgetragene Sprechgesang ist rhythmisch skandiert. Der Begriff der Skansion bezieht sich dabei auf die entsprechend den Regeln der Verslehre betonte Aussprache eines Gedichts. Laut Corinne TyszlerTyszler, Corinne (2009) ist der Rap durch ein eigenartiges, vielleicht paradox erscheinendes Phänomen gekennzeichnet: Zur Konstruktion der Sprache wird diese zunächst dekonstruiert. Das Spiel mit Klängen scheint dem Wort übergeordnet zu sein, und wenn auch der Schreibprozess der Diktion vorausgeht, so ist es doch genau diese, die die Textkomposition ermöglicht.3

Die verschiedenen Arten des Slamvortrags sind aus künstlerischen Praktiken wie der Gedichtrezitation oder dem Chanson, in der Regel ohne musikalische Begleitung, entstanden. Laut TyszlerTyszler, Corinne (2009) ist der Rhythmus hier ganz vom Atem – und vom Atemvolumen – des Slammers bestimmt. Das klassisch-romantische Ideal einer wohldurchdachten und geplanten Linienführung erfährt eine spielerische Umformung: Durch unterschiedliche Atemstellen werden verschiedene Textbausteine miteinander verbunden oder voneinander getrennt. Die daraus entstehenden Effekte können das Publikum stutzen lassen und – vielleicht – zum Nachdenken bringen.

All diesen Formen ist Eines gemein: Einen Text einfach so, ohne Künstlichkeit und Schnörkel zu sagen, ist ein schwieriger Lernprozess. Diktion, Atem, Ton, Rhythmus, Stimmresonanz, all dies spielt eine große Rolle für den Erfolg einer Performance“ (Martinez, 2007).4 Rap und Slam, die auf urbane Kulturen zurückgehen, verwenden eine für die Jugendkulturen typische Ausdrucksweise (und dies, nicht nur in Bezug auf das Vokabular, sondern auch auf die Stimmbehandlung). Die Skansion basiert auf den gewählten klanglichen Ereignissen, dem Respekt der Zeichensetzung der geschriebenen Vorlage, der Artikulation und dem natürlichen Sprechtempo des Rappers oder Slammers. In besonderer Weise wird dies im unbegleiteten Slam deutlich, wo der Sprachfluss nicht durch ein rhythmisches Grundmuster der begleitenden Musik tradiert wird. Alle klanglichen Ereignisse haben eine perkussive, motorische Funktion. Die Technik, den Rhythmus ganz vom Text her entstehen zu lassen, wird als Flow bezeichnet. Sie gilt auch für die oben zitierte Kompositionweise Léo FerréFerré, Léos.

Der Flow kann neben rhythmischen Elementen auch Intonation, Akzentuierung und Stimmmodulation betreffen. Er ist dem barocken französischen Rezitativ in dem Sinne verwandt, dass ihm, im Gegensatz zu spontanen Ausdrucksformen, ein (mehr oder weniger) periodischer rhythmischer Aspekt eigen ist. Die von Jean-Louis Calvet 1996 angesprochene Hinwendung zum Text wie sie in Gattungen wie zum Beispiel dem Rap erkennbar ist, hat sich seitdem nicht nur bestätigt, sondern, wie es scheint, eher noch verstärkt (vgl. Barret, 2008).

In den modernen Kunstformen hat sich die ästhetische Wertschätzung deutlich geändert. Das „Schöne“ ist nicht mehr durch Regelmäßigkeit und Ebenmaß gekennzeichnet, sondern entspricht der Suche nach Authentizität. Das Streben der Romantiker nach dem „Wahren“ und nach der Erkenntnis ist einer Suche nach der Ursprünglichkeit des Ausdrucks gewichen, die sich laut Corinne TyszlerTyszler, Corinne (2009) im „prosodischen Atem“ des Raps und des Slams manifestiert.5

Sicher haben die verschiedenen Disziplinen heute sehr unterschiedliche Ansätze gefunden, um prosodische Fragen zu untersuchen. Die Verbindung von Musik und Sprache wird jedoch weiterhin betont und hat selbst Eingang in die Neurowissenschaften gefunden. So betonen Emmanuel BigandBigand, Emmanuel und Barbara TillmannTillmann, Barbara (2020) nicht nur die den gleichen Bedingungen unterworfene Entwicklung sprachlicher wie musikalischer Kompetenzen, sondern auch die Analogie der Verarbeitung beider Typen vokalen Ausdrucks durch das menschliche Gehirn.

2.7 Korpus

Die den Korpus der vorliegenden Studie bildenden Texte sind hier in einer nach Disziplinen geordneten Tabelle (Tabelle 3) vorgestellt. Die anschließende Zusammenstellung in Tabelle 4 enthält die ausgewerteten literarischen und akustischen Quellen. Es folgt in einem zweiten Unterabschnitt eine kurze, alphabetisch angeordnete biographische Notiz zu den Autoren der Texte, die den Korpus bilden.