Berliner Novellen

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»Kannibalische Hitze – armer Teufel – machen Sie doch mal künstliche Atmung, Kittelmann! So – – –!“

Der Lazarettgehilfe vergoß Ströme von Schweiß; er hatte Rock und Tasche abgeworfen und arbeitete nun hemdärmelig an dem Patienten herum.

»Unangenehme Geschichte! Der Mann wird mir doch nicht eingehen?!« Der Hauptmann war sehr besorgt und zögerte noch; sein ungeduldig scharrender Gaul warf dem Untenliegenden ganze Ladungen Sand in’s Gesicht.

Da fing der Kranke unvermutet an zu lallen, ganz ungereimtes Zeug; der Unteroffizier und der Lazarettgehilfe, die sich geschäftig über ihn beugten, mußten an sich halten, um nicht laut zu lachen.

Reservist Papeczinski schimpfte, schimpfte ganz respektlos auf die »jemeine Schinderei«, auf den »verdammten Hauptmann«, und: »Olle Knöppe, die niederträchtigen blanken Knöppe!« Das klang so toll, die beiden bissen sich auf die Lippen, um nicht loszubrüllen vor Vergnügen.

»Was sagt er – was?« fragte der Hauptmann begierig vom Pferde herab; er war eben erst zum Kompaniechef befördert und nahm seine Pflichten noch sehr ernst.

»Zu Befehl, Herr Hauptmann, der Kerl ist besoffen«, meldete der Unteroffizier und stand stramm. – – –

Sie hatten sich doch geirrt: der Reservist Papeczinski war nicht betrunken gewesen – woher denn auch? Seit drei Tagen war er beim Militär, in der Augusthitze angekommen, gleich stramm in die Übung hinein; die Zeit hätte gar nicht gelangt, sich einen anzududeln, selbst wenn er das Geld gehabt hätte, was er nicht hatte.

In Berlin war’s, wo er den letzten Schluck zu sich genommen; der Schnaps-Willem hatte großmütig einen Abschiedstrunk spendiert, der war so kräftig und ausgiebig gewesen, daß Ede noch drei Tage danach ein Brennen in Schlund und Eingeweiden verspürte, als hätte er Feuer im Leibe. Und nun auf einmal hier keinen Tropfen mehr! Die Nächte lag er wach, obgleich er totmüde war, wie gebrochen an allen Gliedern, und verzweifelte vor Durst. Eine furchtbare Schlaflosigkeit quälte ihn. Nur trinken, trinken! Seine Hand tappte umher und faßte den Wasserkrug und stieß ihn doch wieder zurück – brr, Wasser! Ihn ekelte vor dem faden Soff.

Und üben, immer üben – – »Bataillon soll chargieren – geladen« – »präsentiert das Gewehr –« »zur Attacke Gewehr

rechts!«

Die Gedanken wirrten ihm durcheinander, wie Hammerschläge dröhnte es durch sein Gehirn. Ohne zu verstehen, stierte er die Kameraden an, die ihn hänselten; er stierte auch den Unteroffizier an und führte mechanisch die Kommandos aus, recht und schlecht. Schnaps, Schnaps –! Ein wütendes Verlangen peinigte ihn, dazu eine Schwäche, ein plötzlicher Verfall aller Kräfte.

Nun war er im Lazarett.

Auf die Wellblechbaracke prallte die Sonne, als wollte sie durch’s Dach hindurch brennen, hinab auf das Bett, wo er lag.

»Meningitis«, konstatierte der junge Assistenzarzt, stolz im Gefühl der eigenen Wissenschaft, und sah zugleich, devot fragend, seinen Vorgesetzten, den zweiten Stabsarzt an.

»Apoplexia cerebri nicht ausgeschlossen«, sagte dieser belehrend. –

Der Fall Papeczinski erregte Aufsehen; es war der erste Fall dieses Sommers, der erste überhaupt in hiesiger Gegend.

Und es gab Unzufriedene genug im nahen Städtchen. Ein Soldat bei einer Felddienstübung umgefallen? Unerhört! Die reine Tierquälerei! Leuteschinderei sondergleichen! Bei der Hitze! Ein Wunder, daß nicht alle den Hitzschlag gekriegt! Höchstwahrscheinlich würde der arme Mensch dran glauben müssen! Und mitleidige Frauenherzen bedauerten das arme junge Blut, um das wohl bald die liebende Mutter weinen würde.

Selbst Hauptmann von Hohensleben-Brückhorst zeigte besonderes Interesse für diesen ersten Fall in seiner Kompanie, er ließ sich nach dem Reservisten Papeczinski erkundigen.

»Wird sich schon wieder melden, wenn er gesund ist«, zischelte der Stabsarzt zwischen den Zähnen und sah wütend aus; er liebte es durchaus nicht, wenn die Vorgesetzten sich nach den Leuten erkundigten.

Die Krankheit steigerte sich rapide: die Wärter hatten ungemütliche Nächte. Papeczinski wollte durchaus in der Sonne auf einer grüngestrichenen Bank sitzen und machte Miene, zum Fenster herauszuspringen; kaum drei Mann konnten ihn bändigen. Er tobte und schrie und wehrte sich gegen die weißen Mäuse, die aus allen Winkeln huschten und frech über seine Wolldecke liefen. Mit dem Wasserkrug warf er nach ihnen, mit allem, was in der Nähe des Bettes stand. Die Eisumschläge riß er sich ab und heulte: »Huh, huh!« Krämpfe zogen seine Glieder zusammen und reckten sie dann wieder aus, wilde Delirien quälten ihn. Er hatte keinen lichten Moment mehr.

Im Städtchen sprach man jetzt mit hochgezogenen Brauen von »Typhus«, und daß dieser Erkrankungsfall gewiß nicht vereinzelt bleiben würde; Mütter, deren Söhne in absehbarer Zeit auch zum Militär sollten, beunruhigten schon ihre Gemüter.

Die Ärzte umstanden das Krankenlager; sie waren sich nicht ganz einig. Der erste Stabsarzt neigte sich der Version »typhöses Fieber« zu und verordnete kalte Bäder und Chinin, der zweite Stabsarzt und der Assistent blieben bei ihrer Ansicht und waren mehr für andere Mittel.

Der wohlbewanderte Lazarettgehilfe war noch anderer Meinung.

»Ä was«, grinste er hinter den Herren drein, zupfte sich an seiner roten Nase und blinzelte pfiffig, »ä was, hat sich was mit Typhus und was noch allens! Quatsch! Wat ich jloobe: Delirium. Delirium hat das versoffene Schwein! Det janz jemeene Säuferdelirium!«

Am vierten Tag war der Reservist Papeczinski gestorben.

– – – – – – – – – – – – –

Die guten Bürger des Städtchens standen vor ihren Türen, als der Leichenzug passierte. Das arme Opfer! Manch einer ballte heimlich die Faust im Sack; die Frauen blickten mitleidsvoll, Kinder liefen nebenher mit neugierig staunenden Augen und offenen Mäulern.

Wenigstens ein schönes Begräbnis hatte er! Acht Mann trugen den gelben Sarg, zwanzig andere trotteten hinterdrein mit gesenkten Köpfen.

Voran schritt der Hauptmann: Schärpe an der Seite, Helm auf dem Haupte; die helle Sonne bestrahlte die Helmspitze, daß sie weithin blendete wie ein Blitz. Er tat, was über seine Pflicht war, aber dieser erste Todesfall in seiner Kompanie hatte eben sein ganzes Interesse; was sollte er dem armen Kerl da nicht die besondere Ehre antun?

Martialisch, geradauf gerichtet, folgte auch ein Unteroffizier, das Gesicht wie aus Erz gegossen; er zuckte mit keiner Wimper, und fluchte doch innerlich: Wie die Kerle schlichen! Wie die Hammel, die zur Schlachtbank geführt werden! Wie sie die Mäuler verschlafen hängen ließen! Kreuzbombenelement, Schockschwerenot, das war aber auch ein Pech, heut am Sonnabendnachmittag, den man sonst frei hatte, wegen so’nem dämlichen Luder den weiten sonnigen Weg zum Kirchhof zotteln zu müssen!

Am Grabe machten sie halt. Da wartete schon der Geistliche.

»Helm ab zum Gebet!«

Die Hände falteten sich. Der Geistliche machte es kurz, aber warm; sie standen alle in der prallen Sonne. Auf so und so viel blanken Helmspitzen spielte sie und entzündete leuchtende sprühende Funkenblitze. Sie konnte sich heute gar nicht genug tun mit sieghaftem Scheinen, bis hinunter in die Gruft goß sie ihre goldene Glanzfülle und wob eine reiche Gloriole um Ede Papeczinskis Grab.

Und der Geistliche schloß:

»Er starb, ein braver Soldat, im Dienste seines Königs!«

Das Los

Im Prenzlauer Viertel spielten viele kleine Leute. Man muß dem Glück die Hand bieten. Bis man’s mit dem Grünkramkeller oder der Mehl- und Vorkosthandlung oder der Stehbierhalle zum Rentier brachte, wurde man so alt und müde, daß man dann nichts mehr hatte vom Nichtstun.

Der Budiker an der Ecke der Prenzlauer- und Hirtenstraße spielte meist ein Viertellos für sich allein; sonst teilten sich ihrer drei, vier, bisweilen zehn, zwölf und oft noch mehr in ein Viertel. So hoch war dann der Einsatz nicht, daß man ihn nicht hätte absparen können; wenn man auch jeden Groschen nötig hatte, die Hoffnung auf das Glück, die war doch besser noch als die paar Mark in der Tasche, die gingen ja sowieso drauf. Und wenn man bei der Ziehung nicht herauskam, nicht einmal mit dem Einsatz, so war das zwar sehr ärgerlich, und an dem Tag tranken die Männer beim Budiker einen extra, und die Frauen klagten noch mehr als sonst über schlechte Zeiten, aber wenn man einmal Pech hatte, mußte man es darum das nächste Mal wieder haben? O nein, im Gegenteil; das Schicksal war einem ja sowieso Revanche schuldig für so manches und vieles. Und wenn der Buchbinder, der noch vor zehn Jahren hier in seinem winzigen Kramlädchen Schreibmaterialien und Gratulationskarten verkauft hatte, nicht immer und immer wieder gespielt hätte, obgleich seine Frau, seine Kinder so blaß und dürr aussahen, als würden sie nie satt, er wäre nun und nimmer der reiche Mann geworden, der er jetzt war, draußen in Berlin W. Wie eine Sage ging’s von ihm durch das Prenzlauer Viertel.

Fräulein Alwine Fleder, die Hausdame von Rechtsanwalt Blumenfeld in der Prenzlauerstraße, spielte auch. Schon seit Jahren.

Als sie heute in das Bureau des Lotterie-Einnehmers trat, hatte sie ein erregtes Rot auf den Wangen, und die Hand, mit der sie das Geld auf das vom vielen Gebrauch splitterig und schwärzlich gewordene Holz des Zahltisches hinlegte, zitterte leicht.

»Nanu, Fräulein Fleder?« Der Buchhalter, der sie schon lange kannte, sah sie durch seine Brille scharf an. Er war von seinem Stehpult weggetreten und beugte sich nun zu ihr über die Schranke des Zahltisches. »Was ’s denn mit Ihnen los? Nu, wollen Sie doch weiterspielen?«

Sie murmelte etwas. Er verstand sie nicht gut.

»Was? Und das janze Viertel wollen Sie spielen?«

»Ja,« sagte sie, und das Rot auf ihren Wangen verflog wieder.

 

»Na, das is recht!« Herr Bleschke lachte. »Wenn Sie jewinnen, was sollen Sie denn erst mit’n andern teilen? Und daß Sie einmal jewinnen, da möchte ich jut for sagen: ich hab’s so in’n Jefühl!«

»Ich auch!« Das Fräulein lächelte ein wenig. Aber dann kam wieder die unbestimmte Angst in ihren Blick, mit der sie schon hier eingetreten war, und die sie rot und blaß gemacht hatte. »Wenn ich nich fest dran glaubte, würde ich nich das ganze Viertel riskieren, aber so –!«

Ein träumerisches Licht glomm in ihren Augen auf, tiefer Ernst zog ihr schmales, langes Gesicht noch mehr in die Länge, und sich näher zu dem Bekannten über die Schranke hinneigend, sagte sie fast feierlich: »Meine Mutter ist mir im Traume erschienen. Das bedeutet was. Ich hatte gerade am Abend so viel drüber nachgedacht, ob ich weiterspielen sollte oder nich. Ich habe mich ordentlich gequält. Meine Bekannte, die Sekretär Maus, mit der ich sonst immer das Viertel spielte, will ja nu durchaus nich mehr. Aber, man möchte nichts verpassen – und man möchte doch auch wieder nich unnütz Geld ausgeben. Ach Gott, man ist zu schlecht dran, wenn man keine Menschenseele hat, mit der man sich mal aussprechen kann! Herr Rechtsanwalt sagt immer: ich soll nich. Und lacht: ich hätte zuviel Glück in der Liebe!« Ein bitterer Zug zog ihre Mundwinkel abwärts. »Aber ich habe ja noch nie was gewonnen, nich in der Liebe, nich in der Lotterie. Nu, wer’ ich’s doch noch einmal versuchen. Es ist mir so, als hätte mir Mutter ein Zeichen geben wollen!« Sie seufzte, legte die Hand auf das pochende Herz und starrte ins Leere, als sähe sie in unbegrenzte Weiten.

Nebenan öffnete sich die Tür, der Chef selber trat aus seinem Privatkontor. Man sah ihm den früheren Offizier noch an.

Fräulein Fleder war zusammengefahren, sie hatte sich erschrocken; das Türknarren und der unvermutete Eintritt hatten sie herausgerissen aus einer langen, langen Kette von Gedanken.

Der Lotterie-Einnehmer begrüßte sie freundlich. »Auch wieder da, Fräulein? Wollen wieder Ihr Glück versuchen? Na, wir wollen hoffen!«

Sie war verwirrt und empfahl sich bald.

»Hat die Person aber gealtert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe,« sagte der Chef zum Buchhalter. »War doch noch ein ganz ansehnliches Mädchen, wenn ich mich recht erinnere. Scheint sehr nervös zu sein!«

»Sie war aufgeregt; sie bildet sich fest ein, sie gewinnt diesmal!« Der Buchhalter, der eben die Eintragung machte, blickte nur flüchtig auf. Aber dann schmunzelte er in sein Hauptbuch hinein: »Wird schon wieder frische werden. Wenn die ordentlich was jewinnt, kriegt die auch noch ’nen Mann!« –

Das alte Mädchen war aus dem Hause getreten. Es wendete noch einmal den Kopf im Fortgehen und sah zurück nach dort, wo das große Schild mit dem Adler im Wappen prangte:

Königlich Preußische

Lotterie-Einnahme.

Sie seufzte auf: ja, nun war sie doch wieder da eingetreten! Und sie hatte doch nicht mehr spielen wollen! Die Maus hatte ganz recht, dies Bureau mit der großen Inschrift, die man von weither sah, ob man von rechts kam, ob man von links kam, die einen förmlich von der anderen Straßenseite herüberzog, war die reine Versuchung. Die Maus schimpfte und sagte: spielen wäre verboten, jede Spielhölle würde aufgehoben, und ob denn dieses Bureau was Besseres wäre?! Die arme Maus, sie hatte nun schon eine Menge verspielt! Ach ja, – Fräulein Fleder nickte – viele Mark hatte auch sie schon hierhergetragen in dieses Bureau, Geld, das sie sich sauer verdient hatte! Herr Rechtsanwalt war ja sehr gut und kümmerte sich eigentlich gar nicht darum, was sie tat oder nicht tat, wenn er nur nach der Sprechstunde sein Essen hatte und die Taschentücher rein in der Schublade fand und die Knöpfe an seinen Hemden. Sie war wie die Frau, wie die Herrin vom Haus – ach, sie war ja doch keine Frau, und es war doch sauer verdientes Geld! Nur im Eignen ist es eine Freude, zu arbeiten; hier war es trotz allem und allem immer ein Muß. Möchte das Glück doch die Hand ergreifen, die sie ihm so zitternd, so flehentlich hinstreckte! – – Was wollte denn die Mutter, die ihr im Traume erschienen war, anderes, als des Kindes Glück?! Sie hatte die Tochter immer so lieb gehabt. Es war etwas Beunruhigendes, etwas Drängendes in ihren Mienen gewesen, sie hatte genickt: ja. Was sollte das anderes heißen, was anderes bedeuten, als ein Ja auf die grübelnden Fragen, mit denen sich die Tochter am Abend herumgeschlagen hatte, schlaflos in ihrem Bette liegend?! Aber Träume sind Schäume, sagt man!

Ein Zweifel wollte wieder sich regen, eine Reue, leise, ganz verstohlen, in Fräulein Fleders Seele: fünfzig Mark waren viel Geld. Siebenundzwanzig Mark im Monat hatte sie nur bisher gehabt, seit dem letzten Neujahr erst hatte Herr Rechtsanwalt ihr etwas zugelegt – und man mußte doch auch sparen auf die alten Tage, wenn man nicht mehr in Stellung sein konnte. Fünfhundert Mark hatte sie erst in der Sparkasse. Solange die Eltern noch lebten, hatte sie alles, aber auch alles nach Hause geschickt – die waren ja alt und konnten nichts mehr verdienen – und dann kamen die Beerdingungen, die kosteten viel; erst der Vater vor sieben Jahren, dann die Mutter vor fünf Jahren. Von da an hatte sie erst zurücklegen können. O Gott, wie konnte sie nur so leichtsinnig sein und ein ganzes Viertel für sich allein spielen?!

Nun sie es in der Tasche heimtrug, dünkte dieses leichte Blättchen Papier ihr schwer wie Blei. So viel, so viel Geld hinzugeben für eine einzige Hoffnung! Hätte es die Hälfte vom Viertel wie bisher nicht auch getan, wäre ein Zehntel nicht genug gewesen? Nein!

Entschlossen richtete sich Fräulein Fleder grade auf und ging mit eiligen Schritten die lange Straße hinauf, der Zentralmarkthalle auf dem Alexanderplatz zu. Heute war Freitag, heute abend sollte Herr Rechtsanwalt Butterfische haben mit Klößchen in der Sauce – nein, jetzt galt es: entweder ein großes Glück oder gar keins!

Diesen Abend schlief Fräulein Fleder ganz beruhigt ein, schnell und fest. Sie hatte das Gefühl, schon das Glück bei einem Zipfel erwischt zu haben. Herr Rechtsanwalt hatte sie geneckt beim Abendbrot: »Na, Flederchen, wer hat Ihnen denn heute ’nen Antrag gemacht? Sie haben ja eine Miene wie ’ne Siegesgöttin!« Sonst hatte sie solche Neckerei schwer gekränkt, heute gab sie mit lachendem Mund die Antwort darauf: »Mir ist kein Antrag gemacht worden, Herr Rechtsanwalt, ich habe selber einen gemacht!« Und sie lächelte geheimnisvoll.

Und als er weggegangen war zu seiner Freitag-Skatpartie bei den Verwandten, setzte sie sich ans Klavier. Sie hatte es lange nicht getan, die Finger standen ihr nicht mehr danach und auch nicht der Sinn. Damals, als es ihren Eltern noch gut ging und sie noch siebzehn Jahre war, da hatte sie guten Klavierunterricht genossen, den besten in Neustadt an der Dosse; sie hatte mal sehr hübsch gespielt.

Ihre Finger suchten und tippten auf den Tasten herum, alte Melodien, heitere Tänze schwirrten ihr durch den Kopf; sie mühte sich, sie zusammenzubringen. Auf die Spielende herunter blickte die verstorbene Frau Rechtsanwalt, ihr Portrait hing über’m Klavier. Fräulein Fleder mit ihren entrückten Blicken sah hinauf und war gleich wieder in der Wirklichkeit: nein, nein, die Verstorbene brauchte nicht so streng auf sie herunter zu schauen und die roten Lippen mit dem blauen Flaum darüber so hochmütig zu wölben. Ach Gott nein, sie dachte ja gar nicht daran, hier den Platz der Frau einnehmen zu wollen, sie war sich wohl bewußt, daß sie nur Herrn Rechtsanwalts Haushälterin war; sie war nur so frei und spielte ein bißchen Klavier!

Ihre Finger stolperten, aus war’s mit der Kunst. Ein paar Takte noch, und dann brachte sie’s schon nicht mehr weiter. Ach!

Mit einem Seufzer ließ sie die Hände in den Schoß sinken, ihre Augen umflorten sich. Es war eine Sehnsucht in ihr nach Freude und Glück, eine Sehnsucht, die sie vor sich selber nicht so benannte; eine Sehnsucht, wie sie sie wohl immer schon mit sich herumgetragen hatte in einsamer Seele, die ihr aber noch nie so zum Bewußtsein gekommen war, wie gerade heute. Man will doch auch einmal glücklich sein! – – – – –

Die Tage gingen hin. Im steten Einerlei des Haushalts, bei der täglich sich wiederholenden Promenade zum Kaufmann, zum Schlächter und wenn nötig zur Markthalle, gingen sie sogar sehr rasch hin. Es war wenig Abwechslung in Fräulein Fleders Leben, denn Sonntags ging sie auch selten aus. Wohin sollte sie auch? Vergnügungen kosteten Geld, und allein, so ganz allein sind es ja auch nicht einmal Vergnügungen.

»Flederchen, Sie müssen doch Schätze sammeln?« sagte Herr Blumenfeld, als er ihr das Gehalt auszahlte.

Schätze? Du liebe Zeit! Sie lächelte wehmütig. Der Gang bis zum Berliner Zimmer war so lang, und das ewige Hin und Her zwischen Küche und Vorderwohnung, das verbrauchte zum mindesten ein Paar Hausschuhe im Monat. Und was man sonst noch alles brauchte! Aber dann hob sie den gesenkten Kopf, in ihren Augen glänzte etwas auf: das war die Hoffnung.

Sie hätte es nicht sagen können, auf was sie hoffte. Auf das Los natürlich, aber dann war’s ihr doch mitunter, als sei das Geld, das man gewinnen könnte, nicht das Begehrenswerteste. Es gab doch noch andere Dinge, die begehrenswerter waren. Gesundheit zum Beispiel. Ach ja, ein bißchen gesünder möchte sie wohl sein! Das viele Stehen am Herd wurde ihr schwer, sehr schwer, oft mußte sie sich seufzend auf den nächsten Stuhl setzen. Immer hatte sie eine Schwere in den Gliedern, ein schwaches, müdes Gefühl im Leibe; keine Schmerzen – nur zu Zeiten – aber dann hätte sie auch schreien mögen. Und das Kreuz war ihr oft wie zerbrochen. Sie sollte sich nicht recken, sich nicht anstrengen, nicht schwer heben, hatte ihr der junge Arzt gesagt. Recht hatte er gewiß, aber wie sollte sie das alles vermeiden? Sie konnte sich doch nicht jedesmal eine Trittleiter holen, nur um den Mörser oder einen Topf vom Küchenhort herunter zu langen? Und heben! Man kann doch nicht immer einen Pagen hinter sich haben, der alles hebt und trägt, was einem etwa zu schwer sein könnte?! Wenn sie das nicht mehr konnte, dann konnte sie auch nicht mehr in Stellung sein – und was dann?!

Vor jener Zeit, da sie die Hoffnung gehabt hatte, die ganz bestimmte Hoffnung, waren oft Stunden einer düsteren Verzweiflung über Fräulein Fleder gekommen. Falten hatten sich in ihrem Antlitz eingezeichnet, die es vordem noch nicht gehabt hatte. Der Kassenarzt hatte sie zu einem Kollegen geschickt; sie hatte großes Vertrauen zu dem jungen Doktor in der Lothringerstraße – aber operieren?! Oh wie schrecklich! Nein, operieren ließ sie sich nicht. Lieber zugrunde gehen, lieber bald sterben, als sich so unters Messer liefern, zudem noch sie, eine unverheiratete Person! Fest verschloß sie ihre Sorgen in sich; niemand durfte davon wissen. Sie schämte sich; wer weiß, am Ende wurde es auch so besser! Der Arzt hatte ja auch nicht gesagt, daß die Operation unumgänglich nötig sei, er hatte sie nur für wünschenswert gehalten. Nein, nein!

Mit beiden Händen, als wollte sie etwas Entsetzliches von sich stoßen, wehrte die Furchtsame ab. Nein, eher sprang sie zum Fenster hinaus, vom dritten Stock hinab auf den Asphalt, als daß sie sich operieren ließe. Nie, niemals!

Es schien auch so, als ob es jetzt besser wurde. Fräulein Fleder ging nicht mehr zu ihrem Arzt – wozu auch? Sie fühlte sich ja ganz wohl. Sehr wohl.

Es war augenscheinlich, sie legte mehr Sorgfalt auf ihre Toilette. Als sie im hellen Sonnenschein eines Tages in den Spiegel sah, fand sie, daß sie sich doch zu solide, nein mehr als das, zu bescheiden kleidete. Sie legte sich ein weißes Krägelchen zu und eine rote Schleife, die ihren matten Teint ein wenig hob; machte sich auch das Haar kleidsamer.

Die Aufwartefrau, die morgens kam und die grobe Arbeit verrichtete, war eitel Bewunderung: »Nee, aber Freileinchen, haben Sie sich heite niedlich jemacht!« Diese Anerkennung bestärkte sie nur darin, etwas mehr auf diese Verschönerung zu wenden. Sie studierte bei ihren Besorgungswegen die Schaufenster; freilich, im Prenzlauer Viertel war die Mode nicht sehr elegant, aber wenn man bis zum Alexanderplatz ging oder bis zur Königsstraße, konnte man so viel Schönes sehen wie in der Leipziger.

Wenn sie einer gefragt hätte, warum sie sich jetzt putzte, sie hätte die Antwort schuldig bleiben müssen. Sie fühlte nur unklar, daß, nimmt man eine gewisse Stellung ein – die Stellung, die das Vermögen einem gibt – man auch verpflichtet ist, sich nicht wie ein armes Dienstmädel zu kleiden. Und dann wollte sie auch gern gefallen. Wem?! Das wußte sie nicht. Aber es mußte schön sein, wenn man einem gut gefiel, so gut, daß er sagte: »Fräulein, wollen Sie meine Frau werden?« Es hatte sich ihr noch nie einer in zärtlicher Absicht genähert; zu Liebeleien war sie zu solide, zum Heiraten hatte sie nicht genug gehabt.

 

Wenn sie lange Abende ganz allein zu Hause verbrachte, stützte sie den Kopf in die Hand und beugte sich, als läge ein Geschick auf ihr. Das Bureau war geschlossen, Herr Rechtsanwalt nach dem Abendbrot ins Grüne gegangen, nichts regte sich in der Wohnung. Das Berlin war so groß, im Prenzlauer Viertel wohnten so viele Menschen, und doch war sie so allein!

Aber dann richtete sich die Einsame resolut auf und strich sich über die Stirn; sie lächelte sogar: wer weiß, wie noch alles kam!

Daß es Hochsommer geworden war, das merkte Fräulein Fleder nur daran, daß die Fliegen in der Küche surrten, und daß ein Mann auf dem Hofe schrie: »Fliejenstöcker, Fliejenstöcker!« –

Die erste Ziehung war im Juli. Sie sah gar nicht nach in der Zeitung; wenn sie gewonnen hätte, würde man sie es schon wissen lassen. Herr Bleschke, der Buchhalter, kannte sie ja ganz gut. Als sie nichts vernahm, ging sie nur wieder hin, um ihr Viertel zu erneuern. Herr Bleschke war gerade nicht da, ein junger Kommis, der sie noch nicht kannte, fertigte sie ab, und stillschweigend ging sie wieder. Merkwürdig, wie ruhig sie jetzt war! Es regte sie gar nicht auf, daß sie in der ersten Klasse nicht herausgekommen war; sie hatte ja noch vier Klassen vor sich. –

Die zweite Ziehung war Mitte August. Daß sie wieder nicht unter den Gewinnern war, focht sie nicht an: auch ihre Zeit kam!

Die dritte Ziehung war im September. Da sah sie denn doch in der Zeitung nach – halt, beinah! Ihre Losnummer war 12 345 – und 54 321 hatte gewonnen: zehntausend Mark. Ganz schön. Aber doch lange nicht genug. Zehntausend Mark sind noch kein großes Vermögen! Sie wurde unverschämt in ihrer Hoffnungssicherheit. –

Die vierte Ziehung war im Oktober. »Na, passen Sie auf, diesmal aber!« hatte Herr Bleschke zu ihr gesagt. Es war wieder nichts.

Als sie zur fünften und letzten Klasse einzahlen ging, war sie sehr bleich, so bleich, daß der Lotterie-Einnehmer, der selber zugegen war, zu ihr sagte: »Setzen Sie sich doch!« Aber mit Energie überwand sie die Schwäche, sie setzte sich nicht; hochaufgerichtet blieb sie vor der Schranke stehen und nahm mit sicherer Hand ihr Los in Empfang. Sie gewann es sogar über sich, zu lächeln und, als der Herr Einnehmer sagte: »Sie spielen schon so lange, man muß den Mut nicht verlieren, einmal kommt’s doch!« – ruhig zu sagen: »Es kommt!« Erhobenen Hauptes ging sie aus der Tür; ihre zarte Gestalt war ordentlich größer geworden, sie reckte sich wie zum Kampfe.

Als sie diesen Abend in ihr Stübchen kam, öffnete sie das Fenster und sah zum Himmel auf. Alle Sterne blitzten, aber über dem dunklen Höfchen stand einer, der leuchtete heller als alle anderen, mit wunderbarem Licht – das war das Auge der Mutter, das blickte auf sie herab, und eine Stimme sprach von irgendwo her: »Du bist eine gute Tochter gewesen!« Kam diese Stimme vom Himmel herab, stieg sie aus der eigenen Seele empor? Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlgehe – aus der längst vergessenen Predigerstunde schwebte das unklar noch in Fräulein Fleders Gedächtnis. O ja, ihr Gewissen war gut, sie hatte das Gebot treulich gehalten, nun gehörte auch die Verheißung ihr!

Die schaurige Herbstluft fächelte sie lind und angenehm an, wie mit liebevollen Händen strich es ihr um Wangen und Kinn. Noch als sie schon im Bette lag, fühlte sie dieses liebevolle Streicheln. –

Fräulein Fleder war gar nicht dumm, und abergläubisch war sie auch nicht, sonst wäre sie zu einer Kartenlegerin gegangen und hätte sich sagen lassen, ob ihr Los in der fünften Ziehung herauskäme oder nicht. Sie brauchte das nicht zu tun.

Lange war sie nicht in der Kirche gewesen, sie hatte es sich abgewöhnt in der großen Stadt; jetzt ging sie. Und als den Sonntag darauf zu schlechtes Wetter war, schloß sie sich, während die Kirchenglocken durch das Brausen der Straßen und das Rauschen des Regens schwach zu ihr herübertönten, in ihre Stube ein und lauschte dem Läuten am geöffneten Fenster. Sie würde den Braten eben eine halbe Stunde später in die Röhre schieben; jetzt betete sie. Es war ein Angst- und Stoßgebet. Nun war sie doch in Unruhe. O diese Qual des Wartens, diese gespannte Hoffnung! Sie fing an, entsetzlich zu werden.

Am Nachmittag hielt Fräulein Fleder es nicht mehr aus so allein – noch acht Tage, und die fünfte und letzte Ziehung war da! Trotz rauschenden Spätherbstregens beschloß sie, zur Maus zu gehen. Ihr Herr war erstaunt, als sie um den Schlüssel bat. Natürlich konnte sie ausgehen! Aber er wunderte sich. Bleich wie eine Verbrecherin stand sie vor ihm. Und als sie auf der Treppe war, reute sie der Ausgang schon fast. Sollte sie nicht doch lieber zu Hause bleiben? Der Regen pladderte; wer es nicht nötig hatte auszugehen, blieb wirklich besser zu Hause. Und es war so schaurig kalt! Fröstelnd zog sie ihr Cape fester um sich und hielt sich den Schirm dichter über den Kopf. Die Winde stöhnten. Aber das war’s nicht, was sie zurückhielt. Etwas war in ihr, das sagte: »Geh lieber nicht!« – und doch trieb sie’s hin. Sie stapfte tapfer durch Wind und Wasser.

Die Maus wohnte in der Linienstraße, und da diese lang ist, war es ein tüchtiger Weg bis zur Nummer 135. Den Kleidersaum durchnäßt, die Füße auch, kam Fräulein Fleder bei der Freundin an. Diese war nicht allein; Maus’ hatten Besuch.

Herrn Maus’ Vetter aus Landsberg an der Warthe – auch ein Herr Maus – war da. Er saß in der Sofaecke und hielt das jüngste Mäuschen auf dem Schoß. »Wie’n jelernter Vater,« sagte Frau Maus und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Herr Maus schmunzelte: »Du solltest dich auch nu ranhalten, Fritze, Zeit wär’s!« Sie mochten den Vetter gut leiden.

Er war auch wirklich ein netter Mensch. Handwerker – man sah es an seinen Händen – und nun wollte er hier in Berlin gern eine Polier- und Möbeltischlerei aufmachen. Landsberg war doch nur eine kleine Stadt und der Verdienst auch danach. Wenn hier nur nicht soviel Betriebskapital nötig wäre! Er seufzte, und seine gutmütigen blauen Augen sahen mit einem ganz schwermütigen Ausdruck vor sich hin.

Ja, das war wahr, in Berlin mußte man Geld haben, da kostete alles doppelt! Das Ehepaar Maus stimmte mit ihm darin überein.

»Aber man hat doch hier eine ganz andere Chance, voran zu kommen,« sagte Fräulein Fleder. Dem stimmte nun wiederum Herr Maus aus Landsberg zu.

Die Unterhaltung wurde sehr lebhaft. Fräulein Fleder kam vor der Hand gar nicht dazu, von dem zu sprechen, was sie eigentlich hergeführt hatte. Erst als sie mit der Maus in die Küche ging, um ihr beim Abendbrotherrichten zu helfen, ließ sie sich auf einen Schemel fallen und seufzte: »Mir ist so bange!«

»Sie sehen auch janz schauderhaft mitjenommen aus,« sagte die Freundin.

Als Frau Maus erfuhr, warum es Fräulein Fleder so bange war, war sie erst ganz empört: so was hinter ihrem Rücken zu tun! Am Ende hätte sie doch wieder mitgespielt! Und dann begann sie auf die Lotterie mächtig zu schimpfen: eine Gaunerei, eine Verführung, weiter nichts; die war nur da, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu locken. Man gewann ja doch in seinem Leben nichts!

Da raffte sich Fräulein Fleder auf: man gewann doch! Ihre Augen funkelten, ihre Stimme war stark; sie war beredt wie sonst nicht. Es war die überzeugende Kraft sicherer Hoffnungsseligkeit, die aus ihr sprach. Fort waren alle Zweifel; nun sie ihren Glauben angegriffen sah, wurde er um so fester.

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