Fahlmann

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Dass solche Streitereien im Hause Fahlmann an der Tagesordnung waren, hätte Heinz’ Weltbild erschüttert: Für ihn war Susanne eine Göttin, und die Tatsache, dass ich mit ihr zusammenwohnte, was mich dazu berechtigte, sie nackt unter der Dusche zu sehen und mit ihr im selben Bett zu schlafen, erhob mich in den Rang eines Halbgotts, dem man so viel wie möglich über das Alltagsleben der Göttin entlocken musste; etwas, das Heinz in der entwaffnenden Unschuld des Ahnungslosen fortgesetzt versuchte, indem er unsere Gespräche mehr oder weniger geschickt in pikante Gewässer steuerte: Wer von uns zuerst ins Bad gehe, wer morgens als Erster wach werde, Geburten seien doch was Fürchterliches, Mann! Er wolle keine Frau sein! Die müssen der die Poperzel wieder zunähen! Und die Nachgeburt ist so ein Oschi! Ob ich eigentlich bei Jens’ Geburt zusehen durfte? Und war ich mal schlecht gelaunt, folgerte Heinz natürlich, Susanne habe ihre Tage, und lachte: «Dann ist wohl Handbetrieb angesagt!» Manchmal tat er mir mit seiner unbeholfenen Sehnsucht, Intimitäten über Susanne in Erfahrung zu bringen, so leid, dass ich kleine «Geheimnisse» preisgab. Etwa indem ich ihm berichtete, sie habe sich eine viel zu enge Jeans gekauft. Nach einer solchen Information konnte ich beobachten, wie hinter Heinz’ Stirn eine Maschinerie aus Bewunderung und Furcht zu werkeln begann. Furcht? Trifft es das? Hatte Heinz wirklich Angst vor Susanne? Ich denke schon. Er hatte zwar keine Probleme damit, ihr aus dem Wagen Zweideutigkeiten zuzugrölen, aber war er mit ihr allein im selben Zimmer, bekam er kalte Füße. Einmal hatte ich Großvater zum Augenarzt gefahren, während Heinz unseren Badezimmerboiler reparierte. Als ich zurückkam, empfing mich im zugequalmten Flur («Bei einer solchen Fummelei muss ich einfach fluppen!») eine verunsicherte Susanne: «Das war voll psycho! Der Heinz hat nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Ist der irgendwie sauer auf mich?» – «Wer weiß!», sagte ich und behielt die Wahrheit für mich.

Ich betrachtete die tief und fest schlafende Schöne nicht ohne Neid, denn in den meisten Nächten hatten meine Gedanken freie Fahrt auf allen Bahnen. Erst huschten sie über den Jahrmarkt, lungerten an den Buden rum, vertrieben sich die Zeit mit Dosenwerfen, Luftgewehren und Zuckerwatte, dann fuhren sie auf den Karussells, bis ihnen schlecht wurde, und am Ende zog es sie magnetisch, Wolfgang, in die Geisterbahn. Hinter jeder Kurve lauerte derzeit ein Wolfgang. Als Skelett, als Toilettenpapier-Mumie, als zottiger Yeti. Doch am unheimlichsten war er als er selbst. Dachte ich an Wolfgang, musste ich an Susannes Arbeit denken. Dachte ich an Susannes Arbeit, musste ich an Wolfgang denken. Ich musste in diesem Sommer viel zu oft an Wolfgang und Susannes Arbeit denken.

Meine Frau arbeitete fünf Tage die Woche im Edeka-Lager. Von acht bis zwölf fuhr sie dort eine elektrische Ameise, lud irgendwelche Waren auf und karrte sie in der Gegend rum. Spannte sie ihren Bizeps an, konnte ich trotz Sargtragens nicht mithalten: Zack!, macht es, Susanne presst meinen Unterarm auf die Tischplatte, und Jens gibt ein kränkendes Krähen von sich. Für die vier Stunden Ameise zahlte man Susanne knapp sechzig Mark, nicht gerade viel, aber wenn sie nach Hause kam, zauberte sie stets Schmuggelware wie Kaugummis oder Zahnpasta aus den Jackentaschen. «Täglich gehn so viele Sachen zu Bruch, das fällt gar nicht ins Gewicht.» Sie zuckte mit den Achseln. «Außerdem macht das dort jeder!»

Neben mir tastete Susanne nach der Decke, ich breitete sie über ihren Busen und zog mich auf meine Seite zurück. Meine Füße zeigten nach Westen. Dort schützte mich eine fensterlose Wand voller Bücherregale vor dem Anblick des Beerdigungsinstituts. Sagt er uns, welche Bücher im Schlafzimmer stehen? Ja, das tut er, aber er tut es nicht gern. Hier standen hauptsächlich Science-Fiction- und Kriminalromane, die nicht ins Wohnzimmer durften. Niemand brauchte zu wissen, was ich exzessiv las. Mein Kopf zeigte auf den begehbaren Einbauschrank; er nahm die Ostwand gänzlich ein; Schiebetüren, Mottenkugeln, Klamotten, langweilig. Nordnordwest erhob sich die glückliche Insel meines Lesesessels, hartnord spiegelte sich die Glühbirne der Nachttischlampe in einem vorhanglosen Fenster, südwestlich erstreckte sich das Geröllfeld von Susannes abgelegten Kleidern bis zur Schlafzimmertür. Totgeknüllte Blusen streichelten flugunfähige BHs, Hosen versuchten sich vergeblich aufzurichten, Socken krochen in verknotete Shorts, ich löschte das Licht, über der Wiese hinterm Haus formierten sich helle Punkte zu unbekannten Sternbildern, eine Wolke zerschnitt den Mond, Wolfgang, meine Gedanken entschlossen sich zu einer weiteren Fahrt in der Geisterbahn, ich knipste das Licht wieder an, nahm das Buch vom Nachttisch, war zu müde, um zu lesen, betrachtete das Titelbild. Mitchum sieht einfach nicht wie Philip Marlowe aus. Susanne mochte es ganz und gar nicht, wenn ich ihr solche Sachen erzählte. Das wäre klugscheißerisch. So ein Unfug! «Wenn du wissen willst, was klugscheißerisch ist», hatte ich mich einmal empört, «dann hör dir das an!» Und ich improvisierte: «Dass ich ein Frosch sei, / Behauptetest du. / Das mag wohl sein. / Ich sag nicht ja, / Ich sag nicht nein.» – Susanne dachte angestrengt nach, man konnte förmlich Rad in Rad greifen sehen, und sagte dann: «Du Vollidiot!» Ihre Arbeitskollegen hielten mich auch für einen Vollidioten, aber damit konnte ich leben, beruhte es doch auf Gegenseitigkeit. Ich verstand nicht, wieso Susanne Wert darauf legte, die Mittagspause mit ihren Kollegen zu verbringen. «Kümmer dich um deine Angelegenheiten», hatte sie gesagt, als ich mit ihr darüber reden wollte, «und komm bloß nicht wieder auf die Schnapsidee, mich auf der Arbeit zu überraschen!» Das hatte ich tatsächlich einmal getan – ein Fiasko! Wenige Minuten nach zwölf parkte ich den Leichenwagen unweit des Edeka-Lagers in einem Wendehammer und ging die letzten Meter zu Fuß. LKWs brausten vorbei, es gab keinen Bürgersteig, Steinchen spritzten. Als ich mich dem Schlagbaum näherte, hob er sich automatisch. Dahinter mündete die Zufahrtsstraße in eine rissige Betonfläche, wo Dutzende von LKWs die langgestreckte Rampe des Lagers umschwirrten. Befehle wurden gebrüllt, näher ran, noch näher, stopp, nicht zu nah, ich stieg eine steile Metalltreppe ohne Geländer hoch, öffnete eine Stahltür und befand mich in einer Vorhalle, von der zahllose Gänge abzweigten: Gänge mit Süßigkeiten, Gänge mit Getränkekästen, Gänge mit Dosenfisch, Klopapier und Scheuermilch.

Durch das verzweigte Labyrinth, das mich an die Szenarien erinnerte, mit denen Jens seinen Gameboy fütterte, huschten Ameisen; Gabelstapler kurvten auf den Linien unsichtbarer Schnittmuster durch die fensterlose Halle; Zombies sprangen ab, hetzten zur Rampe, beluden die LKWs. Zombies nannte Susanne diejenigen ihrer Kollegen, «die 150 % arbeiten», sie selbst kam meist «auf 110 %», außer an dem Tag, als sie sich «am Glasbruch» den Zeigefinger aufgeschnitten hatte. Das mit den Prozentzahlen habe ich nie richtig verstanden. Ist auch nicht weiter wichtig. Kann also getrost vergessen werden. «Ich suche eine Frau Susanne Fahlmann.» – «Kantine», sagte das leere Gesicht. «Macht Mittag.» Die Kantine erwies sich als schmaler Schlauch von Raum, der lediglich einer Selbstbedienungstheke und einer Reihe Biertische mitsamt Bänken Platz bot. Zusammen mit mir hatte eine dicke Frau den Raum betreten und füllte ihn nun dünstend aus. Waden wie Keulen, Brüste wie geplatzte Airbags, das Beinfett hing ihr als schlechtsitzender Fleischstrumpf über die Sandalen. Hier also verbrachte Susanne ihre Mittage! Ich sah feixende Gesichter, sah verlebte Gesichter, sah dumme Gesichter (leicht zu erkennen am stumpf vorgereckten Kinn), sah platte Nasen, sah trübe Augen, sah mittendrin meine Susanne.

Sie erschrak, als sie bemerkte, wer da hinter den Rückenfalten der Fetten hervorspähte, hatte sich jedoch gleich wieder im Griff und winkte mir zu. Mit eingezogenem Bauch quetschte ich mich an der lawinengleichen Erscheinung vorbei, grüßte tapfer in die Runde, setzte mich zu Susanne und schnorrte aus Verlegenheit eine Zigarette von einer der Plattnasen. Stille. Seit ich mich an den Tisch gesetzt hatte, redete keiner mehr. Susanne aß hastig ihren Tomatensalat, ohne den Blick vom Schälchen zu heben. Neben ihr saß ein junger Mann mit weißem Haar. Im Unterschied zu den übrigen Tischgenossen beobachtete er mich scharf, fast abschätzend. Das war wohl dieser Wolfgang, der immer bei uns anrief. Rief er an, klang Susannes Stimme anders als sonst. Sie lachte zu viel und zu laut, und kam sie danach zurück ins Wohnzimmer, machte sie ein Gesicht, als hätte sie etwas zu verbergen; aber weil es schon viele Gespräche über meine «krankhafte Eifersucht» gegeben hatte, riss ich mich zusammen, ließ den Albino weiterglotzen und schritt selbst dann nicht ein, als er meine Frau «Susi» nannte. Sein «Susi» klang nach Ehebruch. Ich drückte die Zigarette in einem Unterteller aus, setzte den Weißhaarigen an die Spitze der Schwarzen Liste und sagte kühl und beherrscht: «Schatz, wir müssen los!» Noch niemals zuvor hatte ich Susanne «Schatz» genannt.

Sie bewegte sich im Schlaf, drehte sich auf die rechte Seite, die Decke rutschte von der Schulter, und die unterbrochene Linie der Wirbeldornfortsätze straffte die Haut zwischen den Schulterblättern: eine Reminiszenz an unsere Sterblichkeit in Knochensprache. Ich deckte ihren Rücken zu. «Du bist noch wach?», fragte sie halb im Schlaf. Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte, und flüsterte: «Ja, aber ich mach jetzt das Licht aus.» Die Nachttischlampe erlosch, und während sich nordnordwest die beleibte Kontur des Lesesessels aus der Schwärze schälte, erinnerte sich das Schlafzimmer an die fürchterliche Heimfahrt. «Wenigstens bist du nicht mit diesem Ding vorgefahren», hatte Susanne gesagt, als sie sich auf den Beifahrersitz des Transits schwang. Ich verwandelte den Blinker in eine tickende Uhr, Rückspiegel, Seitenspiegel, ich fuhr an, beschleunigte, überholte einen LKW, schaltete in den zweiten Gang, fragte: «Was magst du an diesen Menschen?» – «Wie meinst du das?» – «Die nennen dich Susi.» – «Ja, und?» – «Was ist ein Susi?» – «Hahaha!», ärgerte sich Susanne, starrte aus dem Fenster. Ich musterte sie verstohlen von der Seite: Sie sah großartig aus. Tu es endlich! Jetzt mach schon, du Feigling! Und ich gab meiner Stimme diesen nachsichtig herablassenden Tonfall, den Susanne so hasste, und fragte: «Sag mal ehrlich! Würdest du auch gerne von mir Susi genannt werden?» – «Ach, halt die Klappe!»

 

Ihr Umgangston war merklich rauer, seit sie mit diesen Menschen zusammenarbeitete. Wie gerne hätte ich sie nun gefragt, ob sie allein wegen Jens bei mir bliebe – aber was, wenn sie ja sagte? «Es sollte eine Überraschung sein.» – «Klasse.» – «Das mach ich jetzt täglich.» – «Klasse.» – «Ich bring Heinz mit und wir tragen dich im Sarg raus.» – «Toll», sagte Susanne und versuchte sich an einem Lächeln. Ich akzeptierte das Friedensangebot und schlug in gespielter Begeisterung vor, Jens von der Schule abzuholen. Der habe nämlich keine solchen Schwierigkeiten mit Leichenwagen wie sie, und diese unbedachte Äußerung, Zigarette, brachte das Fass, Glas Milch, beinahe wieder zum Überlaufen, Glas Milch und Zigarette … jetzt. Vier tastende Schritte West. Vier zaghafte Schritte Süd. Umrunden Sie das Bett, ohne sich die Schienbeine zu prellen, und nehmen Sie Kurs auf die Tür im Südosten des Schlafzimmers! Ich hob die Füße kaum vom Boden, Spitzbergen, Spitzbergen, wir fahren nach Spitzbergen, meine Hausschuhe bahnten sich, kleine Eisbrecher, den Weg durch Susannes Krempel, im Flur harrte ich lauschend aus, Jens hatte einen leichten Schlaf, und erst als es im Kinderzimmer weiterhin still blieb, ließ ich mich vom fahlen Rechteck der offenen Küchentür verschlucken. Silberfischchen auf der Flucht, der Kühlschrank öffnete sich, übergoss den gekachelten Fußboden und die gestreiften Beine meiner Pyjamahose mit käsigem Licht, dem Türfach entschwebte eine Packung Milch, dann saugte die zufallende Tür das Licht zurück ins grönländische Innere. Erstarren. Lauschen. Leiser sein! Ich nahm ein verhalten klirrendes Glas aus dem Schrank über der Spüle, wunderte mich, dass beim Öffnen der Schranktür nicht ebenfalls ein Licht anging wie im Kühlschrank, schenkte das Glas voll, lehnte mich an die Leibung des Küchenfensters.

Dort rauchte ich eine milde Zigarette (die Senior Service spare ich für feierliche Momente auf), trank die Milch in kleinen Zügen, gut gegen Sodbrennen, unten ging die Klospülung. Mutter war noch wach. Oft hörten wir sie pinkeln: mit sattem, unverklemmtem Strahl. Susanne: «Das macht die extra!» Ich: «Quatsch. Das hat sie früher nie gemacht. Wahrscheinlich lässt sie die Klotür offen, seit sie allein lebt, und vergisst, dass sie dadurch den Wohnungsflur in einen Resonanzkörper verwandelt.» Das Rauschen erstarb in den Rohren, und das Knistern der Zigarette wurde zum einzigen Geräusch der Nacht. Gegenüber erfüllte bläuliches Flackern Onkel Jörgs Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Mutter hatte sich immer über «Onkel Jörgs Filme» aufgeregt. «Wir spielen nur Karten», rechtfertigte sich Vater. – «Von wegen!» Mutter lächelte anzüglich. «Ich weiß doch, was ihr treibt, wenn ihr drüben die Vorhänge zuzieht!» Es passte nicht zu Vater, dass er sich mit seinem Bruder Filme wie Das fröhliche Fotzentrio ansah. Der Titel ist keine Erfindung von mir. Ich hatte die Hülle dieses Films als Kind unter Onkel Jörgs Kommode entdeckt: Zwei splitternackte lächelnde Frauen zogen einer ebenfalls nackten Schwarzen, die sich spreizbeinig zwischen ihnen bückte und dem Betrachter zuvorkommenderweise das Hinterteil zukehrte, die Arschbacken auseinander.

Kaum vorstellbar, dass mein verklemmter Vater sich so etwas ansah! Normalerweise machten ihn bereits Kussszenen verlegen: Er verließ das Wohnzimmer, wenn ich mit Mutter Drei Engel für Charlie ansah (hier wurde lange und ausgiebig geküsst) – und dann heimlich rüber zu Onkel Jörg, fröhliches Fotzentrio und hoch die Tassen! Unten klapperte Katzentür Nummer Eins. Kam Vater aus dem Bad, hatte er – im Gegensatz zu Mutter – ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Katzentür Nummer Zwei klapperte auf unserer Etage, und sofort schnurrte Om um meine Beine und rieb den Kopf mit berechnender Zärtlichkeit an den Waden, bis ich mich seiner erbarmte und einen Schluck der Milch in eine Untertasse gab. Kaum stand sie vor dem Kater, verlor er das Interesse daran und begann stattdessen seinen Schnurrbart zu putzen. Wegen dieses auffällig buschigen Barts hatte ich ihn Albert Schweitzer nennen wollen. Das schien mir passend. Außerdem gefiel mir die Vorstellung, dass sich mit dieser Namenswahl die Wiese hinterm Haus in Lambaréné verwandeln würde, Regionshauptstadt in Gabun, 26.300 Einwohner, Moschee, modernes staatl. Krankenhaus, Flughafen. Aber Susanne hatte natürlich was dagegen gehabt, die blöde Kuh!

Der Kater unterbrach das große Reinemachen, um mich hinter einem hochgereckten Hinterbein hervor argwöhnisch zu mustern. «Milch», erklärte ich geduldig auf die Untertasse zeigend. «Feine Milch. Das mögen Katzen.» Ich nahm einen tiefen Zug, löschte die Glut im Aschenbecher. Die Augen des Katers reflektierten das schwache Licht in der Küche. Dann senkte er den Blick, die Pupillen wurden groß und dunkel, und mit einem zum Fragezeichen gekrümmten Schwanz stolzierte er Richtung Kinderzimmer davon, wo er, wenn er nicht auswärts schlief, seine Nächte verbrachte. Er weckte Jens nie auf. Selbst morgens ließ er ihn weiterschlafen und machte vor unserer Schlafzimmertür solange Rabatz, bis der gute alte Onkel Dosenöffner, der auch sehr zäh sein konnte, endlich aufstand, um dem Pelzwecker eine stinkende Büchse Katzenfutter zu öffnen. Lassen Sie sich nicht von der Munterkeit des Stils täuschen. Erst später entdeckt man im Anfang den Plan. Sagen die, die es wissen müssen. Hoffen wir, sie sind ehrlicher, als ich es bin.

Fahlmann stellte das Glas auf einen Stapel schmutzigen Geschirrs, leerte den Aschenbecher, nahm sich vor, morgen den Müll runterzubringen, Mittwoch, im Flur stand der Kater und starrte. Fahlmann, Mittwoch, starrte zurück. Mit einem empörten Maunzen verschwand Om in Jens’ Zimmer. Mittwoch. «Sie sind Philip Marlowe, ein Privatdetektiv?» – «Sehn Sie nach.» Als ich Montemar Vista erreichte und es in dem Kriminalroman bereits zu dämmern begann, hielt ich das für einen guten Anlass, das Licht zu löschen und mir meinen Tod vorzustellen. Heinz stehen die Tränen in den Augen. «Oh, Gott!» Er wendet sich ab und legt Onkel Jörg den Kopf auf die Schulter. «Wieso er? Wieso ausgerechnet er?»

Sogar im Halbschlaf merkte ich, dass die Dialoge eine Spur zu pathetisch ausfielen, hatte aber weder Zeit noch Lust, mich um solche Bagatellen zu kümmern, denn schon wirft sich eine weinende Susanne über den Sarg. Vater (das Gesetz von Zeit und Raum hat längst seine Gültigkeit verloren) nimmt Mutter in den Arm: «Er war ein guter Junge!», die Sonne verfinstert sich, eloi, eloi, lema sabachtani, und lässig auf einen Grabstein gestützt prahlt Winkler vor den versammelten Reportern: «Naturellement, mesdames et messieurs! Natürlich hat er mich autorisiert, seine Werkausgabe herauszugeben.» Aber das ist noch gar nichts! Während meiner Schulzeit hatte mich meine überschwängliche Begeisterung fürs Dramatische zu weitaus gewagteren Szenen hingerissen. Klassenarbeit Erdkunde, splitternd fliegt die Tür auf, ein Polizist mit vernarbtem Gesicht hechtet ins Klassenzimmer der 8a, rollt sich geschickt ab und lässt die Mündung seiner Waffe über die Bankreihen streichen. Hinter ihm erscheinen weitere Polizisten. «Wer von Ihnen ist Georg Fahlmann?» Ein hagerer, finster dreinschauender Kommissar im Trenchcoat tritt vor. – «Wer will das wissen?», frage ich. – «Wir brauchen Ihre Hilfe, Fahlmann!» Plötzlich fährt er herum und schnappt: «Wer ist dieser Knilch?» – «Das ist Herr Schöppke.» Ich mache eine abfällige Handbewegung. «Ein Erdkundelehrer.» Urkunden werden überreicht, Handgranaten detonieren, Maschinengewehrgarben zerfetzen meine Mitschüler, ich steige in den wartenden Jeep. Bereits auf dem Lehrerparkplatz fallen die ersten Schüsse. «Das ist ein Hinterhalt. Sie hat ihnen alles verraten. Man darf niemals – Papa?» Ich schaltete das Licht an. Es war Jens.

«Was gibts?»

«Om stinkt.»

«Aha.» Wieso steht er auf meiner Bettseite, obwohl sich Susannes Seite näher an der Tür befindet? «Nach was stinkt er denn?» Jens kicherte vielsagend, und ich brachte erst ihn ins Bett, packte dann Om im Genick, trug ihn ins Bad und duschte sein Hinterteil mit lauwarmem Wasser ab. «Was warn los?», fragte Susanne, als ich mich wieder hinlegte.

«Schlaf weiter!», sagte ich.

«Gute Nacht!», sagte ich.

Pause. «Gute Nacht!», sagte ich etwas lauter.

«Gute Nacht!», sagte Susanne.

«Haben Sie Interesse, für das FBI zu arbeiten?», fragte der hagere Kommissar und sah mich abwartend an.

3Ich bin der einzige Mensch, über den ich nie einen Roman schreiben könnte, bekannte ich in jenem Sommer meinem Notizbuch. Ich habe keinen hervorstechenden Charakterzug, nichts, bei dem der Leser sagen würde: «Aha, das ist Georg Fahlmann!» Ich bestehe aus unverbundenen Taten, Gedanken, Ängsten und einem dürren aber leidlich gesunden Körper. Ich stehe morgens am Fenster und werde nicht wach, ich schlafe abends schlecht ein und stelle mir meine Beerdigung vor. Ich habe nicht einmal einen Tic wie jede siebte Figur bei Thomas Mann, und oft weiß ich nicht, wer oder was ich eigentlich bin. Ich verschwende viel Zeit meines ereignislosen Lebens, mich an ereignislose Zeiten zu erinnern und mir etwa zu überlegen, wieso es mich belastet, dass ich im Sportunterricht nie die Kletterstange hochgekommen bin. Nachtrag: Eben ist mir noch jemand eingefallen, über den ich nie einen Roman schreiben könnte: unser neuer Briefträger.

Das letzte Wort erhebt sich in Großbuchstaben über die zittrigen Krakel meiner Handschrift. Und dass es mit zornigen Strichen eingekästelt ist, zeigt mir, wie schwer mir der Mann damals zusetzte. Heute erinnere ich mich der Gefühle und Empfindungen meines früheren Ichs mit gewisser Wehmut, obiger Notiz, nebenbei bemerkt, mit ungläubiger Scham: Die Klage, ein ereignisloses Leben zu führen, erscheint mir leichtfertig, denn nach allem, was mir inzwischen widerfahren ist, hat die Verknüpfung der Worte «ereignislos» und «Leben» einen fast idyllischen Beigeschmack. Eigentlich ist es unerheblich für mein Vorhaben, aber da ich den Briefträger nun aus den Kellern der Erinnerung hinauf ins Parterre gezerrt habe, will ich ihn da nicht verloren stehen lassen – inmitten der abgedeckten Sessel und Stühle. Anfangs hatte ich gedacht: Der lernts noch, aber als Wochen und Monate ins Land gingen und ich meine Briefe weiterhin in der Nachbarschaft zusammensuchen musste, weil er meine Post nach mysteriösen Kriterien auf fremde Briefkästen verteilte, platzte mir der Kragen. Ich wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, um ihm die Leviten zu lesen, und als ich ihn einige Tage später die Straße entlangwatscheln sah (ich kam mit dem Leichenwagen vom Getränkemarkt Zarth zurück), dachte ich: So Freundchen, jetzt bist du fällig! Ich fuhr an ihm vorbei, parkte zehn Meter weiter. Ein Dackel, der vor der Metzgerei Kundel an einem Laternenmast festgebunden war, wir müssen draußen bleiben, mahnte das Schild auf der Glastür, Wurst, Wurst, Schinken, lockte das Innere des Ladens, beobachtete, wie ich ausstieg und mich in Halbstarkenmanier an die geöffnete Wagentür lehnte. Der Bauch des Dackels hing durch, einige Häuser straßab verschwand der Briefträger hinter einem Zaun, tauchte wieder auf, bog in einen Gartenweg, seine Mütze schwamm auf einer Hagebuttenhecke, und schon saß sie wieder auf seinem Kopf. Ich überlegte, was ich sagen sollte. Ohne stehen zu bleiben, wühlte der Briefträger in seiner schweren Tasche. Ein Ausspruch Philip Marlowes geisterte mir durch den Kopf: Ich hör die Parzen mit den Scheren klappern, aber bestimmt wusste der Briefträger nicht, was Parzen sind. «Die was?», würde er fragen und damit alles ruinieren. Es gab andere Möglichkeiten. «Ab heute können Sie Ihre Briefe in der Hölle austragen.» Schrotflinte unter die Nase und abgedrückt. Hurra, Aufregung, das Dackel-Frauchen verließ die Metzgerei, hurra, wuff, hurra, jetzt fessle ich mich mal mit meiner Leine, Wurst, Wurst, Schinken, «halt mal bitte still», Wurst, sie band den Köter los, Schinken, wuff, prima Schinken, ist das etwa Fleischwurst, «hier, mein Schatz», sie hielt ihm ein Stück Wurst unter die Schnauze, und endlich näherte sich der Briefträger, links die lederne Posttasche, rechts eine böse Schlagseite.

«Entschuldigen Sie», begann ich zaghaft, «ich muss mir die Post immer in der Nachbarschaft zusammensuchen.» Das Ärgernis schnaufte, es war sehr jung, es war sehr fett, es sah mich verständnislos an. Frau Kundel glotzte aus dem Schaufenster der Metzgerei; ich nickte ihr freundlich zu. Dem Briefträger hing hellblondes, verschwitztes Haar in die Stirn, über seiner dicken Oberlippe spross das schüttere Bärtchen eines Dreizehnjährigen, und dass er trotz akuter Atemnot eine Zigarette rauchte, machte mich betroffen. Ebenfalls milde stimmte mich sein kränkliches Aussehen: Unter den Fischaugen glänzten feuchte Ränder, das bartlose Fleisch der Wangen und des Halses war leicht gerötet. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und fragte: «Ihre Post zusammensuchen?» Ich würde ihn gar nicht erst auf die Schwarze Liste setzen. «Bei den Nachbarn», erklärte ich. «Die Post ist nicht in meinem Briefkasten.» – «Ah, ich mach was falsch.» Er seufzte so ausgiebig, dass sich seinem Doppelkinn die Gelegenheit bot, nach dem Krawattenknoten zu schnappen. «Sie ahnen nicht, wie oft mir so was passiert. Tut mir sehr leid. Ist mein Fehler. Ich versprech Ihnen, es wird nie wieder vorkommen!» – «So schlimm ist es auch nicht. Ich wollte nur …» – «Es wird nie wieder vorkommen! Wie war Ihr Name, sagten Sie?» – «Fahlmann. Georg Fahlmann.» – «Fahlmann», er schaute an mir vorbei, «vom», er las die Beschriftung des Transits: «Beerdigungsinstitut Georg Fahlmann.» Erst amüsierte es mich, dass er Gebr. für eine Abkürzung meines Vornamens hielt, aber dann begriff ich die Tragweite dieser Fehlleistung. Ich hätte ihn nie mit dem Transit abfangen dürfen! Nun hatte sich nämlich der durchaus klug kombinierte Zusammenhang Georg-Fahlmann-fährt-einen-Leichenwagen-auf-dem-sein-Name-steht in den Windungen seines Gehirns verhakt. Rasch versuchte ich zu retten, was noch zu retten war.

 

«Das mit dem Auto hat nichts zu sagen. Ich wohne zwar neben dem Beerdigungsinstitut Gebrüder Fahlmann», hierbei zeigte ich auf den Transit, «habe dieses Auto», ich zeigte wieder auf den Transit, «aber nur geliehen. Fahlmann. Das ist mein Name. Georg Fahlmann. Nebenan. Ich wohne ne-ben-an. Neben dem Institut. Also die Post bitte ne-ben-an in den Briefkasten werfen!» Der Briefträger quittierte den Dammbruch des Stausees von Informationistan mit einem Kopfnicken. Dann meinte er ernst: «Ich habe Post für Sie, Herr Georg Fahlmann», wobei es ihm in rührender Weise misslang, seiner Stimme einen amtlichen Tonfall zu geben. Er kramte in der Umhängetasche. Wieso benutzt er kein Wägelchen wie alle Briefträger? Die Tasche war vollgestopft. Außerdem stand eine Flasche Sprudel darin. Waldquelle. Mit wenig Kohlensäure. Der Anblick dieser Flasche erschütterte mich so sehr, dass ich mit einem harschen «Werfen Sie mir die Post doch einfach in den Briefkasten!» in den Transit stieg.

Am Nachmittag holte ich die Post bei Onkel Jörg ab.

«Über was regst du dich eigentlich so auf?», fragte Susanne.

«Ich rege mich darüber auf, dass ich mich nicht mehr über etwas aufregen kann, über das man sich eigentlich aufregen müsste. Aus irgendwelchen sentimentalen Gründen …»

«Wer ist man?»

«Man bin immer ich.» Man stand am Küchenfenster, sah aber nicht hinaus, sondern Susanne und Jens an, die frühstückten. «Ich rege mich darüber auf, dass die Post nicht kommt.»

«Aber du regst dich nicht mehr über den Briefträger auf.»

«Nein. Irgendwie tut er mir leid.»

«Weil er so fett ist?», fragte Jens aufgeregt.

«Auch deshalb», sagte ich.

«Und die Sprudelflasche?», hakte er nach.

«Die hat dem Fass die Krone ins Gesicht geschlagen.»

Jens lachte übertrieben, um zu zeigen, dass er sich auskannte. Sie quälten ihn seit einigen Wochen mit Sprichwörtern. Wer im Glashaus sitzt, fragte die linke Spalte, und in der rechten musste mein Sohn unter so verlockend blöden Angeboten wie ist seines Glückes Schmied oder hat Gold im Mund die richtige (aber ernüchternd langweilige) Satzhälfte aufspüren. Seine Lehrerin strengte sich mächtig an, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verblöden. Wie konnte sie einem Siebenjährigen Unfug vom Kaliber eines einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul beibringen, ohne ihm zu erklären, dass es sich bei einem Gaul um ein Pferd handelt, dass man das Alter eines Pferds am Gebiss bestimmen kann, dass man also nicht schauen darf, wie alt das Pferd ist, das man geschenkt bekommt, um den Schenker nicht zu kränken, und so weiter, und so weiter, und so weiter.

«Einem geschenkten Barsch», sagte ich, «schaut man nicht in den …»

«Georg!», sagte Susanne.

«Arsch!», brüllte Jens. Kakaogetränkte Krümel flogen aus seinem Mund.

«Nicht mit vollem Mund sprechen!», rief Susanne.

«Glashaus währt am längsten», ergänzte ich selbstgefällig und zwinkerte Jens dabei zu.

Ich hätte damals gerne mehr Zeit mit ihm verbracht, aber morgens musste er in die Schule, und sie brachten ihm Blödsinn bei, nachmittags machte er mit «Oma Marianne» blödsinnige Hausaufgaben, um den vormittäglichen Blödsinn zu vertiefen, und danach spielte er draußen mit Florian, bis um sechs Uhr die Glocken läuteten. Abends hingegen las ich ihm vor oder bemühte mich, ihm das beizubringen, was seine Lehrerin nicht wusste oder für unwichtig hielt. Zum Ereifern gab es für mich kein besseres Thema als Jens’ Hausaufgaben. Susanne regten andere Dinge auf. Drei Häuser weiter hielten sie Hühner. Kurz nach seiner Einschulung hatte Jens herausgefunden, dass er den Hahn zum Krähen bringen konnte, indem er mit meiner Faschingstrompete trötete, und eines Morgens ließ er sich von mir wecken, und wir schlichen um vier Uhr dreißig zum Flurfenster, Jens trötete, und kurz darauf hörten wir ein fassungsloses Krähen. Der Hahn gab keine Ruhe mehr, bis es hell wurde. Susanne hatte es unverantwortlich gefunden, dass ich «solche Aktionen» förderte, aber wie oft im Leben bietet sich einem schon die Gelegenheit, einen Hahn zu wecken?

«Irgendwann werde ich es ihm beigebracht haben.»

«Wem was?», fragte Susanne.

«Dem Briefträger», sagte ich, «das mit der Post.»

«Deine Probleme möchte ich haben.»

«Und ich deine.» Ich trat hinter sie, hob ihr Haar an und küsste sie ins Genick: Ihre Haut war zart und roch gut. Jens kicherte, wie immer, wenn sich seine Eltern küssten. Susanne lächelte, ich stellte mich wieder ans Fenster, drüben rannte eine nackte Gestalt durch die Wohnung. Die Etage über dem Beerdigungsinstitut hatte beide Augen weit aufgerissen: Onkel Jörg lüftete gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer. Das linke Fenster zeigte mir Couch und Fernseher, das rechte ein zerwühltes Doppelbett. Die nackte Gestalt hatte das Schlafzimmer verlassen, doch leider war sie nicht mehr im Flur hinter der offenen Wohnzimmertür erschienen: Das Badezimmer (von dessen Existenz nur der rostnasige Propeller eines Ventilators zwischen den Fensteraugen kündete) hatte sie verschluckt.

«Onkel Jörg läuft nackt durch die Wohnung!», sagte ich.

«Wo?» Jens presste die Nase an die Scheibe.

«Im Schlafzimmer. Vielleicht sieht man ihn gleich wieder.»

Doch leider blieb Onkel Jörg verschwunden. Nach einer Weile setzte Jens sich wieder enttäuscht an den Frühstückstisch und erweckte den Anschein, das letzte Drittel des Brötchens aufzuessen.