Fahlmann

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Das Schwitzen war ein weiterer Punkt, den Bahlow als höchst unerfreulich vermerkte. Unter seinen Armen hingen Schweißmonde, das atmende Hemd saugte sich am Rücken fest, unentwegt fischte die Zungenspitze salzige Perlen von der Oberlippe. Von den fünf mzungus schwitzte Salinski am meisten, Bahlow teilte sich mit Hennig einen guten zweiten Platz, Janensch gewann Bronze, und von Geinitz, der überhaupt nicht zu schwitzen schien, saß einige Meter vom Pavillon entfernt in der Dunkelheit und kommentierte das Gespräch mit abfälligen Bemerkungen; bisweilen schenkte ihm sein Boy weißen Rum ein, gab Zitronensaft hinzu, rührte einen gehäuften Löffel Zucker in das hohe Wasserglas; gelegentlich schwebte der rote Glutstern einer Zigarette davon, tanzte vor dem Sternenhimmel und malte, ehe er verlosch, eine kopfstehende, funkenstiebende Parabel in die Nacht.

Die spöttischen Bemerkungen des Sicherheitsbeauftragten bezogen sich meist auf die Notwendigkeit und den wissenschaftlichen Wert der Expedition. Schwärmte Hennig, wie bedeutend die Funde des Tages seien, grunzte es in der Dunkelheit: «In der Tat! Famose Knochen!» Malte Janensch sich beim Entkorken der Schnapsflasche aus, wie prallgefüllt mit ostafrikanischen Fundstücken die Räume des Berliner Geologisch-Paläontologischen Universitäts-Instituts und Museums bald seien, merkte von Geinitz trocken an: «Die Berliner Hunde werden es Ihnen danken.» Die vier Zivilisten maßen seinen Bemerkungen keine übertriebene Bedeutung bei. Sie ertrugen ihn und widersprachen ihm nicht; niemand wollte es sich mit dem Mann verscherzen, der sich um die Fleischversorgung und den allmorgendlichen Weckdienst kümmerte; außerdem lehnte an von Geinitz’ Stuhl ein Gewehr, und man wusste ja nie, wann der nächste unverhoffte Besuch eines Löwen ins Haus stand.

Löwen ante muros, hatte Hennig seiner Braut vor einigen Wochen geschrieben. Häsi weiß bestimmt nicht, was damit gemeint ist, dachte Bahlow. «Was heißt ante muros?» Mit einer entschlossenen Bewegung schiebt ihr der Leutnant den Unterrock hoch, hält kurz inne – «Das interessiert dich doch nicht wirklich!» – und dreht sie mit sanftem Nachdruck auf den Bauch. Wie alt mochte sie sein? Sechzehn? Siebzehn? Oder vielleicht zwölf? «Warum beobachten Sie mich?» – «Weil ich soeben begriffen habe», sagte Salinski, «dass es Ihnen besser geht als gestern. Mir ist nämlich nicht entgangen, dass Sie heute eine Pillenschachtel zum Nachtfaltersammeln in den Pavillon mitgebracht haben. Das freut mich, freut mich sogar sehr. Bald schon, Doktor Bahlow, glauben Sie mir, wird Ihr Aufenthalt am Tendaguru ganz im sechsbeinigen Zeichen der Entomologie stehen!»

Diese Einschätzung bewahrheitete sich, und bald durchstreifte Bahlow auf Käferjagd die yangwa und führte in den Nächten Lichtfänge mit dem Gerät durch, das von der Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas nach dem Prototyp angefertigt worden war, der Dr. Fülleborn vor einigen Jahren in der Station Langenburg am deutsch-ostafrikanischen Nyassasee gute Dienste geleistet hatte: Eine Blechrinne mit senkrechten Wänden, von 5 cm Tiefe und 4 cm Breite bildet ein Quadrat, das innerlich 12, äusserlich 20 cm Seitenlänge hat (Fig.1.). In dieser Rinne sind an den vier Ecken (…) trapezförmige Platten von glattem Milchglase (…) eine gewöhnliche Küchenpetroleumlampe mit nicht zu kleinem Rundbrenner (L) in das Quadrat, schiebe die Glasscheiben ein und gieße in die Rinne verdünnten Alkohol (etwa 30–40 %), ehe man den Lichtselbstfänger in Obhut des zuverlässigen Nägele zurücklässt, ihm einschärft, nur ja nicht einzuschlafen, und schon kleidet samtiger Anislikör die Mundhöhle aus und verhindert, dass man den Kontakt zu Kuider jemals wieder verliert.

«Wie geht es Ihren Käferchen?», fragte Janensch eines Abends im Pavillon.

«Bestens. Den könnte es nicht besser gehen! Gab es irgendwelche erwähnenswerten Funde?»

Auf die Frage hatte Hennig gewartet. Die marine Entstehung der Saurierschichten werde immer wahrscheinlicher, vollziehe sich doch der petrographische Unterschied ihres lockeren mergligen Gesteins gegen die grobkörnigen bis konglomeratischen Zwischenschichten in allmählichen Übergängen; an der Grenze kämen sogar Saurierknochen zusammen mit Belemniten vor. «Das sind», erklärte er den Unkundigen, «Skelettreste von tintenfischartigen Seetieren.»

«Aha», sagte Bahlow, dem der Begriff aus dem Dossier geläufig war. «Das werde ich mir merken.»

«Noch einen», Affenschnattern, «Likör?»

«Nein danke, ich denke, ich habe genug.»

Bevor er zu Bett ging, goss er den Inhalt der Quadratrinne in eine flache Schale, spülte gut nach und kippte den Fang in ein Glas mit starkem Alkohol. Die Lichtfänge würde er privat nutzen, indem er nach seiner Heimkehr einen Aufsatz über die hoffentlich bahnbrechenden Ergebnisse veröffentlichte. So und nicht anders ebnet man sich den Weg zur Professur! Und sollte es ihm vergönnt sein, eine neue Spezies zu entdecken, würde sie seinen Namen tragen. Ich danke Ihnen für die mir erwiesene Ehre und werde alles daransetzen, mich der hohen Auszeichnung (Fabricius-Medaille) auch in Zukunft würdig zu erweisen. Vom Signieren (Über einige von Dr. Bahlow ausgeführte Lichtfänge in Deutsch-Ostafrika, Verlag R. Friedländer & Sohn, Berlin, 1911) tut das Handgelenk weh. Der Kaiser schickt eine anerkennende Note. Die Droschkenkutscher kennen meinen Namen. Und hat der täppische Fülleborn nicht sogar eine neue Leucospidine am Nyassasee gefunden? Und wartet die Fachwelt nicht gespannt auf meine Funde? «Damals in Afrika», beginnt die Rede, und alle Mädchen im Publikum sehen bezaubert auf. Bahlow zog die Decke über das Sternum und lauschte mit wachsender Behaglichkeit dem Vortrag, den er bei der Deutschen Entomologischen Gesellschaft halten würde. «Sehr geehrte Damen und Herren, ich spreche heute über die Käfer Afrikas und insbesondere über den Käfer, der», bescheidenes Lachen, «meinen Namen trägt.» Ja, das wäre kein übler Auftakt! «Nur schade, dass mein Vater das nicht mehr miterleben kann.»

Und während Bahlow einen Orden nach dem anderen verliehen bekommt, kriecht der gute Nägele unter dem Feldbett herum, großer Puffotter- und Skorpionalarm vor dem Schlafengehen, Hochrufe, frenetischer Beifall. «Das ist mein Sohn!», erklärt Vater seinem Tischnachbarn, der einem enthaarten Wombat gleicht. «Schon als Kind hat sich Carl für die Wissenschaften begeistert.» Er zuckt unkontrolliert mit Armen und Beinen. «Damals in Afrika», Bahlow bricht ab, räuspert sich, «damals in Afrika hätte ich niemals gedacht», Tränen tropfen auf das Manuskript, salzige Halbkugeln, in denen die Tinte in unleserlichen Wirbeln aufsteigt. «Oh, Sie müssen entschuldigen, aber ich kann mich nicht konzentrieren.» Was macht der Kerl denn solange unter dem Bett? «Ich vermag es nicht!», schreit Bahlow. «Es ist mir unmöglich, weiterzusprechen! Verzeihen Sie mir vielmals, aber mich irritieren Vaters zuckende Arme und Beine über Ihren Köpfen!» Als sein Vater starb, hatte Bahlow zufällig aus dem Fenster des Speisezimmers geschaut, eine Kutsche ratterte vorbei, Vater las im Gehen seine Post, hielt erschrocken inne und bückte sich schwungvoll nach etwas …

«Ist dir nicht wohl?», fragte Mutter am gedeckten Frühstückstisch.

«Vater», stammelte Bahlow, dann brach ihm die Stimme.

Zuckende Gliedmaßen auf dem Pflaster.

«Nägele!», rief Bahlow. «Ich will jetzt schlafen!»

Nägele kroch unter dem Bett hervor, wies hoch erfreut zwei leere Handflächen mit weit auseinandergespreizten Fingern vor, löschte das Licht und stahl sich aus der Hütte. Vor einigen Tagen hatte Bahlow erfahren, dass selbst Salinski ein Boy bei den alltäglichen Verrichtungen zur Hand ging, und hatte daher eine von Janensch und Hennig zusammengestellte Arbeiter-Parade abgenommen und sich für einen jungen Wamuera-Krieger mit spitzer Nase und tätowiertem Gesicht entschieden. Der Bursche verfügte über leidliche Deutschkenntnisse, wusste einen ausgezeichneten Kaffee zu bereiten und konnte mit dem Gewehr umgehen. Und weil er aufs Bemerkenswerteste dem verstorbenen Freund Nägele glich, hatte es keine Schwierigkeiten bei der Namenswahl gegeben. Alles, was man tut, kann ausgeglichen werden, dachte Bahlow, blickte in die Höhe und stutzte, denn nordöstlich dieses Gedankens verwies ein wichtigtuerischer Asteriskus auf eine Erinnerung, die sich, fügsam glitt Bahlows Blick die Seite hinab, in Form einer schüchternen, aber umfangreichen Fußnote unter der schmalen Linie des Horizonts verbarg. Als Student, flüstert die Fußnote (sie ist so bescheiden, dass sie in geschrumpften Lettern spricht), stößt → Carl Richard Bahlow vor dem Großen Hörsaal mit → Professor Bester zusammen, einem gestrengen Herrn, der die Coleopterologie für eine inferiore Disziplin hält und glänzende Augen bekommt, wenn er von Schmetterlingen spricht. Nicht ohne Pathos pflegt er sie «prachtvolle Spiegelungen der menschlichen Seele in die Natur hinein» zu nennen. Der junge Bahlow will in beflissenen Schuldbekenntnissen und Entschuldigungen zerfließen, aber da klopft ihm der alte Herr besänftigend auf die Schulter und sagt: «Trinkt Ihr Tischnachbar den Kaffee ungesüßt, so trinken Sie den Ihrigen mit Zucker, und vice versa. So gerät nichts aus dem Gleichgewicht.» Daraufhin lacht Carl betroffen, aber heute, da → Nägele wieder unter den Lebenden weilt, sieht Bahlow die Empfehlung Professor Besters in anderem Licht. Dermaßen beleuchtet endet die Fußnote. Die übrigen Europäer (und nun geht es wieder irgendwo oben im Text weiter) beglückwünschten Bahlow zu seiner Wahl, und weil dieser nun wusste, wie leicht alles auszugleichen war, erstarrten seine Kiefer, sobald Hennig den heiß geliebten Kandiszucker knirschte, und bei dem gemeinsamen Mittagsmahl (Obst und Zwieback) schob sich Bahlow den nächsten Bissen erst dann in den Mund, wenn keiner mehr kaute.

Doch binnen Kurzem wurde er es leid, die alleinige Verantwortung für das Gleichgewicht der Kräfte im Universum zu tragen, und mit einem befreiten Klingen begrüßten sich die Likörgläser über der Holzkiste im Pavillon.

 

«Zeit für Geständnisse! Wieso haben Sie ihn Nägele getauft?»

«Nun, es gab da mal einen … nein, das lässt sich unmöglich in Worte fassen! Ausgeschlossen! Ich möchte dazu vielleicht nur anmerken, dass Nägele sich sehr zu seinen Gunsten verändert hat.»

«Wie meinen Sie das?»

«So, wie ich es gesagt habe.» Der neue Nägele fegte nämlich die Hütte (das hätte der alte niemals getan), holte Wasser von der Wasserstelle, was (Löwen ante muros) nicht ganz ungefährlich war, doch seine wichtigsten und mit der Zeit zeremonielle Züge annehmenden Aufgaben waren das Kontrollieren des Hüttenbodens, bevor Bahlow zu Bett ging, und das Öffnen der Hüttentür am Morgen, dem eine gründliche und häufig, wie Bahlow argwöhnte, nicht mit dem gehörigen Ernst durchgeführte Inspektion des Hütteninneren folgte. Am Tage begleitete Nägele den bwana mkubwa, der auf allen Vieren im Gelände umherkroch (einen Käfer imitierend), dabei unter der randlosen Glutmünze der afrikanischen Sonne die Wildwege der Antilope kreuzte und in Verzückung über alles geriet, was krabbelte. Der Käfermann beklopfte die Rinde müder Akazien, spielte mit Elefantenexkrementen, und ein ungläubig staunender Nägele folgte ihm mit den Insektengläsern, der Botanisiertrommel, dem Gewehr. «Nägele!», brüllte Bahlow, denn ein Eudicella gralli morgani zappelte im Netz wie eine zum Leben erwachte Scherbe aus grünem Glas. Nägele stürzte herbei, und der schillernde Käfer versank im zappelnden Dunkel der Botanisiertrommel. «Eudicella gralli morgani», erklärte Bahlow gönnerhaft, indem er auf die Trommel deutete. Nägele neigte ehrfürchtig das Haupt. Bahlow kniff ihm wohlwollend in die Wange. In jenen Tagen erschien ihm alles so unwirklich, dass es sich erübrigte, das Gefühl, man läse über sich selbst in einem Buch, künstlich herbeizuführen.

Mit fast klinischer Neugierde beobachtete Bahlow, wie der schwitzende Entomologe durch die Obstgartensteppe kroch, die Wasserflasche an der Seite, das Fernglas um den Hals. Nur das hohe, dichte Gras und der Bambus boten einen ungewohnten Anblick, ansonsten machte die Vegetation des Tendaguru-Gebietes keinen sonderlich tropischen Eindruck. Aus der Ferne erscholl der eintönige Singsang der Arbeiter. Bahlow las weiter. In der ersten Zeile des folgenden Absatzes kam Nägele mit schlotternder Pyjamahose angerannt (die Firma hatte Bahlow mit vier Pyjamas bedacht) und hielt ihm einen Cymothoe sangaris unter die Nase, einen prachtvollen Schmetterling, dessen leuchtendes Rot an einen chinesischen Lampion erinnerte. «Sehr schön», lobte Bahlow. Leider ruinierten Nägeles Fingerabdrücke die Flügel, ein typischer Anfängerfehler, der dem wirklichen Nägele nie unterlaufen wäre. «Wirf das weg!», sagte Bahlow. Nägele sah ihn verständnislos an. «Wegwerfen!», befahl Bahlow, machte es pantomimisch vor, teilte sodann das hüfthohe Gras mit den Handrücken, dachte an Schamhaar, an gespreizte Schenkel, kroch weiter – zwischen den Zeilen hindurch in den weißen Raum der Seite. Nicht nur dort fühlte er sich so einzigartig wie damals im Suezkanal, als er den Heizer an den Beinen gepackt hatte. Und nach der letzten Südschleuse erblicken die Reisenden die zerklüfteten Berge Sinais, hier erhielt Moses die Zehn Gebote, weiß der Kapitän in penetranter Geschwätzigkeit zu berichten, silbergrau glänzende Haie begleiten das Schiff, blecken das Gebiss, warten auf den nächsten Heizer. Nach einigen leichten Fieberschüben laufen die Recherchen mit Volldampf. Der Umstand, dass mich Valdsky doppelt getauft hat, erwies sich als große Hilfe bei den Ermittlungen. Erst flößte mir Bilderbeck (in Lindi) Valdskys Sherry ein, dann rammte ich mir (am Tendaguru) Valdskys Sicherheitsnadel in den Daumen oder den Handballen. Außerdem bewohne ich seine Hütte. Und: Mindestens einmal am Tag schickte Bahlow seinen Boy unter einem mehr oder weniger überzeugenden Vorwand ins Lager: Larven und Käfer zu essen, war die beste Möglichkeit, die Wirklichkeit zu transzendieren. Mit der Welt geschah etwas, wenn man zubiss.

Für einen kurzen Augenblick hob sich dann der Vorhang und erlaubte Bahlow, die Bühne zu sehen, wo man → Wirkliche Dinge aufgebaut hatte. Leider hob sich der Vorhang so kurz, dass man nur den Anishauch einer Ahnung von der tatsächlichen Welt erhaschte, silbergrau glänzende Haie gleiten durch die flitternde See, folgen dem Dampfer durch das Rote Meer bis nach Dschibuti am Golf von Aden. Da ich nicht weiß, was Sie von mir erwarten (Bilderbeck hat es verabsäumt, mich einzuweisen), widme ich mich, um keinen Verdacht zu erregen, entomologischen Studien und warte auf detaillierte (zornig unterstrichen) Instruktionen. Die Larve wand und krümmte sich, glitt zwischen spröden Lippen hin und her, wobei ihr Hinterleib, aus dem ein bitteres Sekret quoll, wie ein Glockenklöppel an Zunge und Gaumen schlug. Die Schneidezähne zählten zehn Segmente ab, bissen zu, und Bahlow bewegte sich für einige Sekunden hinter dem Vorhang, berührte → Wirkliche Dinge, ließ sich in einen commoden Sessel sinken, neben dem, auf einem Rauchertisch, Zeitungen und Illustrierte Wochenblätter bereitlagen, deren Artikel in glasklarer Prosa vom Sein und dem Wesen der Dinge berichteten. Anfangs hatte ich sehr starkes Fieber, aber nun geht es mir wieder gut. Hennig, Janensch und Salinski scheinen harmlos. Der arme Hennig will Freundschaft schließen. Janensch fehlt jegliche Autorität. Wer nahm auch schon Befehle von jemandem entgegen, der über flaue Scherze wie «Ein Perlhuhn für den Entomologen» so lachen muss, dass ihm, Klopfen, die Freudentränen, erneutes Klopfen, über die Wangen rollen!

«Herein, zur Hölle! Komm rein, du schwarzer Unterteufel!»

Nägele stellte die Teetasse neben das Tintenglas, und eine matte Handbewegung – Du siehst doch, dass ich am Schreiben bin! – verbannte ihn in den nichtexistenten Raum hinter der Hüttenwand, wo man ihn bisweilen leise und gelangweilt husten hörte. Eine Larve zu essen, schrieb Bahlow weiter, ist gänzlich ungefährlich, dagegen hat das Käferessen durchaus Verwandtschaft mit Russischem Roulette. So kann der Verzehr einer Lytta vesicatoria tödliche Folgen haben. Bereits während des Studiums hatte er Käfer und Larven verzehrt (zwei krabbelnde Handvoll Marienkäfer! die kitzelnden Härchen am Hinterleib der Maikäferlarve!), als er promoviert wurde, war es ihm jedoch gelungen, dieses Verlangen zu bändigen, denn ihr helles Lachen erwartete ihn in einem Rhododendronbusch, aber hier am Tendaguru brach die coleopterologische Leidenschaft in nie gekannter Heftigkeit durch. Oder war «Wichtigkeit» das richtige Wort? Unschlüssig trank die Feder im Tintenglas.

Bestimmt würde er nie erfahren, welches Wort diesen ganz speziellen Aspekt der Wirklichkeit in sich aufsaugte wie ein barmherziger Schwamm, hielten sie doch die richtigen Worte hinter dem Vorhang in Goldfischkugeln aus trübem Glas verborgen und fütterten die Worthülsen mit mageren Satzzeichen und fischten mit Handkeschern grünlichen Schaum von der Wasseroberfläche. Zehn Segmente krümmten sich auf der Zunge, zwischen Bahlows Lippen triefte es aus der Larvenzigarre, ach (mit krächzender Papageienstimme aus dem von Herderschen Salon), flüchtig entgleiten die Jahre, und der Vorhang hebt sich. In einer stockfleckigen, mit zerfranster Kordel verschnürten Schachtel lagern die Antworten auf sämtliche Fragen des Lebens. Antworten. Zerbrechlich. Trockene Lagerung unbedingt erforderlich. Bitte nicht schütteln! Wie gerne würden die Finger die Kordel lösen! Bahlow weiß genau, was auf dem ersten Blatt steht! § 1. Zur Entomologie gehören keine Lepidoptera, halt, nicht so schnell! Klammert sich da nicht eine Erinnerung an das Wort «Schachtel» wie ein dicklicher Junge an die Mähne seines Schaukelpferdes? Eine Erinnerung an das Kieler Hauptpostamt? Wie ihn alle mit peinigend vielsagendem Blick angesehen hatten, bevor er vor der Paketaufnahme zusammenbrach? Haltsuchend glitten Bahlows Hände über den Schalter, glatt, nass, Schorf auf dem Handrücken, frohlockend sprangen Stempel in die Tiefe und hasteten davon, um in den Wäldern zu Pilzen, um auf den Meeren zu Bojen zu werden.

Obwohl Salinski sehr freundlich und tantenhaft auftritt, misstraue ich ihm. Er sieht mich – Bahlow strich die drei tänzelnden Worte durch; Kuider brauchte nicht zu wissen, dass Salinski den Bahlow, über den Bahlow las, oft prüfend und noch häufiger amüsiert ansah. Mit dem Schmetterlingsessen kenne ich mich nicht aus. Laut auflachend unterdrückte er den starken Wunsch, über sich in der dritten Person zu schreiben und sich Homo käferus Bahlow zu nennen. Ich finde es uninteressant, fade. Die ganze Lepidopterologie ist ein lahmes Geschäft, dessen Hauptantrieb im kindischen Neid, nicht fliegen zu können, zu suchen ist. Nein, er strich den Absatz, das gehört nun wirklich nicht in einen sachlichen Bericht. Einmal hatte er einen Spanner gegessen, einmal einen Nachtfalter. Das war langweilig gewesen. Das hatte nichts verändert. Dadurch wurde der Text seines Lebens (wer auch immer ihn schrieb) nicht getilgt, aber mit jeder Käferlarve, die er aß, mit jedem Käfer, dem er die Beinchen abbiss, entstand ein neues, prächtigeres Leben, ein Palimpsest in größenwahnsinnig ausbordender Schrift. Besser von der Niederlassung der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft in Lindi (sein von Ihnen erwähnter Kontakt zu einflussreichen Kreisen hat sich übrigens bestätigt) hielt den verschwundenen Missionar für einen Aufschneider. Bahlow ermittelt unauffällig. Es gab Streitereien zwischen Valdsky und von Geinitz (sagt Hennig). Von Geinitz hat es ihm (HkB) bestätigt. Meine Herren, war das diskret! Meine Herren, war das geistreich! Bahlow konnte sich gut vorstellen, wie sie sich in Dresden-Balsewitz die Köpfe darüber zerbrachen! Hatte ihm der arme Hennig nicht noch etwas Wichtiges über Valdsky erzählt? Eine lustige Begebenheit, bei der Gebäck (oder Kuchen?) eine zentrale Rolle spielte? Von Geilitz ist uns allen unsympathisch, schrieb Bahlow, keckerte und machte aus dem lüsternen l ein schlafmütziges n, ehe er weltmännisch fortfuhr: Aber so sind sie nun mal, die Militärs! Und nun werde ich einfach alles auflisten, was mir erwähnenswert erscheint: 1. In Lindi hat mir ein Pockennarbiger einen Brief für von Geinitz (na also!) mitgegeben. Abschrift liegt bei. 2. Ich erwarte detaillierte Informationen und Anweisungen! 3. Auf unserer Seite stehen wohl nur Bilderbeck, Bahlow und natürlich Valdsky, der, wie ich (Bahlow) die Lage einschätze, tatsächlich verschwunden ist. 4. Die Hitze ist unerträglich; in den Nächten wird es bitter kalt. 5. Ich wüsste nicht, was ich ohne den guten Nägele anfangen würde. Er betrachtete die Photographie des Missionars, draußen ertönte ein blubberndes Geräusch, und mit beeindruckender Synchronizität glitt die feuchte Schnecke einer 6 aus der Feder. Vielleicht sollte ich noch einmal auf die obig geäußerte Theorie meiner doppelten Taufe zu sprechen kommen. Zwar hat Bilderbeck die erste Taufe in die Wege geleitet, aber ich allein habe die zweite, die richtige, die geheime und alles entscheidende Taufe eigenhändig mit Valdskys Sicherheitsnadel durchgeführt. Wir sind nun eine Person. Mit einem Ausdruck erschrockener Verwunderung wandte Bahlow sich um und betrachtete das Bild an der Wand. Wieso segnet der Heiland Schafe und nicht Käfer? Und gleicht Jesus nicht jemandem, den ich kenne? Aber wem? Weiß Gott, was der Kerl mit den Schafen anstellt, wenn er abends seinen Heiligenschein an den Nagel gehängt hat! Nein, wie Nägele sieht Jesus ganz und gar nicht aus. Nein, nicht, ich will nicht daran, muss immer daran, will nicht daran denken müssen! Wenige Tage nach der Beerdigung betrat Carl, will nicht, das Klassenzimmer.

Er hatte kein Fieber mehr, und ihn umgab ein fast überwirklicher Nimbus der Hellsichtigkeit. Das Gelächter begann in den letzten Bankreihen, erst verhalten, dann immer lauter, die Woge drohte ihn an der Tafel zu zerschmettern. Nägele (der alte, nicht der neue, der sich in naiver Unbekümmertheit hinter der Hütte gehenließ) hatte es allen erzählt. Sogar der Hausmeister wusste nun, dass Gevatter Tod in einer Anwandlung grässlichster Gossenkomik Bahlows Herrn Vater den Darm entleert hatte. «Das, was nicht zum Himmel aufstreben konnte, rann die Oberschenkel hinab.» Sogar im Lehrerzimmer wiederholte man die pointengeilen Formulierungen Nägeles, den die Geschichte noch elf Jahre später derart beschäftigte, dass er sie, ausgewalzt zu stattlichen dreißig Seiten, als Privatdruck veröffentlichte. Nägele hat es noch nicht einmal für nötig erachtet, mir einen anderen Namen zu geben! Er hat nur einen Buchstaben durch einen anderen ersetzt. «Im Bereich der Kunst gibt es weder Kompromisse noch Zugeständnisse», hatte er sich gerechtfertigt. «Der Künstler darf keine Rücksicht nehmen. Weder auf sich – noch auf andere. Braucht er etwas, so nimmt er es sich, ohne zu fragen. Die Welt ist nichts als sein privater Steinbruch!» Dummes Blabla! Darf man nicht dran denken! Will man auch gar nicht dran denken! Bahlow faltete den Bericht, schob ihn in den Umschlag, ich hätte mich Nägele niemals anvertrauen dürfen, zuckende Gliedmaßen auf dem Pflaster, zu Händen von Herrn Kuider auf das Kuvert geschrieben, Mundwind bläst Tinte trocken, und jetzt verberge ich das kleine Kuvert in einem größeren, das mit Insektenhandlung Staudinger & Bang-Haas wohl unauffällig genug adressiert ist, und nun beginnt der wohlverdiente Feierabend!

 

Auf dem Kopfkissen kniend zog er ein ägyptologisches Kuckucksei zwischen den entomologischen Klassikern heraus, die er am Tag der Ankunft in das Regal über dem Feldbett gestopft hatte. Er schlug das Buch auf und las: Der zweiundsiebzigste Spruch des ägyptischen Totenbuches und seine religionsgeschichtliche Bedeutung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde. Genehmigt von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin. Von Georg Bilderbeck aus Kiel. 1906. Ein freundlicher Kobold musste ihm das Buch in Bilderbecks Haus zugesteckt haben. Es gefiel Bahlow, sich diesen Kobold als zartes, namenloses Wesen mit knospenden Brüsten vorzustellen. Es trug Hosen und duftete betörend nach Schweiß und Vanille. Gierig beschnupperte er die Dissertation, doch die Seiten rochen nur nach feuchtem Papier, rochen ähnlich wie seine eigenen Bücher, wenn er sie von Nägele zurückerhielt, in dessen Dachkammer bei Regenwetter Schüsseln und Töpfe unter dem Canapé hervorkrochen, um sich in atemberaubender Geschwindigkeit mit Wasser zu füllen. Bahlow velieh nur ungern Bücher, aber hatte ihn Nägele besucht, war es leider nie zu vermeiden gewesen. Fernerhin hatte ihn Nägeles lästige Angewohnheit erbost, sogar geliehene Bücher mit Eselsohren, Streichungen und obskuren Randbemerkungen zu versehen. Deswegen riss der Kontakt zu Nägele übrigens nach dessen Tod nicht ab, dieser erniedrigende Kontakt, bei dem Bahlow selten zu Wort kam und sich meistens unbeschreiblich dämlich fühlte. Er selbst schrieb nie etwas in Bücher hinein, die er las, glaubte, es nicht notwendig zu haben, sein Terrain durch intellektuelle Duftmarken abzustecken, überdies fiel ihm nichts Geistreiches ein, für das er sich nicht schon am nächsten Tag schämen würde; aber solche Ärgernisse beschäftigten ihn heute wenig, war doch der Kontakt zu Nägele so innig wie nie zuvor.

Bahlow verkündete, er wolle lesen (Ninataka kusoma), und zwar draußen (nje), Nägele rückte den Ratanliegestuhl so zurecht, dass der Schatten des Vordachs die Beine seines Herrn kurz unterhalb der Kniescheiben amputierte. Müde von den Streifzügen an der frischen Luft machte es sich dieser bequem, ein Glas abgekochtes Wasser in Reichweite, das Buch in der Linken, die Hand mit dem Papiermesser im Schoß. Unter dem Kurztitel (Bilderbeck: Totenbuch) war ein Kreis in den Buchdeckel geprägt, den ein Andreaskreuz viertelte, ein vielversprechendes Omen. Auf der Rückseite erspürten die umherwandernden Fingerkuppen ein winziges Rechteck, rasches Buchwenden, das rechteckähnliche Gebilde (die Hieroglyphe?) erinnerte an das Unterteil eines mittelalterlichen Prangers (wohl wegen der beiden Mulden in der Oberkante), bedeutungsloser Schnickschnack!

Bahlow schnitt die ersten fünfzehn Seiten auf und begann mit der Lektüre. Seid gegrüßt, ihr Herren der Kas, frei von Sünde, die (ihr) bis in Ewigkeit seid, ewig dauernd! Ich bin zu euch vorgedrungen, ich bin verklärt in meiner Gestalt, ich bin ausgestattet mit meinen Zauberkräften und bin geprüft in meiner Zaubermacht. Rettet mich doch vor diesem «Gierigen» der Erde! Bahlow überflog Bilderbecks weitschweifige (findet sich in der 18. Dynastie häufig auf Sarkophagen) und größtenteils unverständliche (gierig ist allein die Erde, weil sie ist) Kommentare, bis es auf Seite 9 mit der zweiten Strophe weiterging. Der Mund der Gerechten ist mein Mund, mit dem ich rede, meine Opferspeisen werden mir in eurer Gegenwart gegeben. Unten im Eingeborenenlager kehrten die Arbeiter zurück, glückliche Menschen über einem kurz absinkenden Buchhorizont, dann wurde es still, und Valdskys Hütte umgab das unermüdliche, besessene, eigentlich bemitleidenswerte Geknarre der Zikaden; ein geistesgestörtes Kind auf einer desolaten Diele, das Gewicht vor- und zurückverlagernd, sabbernd und gottgleich.

Denn ich kenne euch, las Bahlow weiter, kenne eure Namen und kenne den Namen jenes großen Gottes, an dessen Gesicht ihr Nahrung gebt – TEKEM ist sein Name. Er dringt vor zum Osthorizont des Himmels, und er lässt sich nieder im Westhorizont des Himmels. Plötzlich vermeinte Bahlow verständliche Worte im Gezirpe der Zikaden auszumachen. «Achmed!», riefen sie. «Achmed! Achmed!» Ratschend verrichtete das Papiermesser seine Arbeit, «Achmed!», Blättern, enervierend war es schon, das unaufhörliche Rufen nach diesem verstockten Araber! Ah, hier ging es weiter: Mein Vater ATUM hat mir gegeben und hat mir errichtet mein Haus auf Erden, (mit) Gerste und Spelt (Spelt?) darin ohne Zahl, für mich bereitet, für meine Feste, von meinem eigenen Sohn. Schockschwerenot, jetzt wurde es im Kommentar richtiggehend unanständig, denn Bilderbeck ließ sich über diesen ATUM aus (das Zeichen des «selbstentstandenen» Schöpfergottes ist der Skarabäus) und nannte ihn abwechselnd Einherr von Heliopolis, Selbstbegatter und Urhügel. Durch Selbstbegattung zeugt ATUM den Lufthauch SCHUH und die Feuchtigkeit TEFNUT. Ähnliches hatte Bahlow heute auch noch vor: TEFNUT käme ins Taschentuch, SCHUH würde ausgelüftet. Häufig werden ATUM und seine Hand als Ehepaar abgebildet. Ob die Kleine wusste, was ihr Vater für Sauereien schrieb? Er spuckte aus, und der Speichel hüllte sich, kaum dass er den Boden berührt hatte, in einen Mantel aus Sand, überschlug sich zweimal (ohne erkennbaren Zusammenhang musste Bahlow an einen betäubten Scheich denken, den man aus einem Teppich wickelt) und blieb reglos liegen, eine kaum wahrnehmbare Erhebung – den sich aus dem Erdreich grabenden Käfern ein panierter, ertränkender See. Ich fahre stromab und stromauf im Binsengefilde. Die Verwandtschaft von «Skarabäus» und «Sarkophag» war bemerkenswert. «Sakrophag» schien Bahlow richtiger zu klingen. Er lächelte. Die Pharaonen fluchten bestimmt «Sakrabäus!», wenn ihre Göttin verkrampfte, und dann, nach Beendigung des einsamen Gottesdienstes, reichten ihnen ihre wunderhübschen Töchter warme Tücher und kühlende Salben, und vereine mich mit dem Opfer- (Papiermesser) gefilde. Das Ende des Gedichtes oder Spruches oder was auch immer es sein mochte, rührte Bahlow derart, dass es ihm schwerfiel, die Tränen zurückzuhalten. Wer dieses Buch kennt auf Erden, oder wem es auf seinen Sarg geschrieben wird – der geht heraus am Tage in jeder Gestalt, die er wünscht, und tritt wieder ein zu seinem (Wohn)sitz, ungehindert.

Dem werden Brot und Bier gegeben und ein großes Stück Fleisch vom Opferaltar des OSIRIS. Er geht hinaus zum Binsengefilde, und Gerste und Spelt (Spelt?) werden ihm dort gegeben. Er weiß (Spelt?) zu befehlen, wie auf Erden, und er verwirklicht jeden Wunsch, gleich jenen Göttern, die dort sind. Ein wahres Heilmittel, Millionen Mal (erprobt). Die Christen zog es in die Erde hinein, hinab in die Nacht, ins dumme Jenseits, aber die alten Ägypter gingen heraus am Tage. Sein ganzes Leben lang hatte Bahlow darunter gelitten, das Haus verlassen zu müssen; kein Wunder, hatte dieses Herausgehen am Tage doch eine metaphysische, eine eschatologische (oder echnatonologische?) Dimension; und nun, da er sein Haus und seine Heimat weit hinter sich gelassen hatte – der Gedanke riss ab: Ein behelmter Schatten bewegte sich auf die Hütte zu. «Na, was lesen wir denn da Schönes?», fragte von Geinitz.

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