Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

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Das Gebet ist Welte zufolge daher begründet in einer spezifischen Zeiterfahrung, bei der das Geheimnis Gottes als gewährende Weile der Zeit und als personaler Zuspruch erfahren wird: „Das Gebet erwächst so aus der Erfahrung der Zeit als die lebendige Antwort des sterblichen Menschen auf das sich in der gewährten Weile neu eröffnende Geheimnis Gottes, und indem es auf den Rhythmus der sich gewährenden Zeit eingeht und aus ihm seine eigene Ordnung gewinnt, geht es ein auf die Weise des in der Zeit sich gewährenden Zuspruch Gottes.“86 Gebet und Zeiterfahrung sind somit bei Bernhard Welte zuinnerst verbunden. Ein Nexus, der auch bei Edith Stein begegnen wird, wo ihre geistlichen Texte in den Blick rücken.

2.1.2.2 Das Gebet bei Bernhard Casper

Der 1999 emeritierte Freiburger Professor für Christliche Religionsphilosophie legt in „Das Ereignis des Betens – Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens“87 eine Zusammenfassung seiner Überlegungen zum Gebet vor.88 Der Schüler und wissenschaftliche Assistent Bernhard Weltes (1956–1959) hat die Rezeption Husserls und Heideggers besonders in der französischen Religionsphilosophie untersucht89 und sich fortgesetzt um die Begegnung mit der jüdischen Religionsphilosophie Franz Rosenzweigs, Martin Bubers und Emmanuel Levinas verdient gemacht.90

Im Beten ist für Bernhard Casper „der Ernstfall dessen gegeben, worauf das mit Religion Gemeinte zurück geführt werden muß.“91 Die in seiner Monographie vorgetragenen Überlegungen suchen „das Geschehen des Gebetes als das zugänglich zu machen, worin sich das Verhältnis der Transzendenz ereignet“.92 Dazu analysiert und beschreibt er zunächst phänomenologisch das Geschehen der „Aufmerksamkeit“ in seiner zeitlichen Verfasstheit. Dabei ist bedeutsam, dass eine Bewegung des „Sich-selbst-überschreitens“ auf das ursprünglich andere meiner selbst geschieht, das mir als Neues, Wunderbares und Staunenswertes aufgeht. Dieses zeigt sich jedoch nur von sich selbst her und lässt sich nicht als von mir intentional herstellbares Geschehen bewerkstelligen: „Die Aktivität des Sichselbst-überschreitens findet sich also im ursprünglichen Geschehen der Aufmerksamkeit begründet von der Passivität des Angegangenwerdens vom dem, was von sich her ist. […] es geschieht als eine Leistung und Anstrengung von uns selbst, aber als eine negative Anstrengung“, insofern es nur im Modus des Wartens auf „das Andere als das Unverfügbare“ erlangt werden kann.93 Das „andere, worauf ich aufmerksam bin, ist als solches immer das Überraschende, das bislang Unerhörte, das in keiner Weise Vorwegzunehmende, und insofern die Gleichzeitigkeit meiner zunächst scheinbar grenzenlosen Welt Zerbrechende. […] Es bringt Zeit jenseits der mir zunächst möglichen Zeit mit sich: diachron.“94 Durch diesen Einbruch von Diachronie als der Begegnung von zwei Zeitabläufen eröffnen sich dem betenden Menschen neue Lebensräume: „Ich gerate in eine von mir zuvor nicht vermochte Zukunft, die sich mir schenkt: Möglichkeit jenseits meiner Möglichkeiten“.95 Aufmerksamkeit führt so zur Erkenntnis der Wirklichkeit als Gabe, die sich mir unvordenklich schenkt. Die Frage kommt auf: „Was oder wer gibt, daß es die Gabe gibt, und daß es mich gibt, dem sich die Gabe gibt?“. Mit Bezug auf Emmanuel Levinas wird das Gebet von Casper im Zuge dieser Überlegungen als reine Aufmerksamkeit verstanden. Gebet ist ihm daher Ausrichtung auf die geschenkhafte Dimension von begegnender Wirklichkeit: „Denn es zeigt sich als der reine Akt der Aufmerksamkeit auf das, was sich nur geben kann.“96

In den „Grund- und Grenzsituationen“97 des menschlichen Daseins, in denen die eigene Endlichkeit und die Sorge besonders um den geliebten anderen Menschen virulent werden, vertieft sich diese Aufmerksamkeit. Zugleich damit rückt die Prekarität der menschlichen Verfasstheit als „Versuchtsein und Verfallenheit“98 in den Blick. Es kommen Tendenzen zur „Flucht“99 auf als Ausweichmanöver vor der Frage nach der eigenen Identität und des in eine schon vorfindliche Geschichte gestellte „etwas-mit-sich-anfangen-müssens“. Zu Letzterem schreibt Casper: „Indem ich nun aber auf das Wunder meines eigenen Daseins aufmerksam werde und zugleich auf meine Sterblichkeit, werde ich auch darauf aufmerksam, daß ich mit mir selbst in meiner endlichen Zeit, in der ich da bin, etwas anfangen muss. […] Ich bin mir aufgegeben. Und niemand kann mich mir abnehmen. In diese Not finde ich mich. Es ist dies die Not des sterblichen Sichzeitigen-müssens selbst. Und wenn es eine Grund-Not gibt, die beten lehrt, dann ist es diese. […] Diese Grund- und Grenzeinsicht, daß ich als Sterblicher mir selbst aufgeben bin und mich hier niemand vertreten kann.“100

Der andere Mensch, der in der sozialen Begegnung unweigerlich nahe kommt, wird dem Subjekt in seiner Situation, etwas mit sich anfangen zu müssen, zum Ort, an dem ein unbedingter Anspruch begegnet. Beten heißt, dieses Anspruchs eingedenk und inne zu sein: „Unser Aufmerksamsein, das ein Zeit-haben inmitten unseres Unszeitigens bedeutet, hat nun aber eine merkwürdige Gestalt. Es findet sich herausgefordert durch den Anspruch, der unvordenklich und unausdenklich ist. Beten bedeutet so, Zeithaben für das, was in keine Zeit eintritt und doch all unser Zeithaben richtet. Beten bedeutet Zeithaben für jenen unvordenklichen Anspruch, der mich im Daß der Dinge und mehr noch im Dasein des anderen Menschen angeht oder vielmehr mich immer schon anging. Beten bedeutet, dieses Anspruchs eingedenk zu sein, der mich in jeder mitmenschlichen Begegnung und in jeder Verwunderung über das Daß der Dinge schon getroffen hat.“101 Dieser fundamentale Anspruch weist nochmals über den je anderen Mitmenschen unendlich und unabschließbar hinaus, was diesen aber gerade nicht relativiert, sondern einsetzt in eine besondere Bedeutung. Der Mitmensch der sozialen Begegnung wird zum Erfahrungsort und zur Stelle, in der das Berührt- und Betroffenwerden von Tranzendenz geschichtlich einmalig und je neu geschieht. Der betende Mensch gerät nach Casper, wo er dieser Bedeutung ansichtig wird, in Aufnahme der Diktion von Emmanuel Levinas in die „Spur der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ “. Es ist eine Spur, die je neu anlockt, dabei aber immer uneinholbar voraus bleibt: „Was dieses Sprechen von der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ anzeigt, wird zugänglich allerdings nur, wenn wir uns von einem gegenständlich vorstellenden Denken lösen und ganz aus dem Geschehen der Zeitigung des Daseins selbst heraus denken. In dieser Zeitigung, in der ich mir ständig vorweg bin, bezeugt sich der unvordenkliche und unausdenkliche kategorische Anspruch als der, der mein Mich-zeitigen richtend in Gang hält. Und Richten geschieht hier aber zugleich als ein Orientieren und Aufrichten. Der Anspruch erweist sich derart als Ermöglichung des Gehens meines Weges, insofern dieser ein sterblicher menschlicher Weg ist. Im Gehen des Weges selbst bezeugt sich der unendliche Anspruch als solcher, der in dem Augenblick, in welchem wir ihn zu fassen suchen, sich uns schon entzogen hat. Aber er hat in seinem für uns unfaßbaren Vorübergang seine Spuren in uns hinterlassen. Deren Wirkmächtigkeit erweist sich darin, daß wir auf unserem Weg des nach Menschlichkeit suchenden Etwas-mit-uns-selbst-beginnens weitergelockt werden; und darin, daß zugleich richtendes Licht auf unser Uns-gezeigtigt-haben fällt. Derart finden wir in unserem Uns-zeitigen selbst die Spuren der Herrlichkeit des Unendlichen.“102

Im Rahmen dieses Verständnisses sucht Bernhard Casper zunächst danach, das betende Geschehen hinsichtlich seiner Sprache103 zu erhellen. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Begründung der gesamten Sprache im Gebetsgeschehen hin. Dazu führt er aus, dass sich „die Sprache selbst in ihrer Wurzel als Beten erwies. Insofern die Sprache ursprünglich nämlich zwischen dem Anderen und mir geschieht und wir uns derart hoffend zeitigen, geschieht sie ursprünglich als vertrauend-bittendes Sichselbstüberschreiten meiner selbst.“104. Sprache des Gebets ist für Bernhard Casper je persönliche, individuelle Sprache und Ausdruck der Transzendenzfähigkeit des Menschen: „Man darf sagen, daß Menschen nirgendwo so als sie selbst sprechen wie dort, wo sie beten. […] Dieses Selbst-sprechen geschieht […] als ein Sich-zur-Sprache-bringen jener Zeitigungssituation selbst […].“105 Das Verstummen als gefülltes Schweigen ist für Casper die Weise, dem unergründlichen Grund zu entsprechen: „Da unsere Sprachhandlungen, in denen wir uns etwas zu verstehen geben, zunächst aber immer welteinräumende, benennende Sprachhandlungen sind, kann das Sprechen, welches hier ent-spricht, zunächst nur in einem Verstummen bestehen, in einem beredten Schweigen. Wozu ich hier in das Verhältnis gerate, das entzieht sich jeder repräsentierenden Vergegenwärtigung. Es sprengt jede transzendentale Apperzeption.“106 Casper weist auf die Grenze hin, an die die Sprache des Gebets unweigerlich stößt: „In der Sprachhandlung des Betens gebe ich mich selbst frei an den unvordenklichen und deshalb auch von keiner Sprache einzuholenden Abgrund, für den alle Sprache nur eine Metapher sein kann, – den Abgrund, der sich […] in allem von der Sprache Bedeuteten ebenso meldet wie in dem Anspruch der Leibbürgschaft für den anderen.“107.

Nach der Sichtung der sprachlichen Merkmale, die das Beten erkennen lässt, wendet sich Casper der zeitlichen Ereignisstruktur dieses Geschehens zu.108 Schon mit Blick auf den einzelnen zeigt sich das betende Geschehen als besondere, aus dem Strom der verstreichenden Zeit (Chronos) ausgegrenzte Zeit: „Beten beginnt damit und wurzelt darin, daß wir inmitten unseres Uns-zeitigens uns den Freiraum eines eigenen Zeithabens-für nehmen, – und sei dies nur der Freiraum eines Augenblicks.“109 Im sozialen Kontext entspricht dem das Fest. „Derart erweisen sich die Festtage als die Tage des von dem unendlichen Sinn, der alle Geschichte in Atem hält, geschenkten Miteinanderzeithabens. Die Festtage erweisen sich als ‚Tage des Eingedenkens‘, die ‚nicht im Verband der übrigen‘ Tage stehen, sondern ‚sich vielmehr aus der Zeit‘ herausheben. Sie erweisen sich als ‚Ausnahmetage‘: als in Verleiblichung des Miteinander gelebte Steigerung jenes geschenkten Sich-überschreitens, das für den einzelnen in jedem Beten geschieht.“110 Im Anschluss werden vom Freiburger Religionsphilosophen Überlegungen zur Gemeinschaftlichkeit111, zum festlichen Charakter des Gebets112 und zu Verfallsformen des religiösen Geschehens113 formuliert.

 

In seiner phänomenologischen Deskription versteht Berhard Casper das Geschehen des Gebets als „Gelassenheit“114 in einer „nichtintentionalen Intentionalität“115. Casper versteht das Ereignis des Gebets insgesamt als die verdankte, aus dem Alltäglichen und dem undifferenzierten Fluss der Zeit ausgesonderte ‚Ausnahmezeit‘, die eine neue, nur zu erwartende Zukunft berührt. Mit Blick auf die alltagsprägende Kraft der Gebetszeit hält er fest: „Das ernsthaft vollzogene Beten […] gibt sich in die Ausnahmezeit des Eingedenkens hinein ausdrücklich frei. Dadurch wird das grenzenlose ‚wie gehabt‘ des Alltäglichen als die hoffnungs- weil zukunftslose Zeit aufgebrochen. Es fällt in die Zukunft ein als eine andere Zukunft.“116 Beten ist „das Geschehen des reinen Harrens. Die Aufmerksamkeit gelangt hier in die höchste Weise des Wartens. […] Im Sich-loslösen von jedem erwartbaren intentum geschieht das Gebet […] als Beten ohne zu bitten, d. h. als Beten ohne die Geste des ‚etwas Verlangens‘. Denn das Eingedenken geschieht ja gerade als ein Harren, in welchem ich mich im Verhältnis zu dem mich zuäußerst Angehenwollenden halte, das nie repräsentierbar ist, in keine Gegenwart eingeholt werden kann. Es trägt sich zu als ein Harren, in welchem ich harre ‚mehr als die Wächter auf das Morgenrot‘, d. h. auf das, was mich über alle möglichen endlichen intenta hinaus angeht.“117

Beten erscheint so als sinnerfülltes, den betenden Menschen tragendes und orientierendes Ereignis: „Nichts weniger geschieht im Zeithaben des Gebets als dies, daß durch das Sich-zutragen des Harrens selbst das Verhältnis zu der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ sich als das mich in meinem Dasein tragende erweist. Ich erfahre Trost in der Bedrängnis, die mit meiner geschichtlichen Freiheit notwendig gegeben ist. Ich erfahre Zuversicht auf dem Weg, der mein Weg ist. Ich finde mich gestärkt in der Hoffnung. Die ‚Vermehrung der Hoffnung‘ erweist sich denn überhaupt als der Geschehenssinn des Gebets“.118 Casper weist darauf hin, dass auch bei Thomas von Aquin der Zusammenhang von Gebet und Hoffnung begegnet. Er behandelt das Gebet im Compendium theologiae im Rahmen der Frage nach der Hoffnung, während es in der Summa theologiae im Rahmen der Tugend der Gerechtigkeit zum Thema wird.119

2.1.3 Ertrag und Bedeutung für die Fragestellung der Studie

Mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Studie können die von Bernhard Welte und Bernhard Casper geleisteten Forschungsansätze und methodischen Zugänge zum Gebet wichtige Anregungen liefern. Diese seien nachfolgend zusammenfassend benannt.

Beten kommt im Verständnis von Berhard Welte und Bernhard Casper als existentieller Grundvollzug menschlicher Freiheit in den Blick, in dem der Mensch seine Transzendenzfähigkeit aktualisiert erfährt. Der Ereignischarakter des Betens und damit dessen zeitliche Verfasstheit erfahren besondere Beachtung. Das ist für die angestrebte Erkundung des Betens der Edith Stein insofern bedeutsam, als eine betonte Sensibilität für die Dimension der Zeitlichkeit des menschlichen Daseinsvollzugs in Denken und Glauben und damit auch im Beten in entsprechender Weise bei Edith Stein aufgewiesen werden kann.120

Bernhard Welte und Bernhard Casper kommen hinsichtlich des Gebetsgeschehens auch darin überein, dass sie eine phänomenologische Beschreibung des Betens anstreben. Diesen Zugang wählen sie statt einer abschließenden Definition, die dem Ereignischarakter eines prinzipiell uneinholbaren, sich im Vollzugsganzen erstreckenden Geschehens ihres Erachtens nicht gerecht wird.121 Im Fokussieren auf eine deskriptive Explikation des Betens als einem Prozess und Fluss von Ereignismomenten ist eine Konsequenz der Rücksichtnahme auf die Dimension der „Zeit“ zu sehen. Insofern kann man sagen, dass sich in dem Maße, wie die Dimension der zeitlichen Erstreckung und das Moment der fundamentalen Offenheit des als Freiheitsgeschehen sich zeigenden Gebetsverhältnisses zu Gesicht kommen, ein phänomenologisches Herangehen nahelegt. Denn wo ein Geschehen fundamental von Unabschließbarem und immer neu radikal Unvordenklichem geprägt ist, das sich je und je von sich her erscheinend offenbart, dort muss eine vorwegnehmende Definition versagen, die das Geschehen im Vorhinein umfassend einholen und spekulativ eruieren wollte.122

Sowohl Bernhard Welte als auch Bernhard Casper wählen einen Zugang zum Gebet, bei dem sie es betont im Horizont der Besinnung auf die menschliche Sprache situieren. Durch die Beachtung der sprachlichen Prägung des Betens wird möglich, diesen existentiellen Grundakt von vorne herein als geschichtlichen und sozialen zu verstehen, dessen fundierende Bedingung und zugleich radikale Verdichtung das Geschehen des Schweigens ist. Dem Phänomen des schweigenden Betens geben beide Autoren entsprechend in unterschiedlicher Akzentsetzung Raum, wobei verbindend bleibt, dass Schweigen nicht als Deprivationsform des Sprachgeschehens angesehen wir. Vielmehr sehen beide Autoren das Schweigen als Grenzfall der Sprache an und als Anzeiger für die alle Intentionalität begründende Qualität des religiösen Verhältnisses, das sich im Schweigen nicht verliert, sondern auf grundlegende Weise zu sich kommt.

Wie in der zwischenmenschlichen Wirklichkeit Sprache als je dialogische und in ihrer Intersubjektivität und geschichtlichen Vorfindlichkeit unhintergehbare Größe beschrieben werden kann, so auch – in analoger Weise, und als Grenzfall – auch im religiösen Verhältnis. Welte und Casper verbindet somit, wo Gebet im Horizont der Sprache situiert wird, die Einschätzung einer grundlegenden Analogizität des zwischenmenschlichen Verhältnisses mit dem religiösen Verhältnis. Diesen Gedanken einer analogia entis findet man auch in nahezu allen Werken der Edith Stein, die dahingehend wesentlich von E. Przywara SJ beeinflusst wurde.123 Edith Stein kommt schon im Vorwort zu ihrem religionsphilosophischen Hauptwerk „Endliches und ewiges Sein“ auf den diesbezüglichen Einfluss des Jesuiten auf die Bedeutung des Analogiedenkens zu sprechen. Mit Blick auf die erste Fassung ihrer Studie schreibt sie von sich als Verfasserin: „Die erste Fassung ihres Buches und die endgültige Fassung der ‚Analogia entis‘ sind etwa gleichzeitig geschrieben, aber sie durfte die früheren Entwürfe der ‚Analogia entis‘ einsehen und hat überhaupt in den Jahren 1925–31 in lebhaftem Gedankenaustausch mit E. Przywara gestanden. Dieser Austausch hat wohl auf seine wie auf ihre Fragestellung bestimmend eingewirkt“.124 Mit Blick auf Überschneidungen zwischen ihrer Studie und dem Werk Przywaras bemerkt sie: „Eine gewisse Überschneidung liegt aber doch vor, da auf der einen Seite die Analogie als das Grundgesetz aufgewiesen wird, das alles Seiende beherrscht und darum auch für das Verfahren maßgebend sein muss, auf der anderen Seite die sachliche Untersuchung des Seienden auf den Sinn des Seins hin zur Aufdeckung desselben Grundgesetzes führt.“125

Den Jesuiten, durch den sie zum vertieften Studium und zur Aneignung von thomasischen Positionen gelangen wird, lernte Edith Stein Mitte der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhundert in ihrer Speyrer Zeit kennen. Przywara lud sie zu dieser Zeit ein, die quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin ins Deutsche zu übertragen. Diese neben ihrer Tätigkeit als Lehrkraft entstandene Studie126 zeigt klar das hohe Maß an sprachlichem und denkerischem Einfühlungsvermögen, mit dem sich Edith Stein einem theologischen Denker nähert, dessen scholastische Begrifflichkeit ihr nicht durch ein akademisches Theologiestudium vertraut war. Sie rezipiert den Aquinaten gleichwohl auf der Basis dieser Übersetzungen später mit großer Eigenständigkeit im Rahmen ihres philosophischen Werkes „Endliches und ewiges Sein“, bei dem sie allerdings mit Blick auf die menschliche Person stärker Augustinus folgt.127 Steins Anliegen, scholastische Philosophie mit Denkwegen und Methoden der zeitgenössischen Philosophie zu erschließen und für die Gegenwart fruchtbar zu machen, trifft sich mit dem Grundanliegen Bernhard Weltes, worauf bereits hingewiesen wurde.128 Somit kann für meine Studie festgehalten werden, dass sowohl eine hohe thematische als auch methodische Affinität zwischen dem 18 Jahre jüngeren Religionsphilosophen Bernhard Welte und Edith Stein ins Auge fällt. Ein Hinweg zum Werk Steins unter Einbezug der Positionen Weltes scheint somit von der Sache her angemessen.

Als Ertrag aus der Sichtung der zwei vorgestellten Positionen zum Ereignis des Betens ergeben sich somit mehrere Anregungen für den Umgang mit Phänomenen des Gebetes im Werk und Leben der Edith Stein. Von einem betonten Augenmerk auf die Dimensionen Zeit, Schweigen und Dialogizität war bereits die Rede. Den Gebetsvollzug in einer durch die phänomenologische Blickperspektive sensibilisierten Optik wahrzunehmen und Beten in einer davon angeregten Weise zu beschreiben, zählt ebenfalls zum Ertrag, den für die vorliegende Studie aus der Werken der Freiburger Religionsphilosophen gewonnen wurde.

2.2 Das Thema Gebet in der Edith Stein Forschung

In der gegenwärtigen Edith-Stein-Forschung greifen Studien und Beiträge zur Biographie, zum literarischen Werk und zur Wirkungsgeschichte verschiedene Aspekte und Stationen ihres Lebens auf und beleuchten diese in ihrem Zusammenhang oder hinsichtlich ihrer Einzelheiten und situativ-geistesgeschichtlichen Verortung. Eine umfangreiche Literaturübersicht mit Monographien, Aufsätzen und anderen Publikationsformen jüngeren und älteren Datums seit 1942 bietet eine entsprechende Sonderausgabe des „Edith-Stein-Jahrbuchs“ von Francesco Alfieri aus dem Jahre 2012.129

Untersuchungen, die ausdrücklich und systematisch das Thema Gebet bei Edith Stein in den Blick rücken, fehlen bisher in der Edith-Stein-Forschung. Weder eine umfassende Sichtung der einzelnen Aspekte ihres Betens noch eine zusammenschauende Betrachtung ihrer Gebetsmanifestationen liegen vor. Studien zu den geistlichen Texten unserer Autorin sind ebenfalls nicht erstellt worden. Vom Umfang her kleinere Beiträge wenden sich entweder lediglich einzelnen Aspekten des geistlichen Lebens unserer Autorin zu oder sichten das gesamte Leben Edith Steins global unter bestimmten Gesichtspunkten, die eine rückblickende Einteilung in biographische Phasen der spirituellen Entwicklung ermöglichen.

So skizziert in knapper Form Terrence C. Wright im Jahre 2005 den Zusammenhang zwischen Steins phänomenologischem Ansatz, ihrer Sicht von Innerlichkeit in Verbindung mit der Verwobenheit hin zur äußeren, sozialen Welt und ihrem Gebetsverständnis.130 In der Thematisierung des abgeschiedenen privaten Betens, dem „solitary prayer“131, in philosophischer Perspektive und in der Erkundung des von Stein eingenommenen religionsphilosophischen Verständnisses der psychischen Struktur des Menschen liegt ein Verdienst dieses Beitrags. Wright hält fest: „For Stein prayer is one of the interior cognitive activities of the soul that makes possible its self-knowledge and fulfillment“.132 Das Gebet führt gleichermaßen nach innen und in ein relationales Verhältnis zu Gott: „Prayer, for Stein, is an activity that places us at the center of ourselves and simultaneously in relation to God.“133 Im Inneren der Seele geschieht eine Antwort auf dem Ruf Gottes: „And this response is, in ist first manifestation, prayer.“134 Eine Weitung der Perspektive auf das für Stein bedeutsame gemeinschaftliche und liturgische Gebet findet in diesem Beitrag nicht statt. Das gilt auch für eine umfassende, das Steinsche Beten in seinen vielfältigen biographischen und theologischen Bezügen systematisch erhellende Darstellung, die neben dem Gemeinschaftsaspekt des Vollzuges noch weitere zentrale Dimensionen des Betens beachtet (biblische, liturgische, frömmigkeitsgeschichtliche, geschlechtsbezogene Aspekte usw.). Das kann der Beitrag von Wright aufgrund seiner begrenzten Fragestellung nicht leisten.

 

Dem Gebet bei Edith Stein widmet sich schon zwei Jahrzehnte zuvor die Darstellung von Veronika Schmitt OCD, die das Steinsche Gebet als „Lebensprozeß“ in den Blick nimmt.135 Die Karmelitin arbeitet im Jahre 1982 insgesamt sieben136 biographische Entwicklungsphasen heraus, die der Autorin schließlich retrospektiv als „Kreuzwegstationen“137 erkennbar werden. Zwischen diesen Stationen geschieht nicht nur jeweils nach außen hin eine biographische Wandlung, auch innerlich setzen sich Entwicklungsvorgänge durch. Diesen führen als „innerer Weg“138 durch Nacht- und Kreuzerfahrungen schließlich zum Licht und zur Teilhabe an der Auferstehung Jesu Christi.139 Der Beitrag dieser Studie zum Verständnis des Betens bei Edith Stein besteht darin, dass die großen Linien ihrer geistigen Existenz in knapper und prägnanter Form gezeichnet und in ihrem Fluchtpunkt der Kreuzesberufung und – nachfolge Edith Steins gebündelt dargestellt werden. Desgleichen kann die Untersuchung Schmitts dafür sensibilisieren, wie Individuationsprozesse und biographische Entwicklungen Edith Stein sukzessive in eine vertiefte geistliche Existenz führten.

Phasen der religiös-geistlichen Entwicklung werden auch in biographischen Übersichten zum Thema, die sich in Studien von Felix Maria Schandel OCarm140 und Francisco Javier Sancho Fermín OCD141 finden. Bei Schandel geschieht dies jedoch ohne explizit auf einzelne Gebetsformen einzugehen.142 Fermín greift das Gebet Edith Steins ausdrücklich in knapper Form vor allem auf in Rahmen seiner Betrachtung über den „Karmel als konkreter Rahmen des Seinsvollzugs“143. Dort lenkt er den Blick auf die „Mystik des Alltags – Gebet, Meditation, Kontemplation“144 und die Aspekte „Arbeit der Selbstüberwindung“145, „Gemeinschaftsleben“146 und „Das Schweigen“147. Schon zuvor kommt er einschlussweise auf das Gebet zu sprechen im Rahmen seiner breiten Darstellung des Steinschen Weges „Von der Philosophie zur Mystik“.148 In der Entfaltung der historischen und der damaligen zeitgenössischen karmelitischen Tradition, in deren Rahmen die geistliche Entwicklung Edith Steins zu situieren ist, und in der Darstellung der „Grundinhalte der mystischen Philosophie“149, die Fermín mit einer Darstellung der „Karmelitischen Grundzüge der mystischen Philosophie Edith Steins“150 verbindet, liegt der Beitrag dieser Studie zur Frage nach dem Gebet bei Edith Stein. Auf den Beitrag von Maria Amata Neyer OCD151 zum geistlichen Text „Das Gebet der Kirche“ braucht an dieser Stelle der vorliegenden Studie nicht ausführlicher eingegangen werden, da dies noch im Rahmen der Besprechung des genannten geistlichen Textes geschehen wird.152 Neyer beleuchtet Einflüsse der zeitgenössischen Reformbewegungen und stellt biblische Bezüge heraus, die sich im Beitrag Steins als einem aus jüdischer Tradition und Frömmigkeit herkünftigem Menschen aufweisen lassen.

Über die genannten Studien hinaus sind bisher drei Abhandlungen erschienen, die das geistliche Leben bei Edith Stein in systematischer Perspektive sichten und dabei dem Thema Gebet das Interesse zuwenden. Diese Beiträge illustrieren biographische oder themengeschichtliche Zusammenhänge und konturieren Schwerpunkte der Spiritualität Edith Steins. Alle drei Studien lassen instruktive Ansätze erkennen, die in der Zusammenschau wichtige Akzente am betenden Geschehen bei Edith Stein vor Augen stellen. Eine summarische Sichtung dieser Forschungszugänge soll den Ausgangspunkt markieren, von dem aus eigene methodische Überlegungen angestellt werden.

2.2.1 Forschungsbeiträge von Josephine Koeppel OCD, Joanne Mosley und Dianne Marie Traflet

Einen zusammenschauenden Blick auf das geistliche Leben der Edith Stein und in diesem Zusammenhang auf ihr Beten ermöglicht eine 1990 in den USA erschienene Studie von Josephine Koeppel OCD. Die Monographie trägt den Titel „Edith Stein – Philosopher and Mystic“.153 Koeppels Beitrag legt den Akzent auf die biographischen Fügungen, die Edith Stein ermöglichen, ihr religiöses Leben in allen Wechselfällen immer stärker aus der Begegnung mit dem göttlichen Gegenüber heraus zu leben. Dazu geht die Autorin aus vom geistesgeschichtlichen Hintergrund Sr. Teresia Benedictas als unbeschuhter Karmelitin und von ihrem täglichen Leben im Alltag des Klosters. Einfühlsam und differenziert dargelegte Momente von Irritation, Enttäuschung und Trauer, von Neuaufbrüchen nach Erschöpfendem in Beruf und privatem Leben werden von Josephine Koeppel rückblickend als Prozesse der Wandlung und Weitung des religiösen Verhältnisses gesehen. Dem Leser der Studie wird wiederholt die posthume Perspektive verdeutlicht, in der eine rückblickende Schau mehr und noch anderes zu sehen imstande ist, als jenes, das Edith Stein im jeweiligen Moment ihrer Biographie möglich war. In der hohen Sensibilität für das Illustrieren der verschiedenen Perspektiven, in denen das gelebte Leben der Edith Stein ihr selbst und dem nachträglichen Betrachter in ganz verschiedener Weise vor Augen tritt, liegt ein bedeutendes Verdienst der genannten Abhandlung. Sie lädt den Leser immer neu ein, in den biographischen Wechselfällen eine vorsehende Fügung am Werke zu sehen. Weil das auf werbende statt auf apodiktische Weise geschieht, vermag der Leser diesem Duktus in der Weise zu folgen, dass die menschliche Verletzbarkeit und zugleich die Fähigkeit zum Gottvertrauen bei Edith Stein Kontur gewinnen. Der geistesgeschichtliche Kontext ihrer Lebensweise als Ordensfrau im Karmel wird umfassend gewürdigt und als hermeneutischer Schlüssel für ihre geistliche Existenz herangezogen. Das findet u. a. darin Ausdruck, dass einige Kapitel der Studie mit Abschnitten der Karmelregel eingeleitet werden154 oder Zitate aus den ordenseigenen Konstitutionen den Ausführungen vorabgestellt sind.155 Dieser Zugang zum betenden Geschehen der Edith Stein ist sehr instruktiv. Denn es wird bei der Lektüre der größere Zusammenhang des gottgeführten Weges sichtbar, auf dem Koeppel zufolge Edith Stein schließlich in den Karmel geführt wurde. Eine retrospektive Sichtung der Biographie Edith Steins, bei der betont und durchgängig von der Warte ihrer späteren Karmelexistenz auf ihre gesamte Biographie geschaut wird, bleibt allerdings vom Ansatz her anfällig für engführende Perspektiven. Denn im Verlauf ihres geistlichen Lebens war keinesfalls schon jederzeit ausgemacht, dass unsere Autorin in den Karmel gelangen sollte. Vielmehr waren immer neu große Offenheit und Unbestimmheit das Signum ihrer Biographie. Durch diese Unbestimmtheit konnte für Edith Stein jedoch auch die Dimension der Freiheit von Entscheidungen und diejenige des radikalen Vertrauens auf Gottes Fügungen an Bedeutung gewinnen, auch und gerade in prekären biographischen Momenten. Eine engführende Perspektive auf das Beten der Edith Stein, das nur noch vom geistlichen Leben der Karmelitin Sr. Teresia Benedicta her in den Blick käme, wird allerdings von Koeppel in allen Teilen ihrer Studie vermieden. Was die Autorin zum Gebet bei Edith Stein ausführt, erlaubt vielmehr tiefen Einblick in das je neue Zusammenwirken von biographischen Fügungen und mutigen Entscheidungen seitens der späteren Ordensfrau, die in der Darstellung Koeppels als geistlicher Mensch prägnante Kontur gewinnt.

Vierzehn Jahre nach dem Beitrag Koeppels erschien im Jahre 2004 eine Abhandlung von Joanne Mosley aus Großbritannien. Dieser Beitrag führt das Thema Gebet direkt und instruktiv im Titel: „Edith Stein – Woman of Prayer“.156 Bereits im Vorwort kommt die Autorin auf die zentrale Bedeutung des Gebets für das Verständnis von Edith Stein zu sprechen: „But to my mind, there is one label that holds all the others together, that I feel is the essence of Edith Stein: she was, first and foremost, a woman of prayer.“157 Edith Stein als Frau des Gebets kommt bei Mosley auf zweifache Weise in den Blick, was sich im Aufbau ihrer Monographie spiegelt. Der erste Teil „Ideals in Edith’s Life“158 gliedert sich in vier Kapitel, die programmatisch betitelt sind mit „The Search for the truth“, „The Truth of the Cross“, „Blessed by the Cross“ und „The Ultimate Sacrifice“. Ausgehend von der grundlegenden Affinität Edith Steins zu Wahrheit, die sie schließlich zur Wahrheit in Person führt, und zwar zu Jesus Christus, wird die karmelitanische Verbindung von Gebet und hingebender Opferbereitschaft konturiert. Diese vom Gebet orientierte Opferbereitschaft führt Edith Stein schließlich zur Lebenshingabe für andere, und zwar aus der innigen Verbindung mit Jesus Christus. Im zweiten Teil ihrer Studie geht Mosley – stärker als die Darstellung von Josephine Koeppel – von den biblischen Gestalten und Heiligen des Karmelordens aus, die das Beten der Edith Stein als ideale Leitsterne und Vorbilder orientierten und prägten. Dem entsprechend lautet die Überschrift des zweiten Teils „Ideal Figures in Edith’s Prayer“.159 Die biblischen und monastischen Gestalten werden in den vier Kapitel „Jesus: Empathy in Prayer“, „Mary: Our Model and Mother“, „Queen Esther: Intercession and the Jewish People“ sowie „The Saints of Carmel: Sanctity for All“ dargestellt. Ausgehend von der einfühlenden Begegnung Edith Steins mit der Gestalt Jesu Christi, die ihr in der Eucharistiefeier, im stillen Gebet und der Heiligen Schrift widerfährt, erlangt die altbundliche biblische Gestalt der Esther für Edith Stein Bedeutung, bis Maria an der Schnittstelle von Altem und Neuem Testament in den Blick der Untersuchung rückt. Von den Heiligen des Karmel stellt Mosley als für Edith Stein bedeutsam prägende Figuren zunächst Elia vor, dann Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz sowie schließlich Therese von Lisieux. Die Studie von Joanne Mosley ist die bisher einzige ausdrücklich dem Beten gewidmete Abhandlung über Edith Stein. Mosleys Beitrag erhellt in übersichtlicher und eingängiger Form, wie die Personen der alt- und neubundlichen Verheißung sowie Heiligengestalten Edith Stein innerlich nahe kommen und ihr Beten orientieren. In dieser personalen Sicht auf das Gebet der Edith Stein, bei der auch ihr tiefes Leben aus der Begegnung mit der Heiligen Schrift facettenreich aufgewiesen wird, liegt ein wertvoller Verdienst dieses Forschungsbeitrags. Die innige Verbundenheit Edith Steins mit dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn und mit der Gestalt Mariens als Gottesmutter und als wegbegleitender Schwester wird in gleichermaßen informativer wie geistlich instruktiver Weise dargestellt. So wird im Beitrag Mosleys insgesamt der Nexus von Wahrheitsliebe und Empathiefähigkeit in Begegnungen als hermeneutlischer Schlüssel erkennbar, der Zugang zu Edith Steins geistlicher Existenz ermöglicht.