Ich wollte lieber einen Hund

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Ich wollte lieber einen Hund
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Christina M. Kerpen



Ich wollte lieber einen Hund





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Ich wollte lieber einen Hund







Impressum neobooks







Ich wollte lieber einen Hund



Ich bin böse, böse, böse!!!





Als hätte ich es geahnt!



Ich war vier Jahre alt und, quasi als Geschenk vom Osterhasen, vertreten durch einen Klapperstorch, wurde mir eröffnet, dass Mama ins Krankenhaus gehen und mir bei ihrer Rückkehr ein Geschwisterchen mitbringen würde.



„Was hättest Du denn lieber? Einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester?“



Heute weiß ich es besser, so eine Frage ist bescheuert, glatte Verarsche, denn ein Umtausch ist zu keiner Zeit möglich und zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr. Echt, der war von vorneherein ausgeschlossen.



Aber damals, Anfang der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, wurden Kinder noch arg für Dumm verkauft und keiner hat sich daran gestört.



Gottlob sind diese Zeiten vorbei und man erklärt einem älteren Geschwisterkind, dass man großer Bruder oder auch große Schwester wird, aber man vergackeiert sie nicht mehr.



Doch mir wurde diese bekloppte Frage doch allen Ernstes noch gestellt.



Gut, es war April 1961 und Kinder waren halt dumm (und mich schien man für ein besonders zurückgebliebenes Exemplar gehalten zu haben).



Ich kann heute nicht einmal mehr sagen, wer mir diese Frage gestellt hat, auch wenn mir alles andere vor Augen steht, als würde ich es noch einmal erleben, jedoch meine ehrliche Antwort ist überliefert, denn die „Großen“ schienen das alles auch noch überaus witzig zu finden.



Meine Antwort auf die Frage: „Was hättest Du denn lieber? Einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester?“, war ganz schlicht und präzise: „Einen Hund!“



Die Erwachsenen haben sich geschüttelt vor Lachen und mir erklärt, dass das nun leider nicht ginge, es würde schon ein Menschlein sein.



‚So ein Mist!‘, dachte ich bei mir und brummelte lustlos: „Na, dann wenigstens eine kleine Schwester!“, worauf man geheimnisvoll erwiderte: „Na, wollen mal sehen!“



Ob dieser ermutigenden, wenn auch nicht befriedigenden Antwort, ein Vierbeiner wäre mir halt doch lieber gewesen, sah ich der Rückkehr meiner Mutter gelassen entgegen, da sich auch durch ihre Abwesenheit in meinem Tagesablauf nicht allzu viel geändert hatte. Da sie berufstätig war, war ich sowieso immer bei meiner über alles geliebten Oma und die war ja da. Meine Mutter vermisste ich wenig. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ich zum Abendessen nicht in unsere Wohnung gehen brauchte, sondern dass auch mein Vati bei meinen Großeltern gegessen hat.



Dann, Mitte April, war die Aufregung riesig.



„Ein Sohn, endlich ein Junge, unser Kronprinz!“



Häh?



Kronprinz?



Kronprinz sollte wohl heißen, ein Bruder!



Das fand ich gemein und habe es auch gesagt. „Einen Hund kriege ich nicht, dann wähle ich ein Schwesterchen und was bekomme ich? Einen Bruder!“



Der Abscheu war mir wohl deutlich ins Gesicht geschrieben, denn die Erwachsenen guckten alle so komisch und waren richtig ungehalten, wie ich in aller Ernsthaftigkeit, die einer Vierjährigen zur Verfügung steht, erklärte: „Den will ich nicht, gebt ihn zurück!“



Meine Oma erklärte mir sanft, dass das nicht ginge, aber dass ich mich bestimmt an den Kleinen gewöhnen werde.



Ich war stinksauer, stampfte mit dem Fuß auf und maulte: „Den will doch keiner, den könnt ihr in den Mülleimer schmeißen!“



Das war mein letzter Satz des Tages, denn ich bekam nur noch eine schallende Ohrfeige und wurde dann ohne weitere Diskussion und ohne Wasser und Brot zu Bett geschickt. Dabei stehen Wasser und Brot jedem Häftling zu. Warum nicht mir? Damals wusste ich das allerdings noch nicht, sonst hätte ich wohl Hafterleichterung gefordert, aber so ging ich zornig grummelnd, zutiefst getroffen und voller Kummer ins Bett.



Aus dem Kummer wurde im Laufe der tränenreichen Nacht erst Riesenzorn und dann heftige Wut, die allerdings bis zum Morgen verflogen war, denn ich war von der Heulerei so erschöpft, dass ich vor lauter Gram hohes Fieber bekommen hatte und die nächsten zwei Tage krank im Bett verbringen musste. Der von meiner Tante herbeigerufene Arzt konnte nichts finden und meinte, dass käme bei Kindern schon mal vor, dass sie grundlos Fieber bekämen. In ein paar Tagen wäre ich sicher wieder auf dem Damm.



Meine Omi versuchte alles, um mich zum Essen zu bewegen, aber mir war sogar das Kauen viel zu anstrengend. Ich bekam endlos Kirschsaft zu trinken, damit das Fieber sinken sollte, doch es dauerte noch fast eine Woche, bis ich ein wenig Nahrung bei mir behalten und auch wieder aufstehen konnte.



Ziemlich zeitgleich mit meiner Genesung wurde meine Mutter mit dem Kronprinzen aus dem Krankenhaus zurück erwartet.



Diese königliche Ankunft werde ich mein Lebtag nicht vergessen, denn ich sehe mich noch in der Tür stehen und höre mich freudig „Mami, Mami“, rufen. Ob ich meine Hände nach ihr ausgestreckt habe, weiß ich allerdings nicht mehr, denn die sofortige Dusche war so kalt, dass ich erstarrte.



Mit einem knappen „Hallo“, wurde ich beiseitegeschoben und dann hatte alles nur noch Augen für das Baby zu haben. Kein kleines Küsschen oder eine freundliche Umarmung, ja nicht einmal ein nettes Wort.



Ich stand im Weg und war lästig.



Ich huschte in die Ecke zwischen Wand und Ofen, mein Opa war Ofensetzer-Meister und es war ein traumhaft schöner Kachelofen, und beobachtete das begeisterte Treiben um das stinkende Bündel, welches penetrant nach Pipi roch, als es an mir vorbeigetragen wurde.



Ich spüre heute noch das Brennen in meinen Augen, weiß aber nicht mehr, ob tatsächlich ein paar Tränen gekullert sind. Ich weiß aber wohl noch, dass ich mich ganz entsetzlich einsam fühlte und mir irgendwie wie ein verlorenes Spielzeug vorkam, welches seinem Besitzer nie viel bedeutet hatte. (Ich habe von dem Tag an meine Besitztümer mit viel mehr Respekt behandelt und tue es heute noch, auch wenn es nur seelenlose Dinge sind.)



Niemand nahm von mir Notiz, keiner rief mich, damit ich mir den Familienzuwachs auch mal ansehen sollte.



Irgendwann wurde mir das Heitateita zu viel und ich schlich mich aus der Stube und ging durch die Küche nach draußen.



Ich rannte durch den Garten und kroch unter die riesigen Rhabarberblätter, die in dem Jahr ein besonders dichtes, schützendes Dach bildeten.



Ich wartete darauf, dass mich irgendwer zum Mittagessen rufen würde, doch nichts geschah.



Mir schliefen die Beine ein und feuchte Kälte krabbelte erst durch meine Kleider, dann über meine Haut und schließlich bis in meine Knochen.



Alles wurde gefühllos, erst die Füße und Hände, dann die Nasenspitze und die Ohren, die Arme und Beine und letztendlich auch der Rest meines Körpers.



Ich hörte, wie unser Nachbar zum Mittagessen nach Hause kam und lauschte, ob nach mir gerufen würde.



Ich hörte, wie unser Nachbar sich von seiner Frau verabschiedete, weil die Mittagspause in der Maschinenfabrik von Linde, dem damals größten Arbeitgeber in Sürth und Weiß, sich dem Ende entgegen neigte.



Niemand rief mich, niemand kam um mich zu suchen.



Ich fror erbärmlich und war tieftraurig.



Ich war vier Jahre alt und merkte grausam, es gibt keinerlei Verlässlichkeit auf der Welt.



Das Loch, in welches ich gefallen war, war tief und dunkel und mir wurde klar, wenn das Geschwisterkind nicht gekommen wäre, ich hätte nicht gemerkt, dass ich nicht sonderlich geliebt wurde. Aber an diesem Tag wurde mir das richtig und ziemlich schmerzhaft bewusst und vielleicht begann ich da zu begreifen, dass die Worte: ‚Wenn es nach Deiner Großmutter gegangen wäre, hätte ich Dich abgetrieben‘, etwas sehr Schlimmes bedeuten mussten, wenn ich damals auch noch nicht wusste, was der Sinn hinter diesem Satz war.



Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.



Irgendwann muss ich dann eingeschlafen sein, denn ich wurde von der Stimme meiner Tante geweckt, die mich offensichtlich suchte. Da sie immer bis spät abends arbeiten musste und sie jetzt zu Hause war, musste es längst Abendessenszeit sein.



Ich wollte mich gerade melden, da hörte ich meinen Vater rufen: „Lass gut sein, das Balg wird schon kommen, wenn es Hunger hat.“



Ich war zutiefst schockiert. Außer meiner Tante schien sich niemand Sorgen zu machen, im Gegenteil, ich war nicht erwünscht.



Also blieb ich, wo ich war und wunderte mich, dass es mir gar nicht mehr kalt war. Ich tat mir leid, aber ich wusste nicht, was ich machen sollte.



Als ich wieder wach wurde, war es stockfinster und ich hörte meine Großeltern. Oma klang ängstlich und ganz so, als ob sie weinen würde und mein Opa versuchte sie zu beruhigen. „Wir finden sie, Gertrud, wir finden sie sicher, ein kleines Mädchen verschwindet nicht einfach so. Die Kleine hat sicher beim Spielen nur die Zeit vergessen.“



„Aber sie hat keine vernünftigen Schuhe, keine Jacke oder Mantel an. Und außerdem hätte sie längst jeder nach Hause geschickt.“



Ich wollte antworten, aber stattdessen musste ich husten. Ich hustete noch immer, als mein Opa die großen Blätter des Rhabarbers beiseite schob und mich aus der Rabatte pflückte. „Kleines Marjellchen, wat mockst Du nur für Sachen. Wir suchen Dich schon überall.“

 



Das bleiche Gesicht meiner Oma tauchte hinter ihm auf und die sich darauf ausbreitende Erleichterung konnte sogar ich als kleines Kind ganz deutlich erkennen.



„Ich lasse erst mal Badewasser ein, Du siehst total durchgefroren aus.“



Oma hatte recht, ich fror fürchterlich.



Als Oma und Opa mit mir ins Haus kamen, wurde ich erst einmal von meinem Vater fürchterlich ausgezankt. Was mir eigentlich einfiele, einfach so wegzulaufen, schließlich würde man sich Sorgen machen.



Opa schob ihn kurzerhand beiseite, so wie ich vormittags noch beiseitegeschoben worden war und brummte: „Vorwürfe kannst Du dem Kind später machen, Erwin. Sie lag schlafend unter dem Rhabarber. War ja nicht so toll was ihr heute Morgen zugemutet wurde und wahrscheinlich ist sie noch zu geschwächt von ihrem Kranksein. Hoffentlich bekommt sie jetzt keinen Rückfall!“



Den bekam ich natürlich trotz heißem Bad und heißer Hühnerbrühe, der Allzweckwaffe meiner Oma für alle Gelegenheiten.



Am anderen Morgen wurde wieder unser Hausarzt gerufen, der den Verdacht auf eine Lungenentzündung äußerte und mir eine schmerzhafte Spritze gab.



Ich bekam das alles nur im Halbdämmer mit, denn ich glühte schon wieder wie ein gut geheizter Kohleofen. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, als wäre mein Kranksein ernst, denn meine Mutter wirkte kein bisschen besorgt, sie warf mir noch nicht einmal einen kurzen Blick zu, sondern war nur daran interessiert, ihren Kronprinzen vorzuführen, was dem Doktor ein indigniertes Kopfschütteln und hochgezogene Augenbrauen entlockte.



Mir fiel am Rande dabei ein, dass ich den neuen Augapfel meiner Mutter immer noch nicht gesehen, wohl aber nervig gehört hatte. Die ganze Nacht hat das Prinzchen die Alten wach gehalten. Er hat ununterbrochen geplärrt und tat es schon wieder.



Übrigens, der Bengel war ein Brüllkind. Keine Nacht hat er durchgeschlafen. Ich glaube, mindestens zwei Jahre lang verlangte er nach der nötigen und einem Kronprinzen zustehenden Aufmerksamkeit (ich ging schon zur Schule, als es endlich besser wurde).



Zu Anfang plärrte er ununterbrochen, dann lange Wochen stündlich und später mindestens zwei bis dreimal jede Nacht. Ich weiß das noch so genau, weil ich arme Sau das Zimmer mit dem Plärrer teilen musste und jedes Mal mit wach wurde, wenn einer der Erwachsenen den Schmarotzer trösten oder füttern musste und ich dann oftmals in der Schule kaum die Augen offen halten konnte.



Nun gut, das wusste an dem besagten Morgen im April 1961 noch keiner, denn an diesem Tag war ich das lästige Problem.



Als der Doktor in seinem schwarzen Mercedes weggefahren war, kam meine Mutter an mein Bett und knurrte mit kaum verhohlenem Zorn in der Stimme: „Nichts als Ärger hat man mit Dir, als ob ich mit dem Baby nicht schon genug zu tun hätte. Dass Du so widerwärtig ekelhaft und eifersüchtig bist, hätte ich nicht gedacht. Hätte ich doch bloß vor fünf Jahren das Richtige gemacht, als man mich dazu aufgefordert hat.“



Mir war egal, was sie damit meinte, ich fühlte mich wohlig und ganz leicht, hörte alle Geräusche wie durch Watte und sah alles mit hellen, strahlenden Rändern.



Wütend rauschte Mutter aus dem Kinderzimmer, weil Prinz Lästig mal wieder brüllte.



Das blieb so den ganzen Sommer über. Mama hat nach Prinzens Geburt nicht wieder gearbeitet, sie ließ sich lieber dazu hinreißen, sich einen Tyrannen vom Allerfeinsten zu erziehen.



Egal, ob er brüllte, kiekste oder pupste, sofort ließ sie alles stehen und liegen und rannte mit wehenden Schürzenzipfeln zu ihrem Liebling.



Ach, um noch einmal auf die Ankunft von dem Scheißerchen zu kommen, es dauerte noch mehr als eine Woche, bis ich den Brüllhansel das erste Mal gesehen habe und das auch nur, weil ich die Initiative ergriffen habe.



Ich war ja zunächst einmal krank und damit ziemlich lästig. Als es mir marginal ein klein wenig besser ging, „durfte“ ich umziehen, aus unserem Kinderzimmer im ersten Stock, wo die junge Familie eine Wohnung hatte, nach unten zu meiner Oma in die Küche, in der Wohnung meiner Großeltern. Dort stand eine wunderbar große, bequeme Chaiselongue, die ich als Kind heiß und innig geliebt habe.



Ich thronte dort, wie ihre Majestät persönlich und hatte alles im Blick.



Nach rechts die Tür zu Hof und Garten, nach links die Tür zur Diele und damit dem Rest des Hauses. Und das Wichtigste, in der Mitte, das volle Leben wie ich es liebte: meine Oma, die geschäftig kochte, buk und alle Arbeiten verrichtete, die damals in einem Haushalt anfielen.



Ich war froh, dass ich dem Geplärre in unserer Wohnung entfliehen „müssen“ durfte,



und nach der „Umbettung“ ging es mir auch gleich viel besser.



Meine Oma verwöhnte mich und das Fieber sank, sicherlich nicht zuletzt auch aufgrund des Kirschsafts und der selbstgekochten Hühnersuppe, die Omi mir vorsetzte.



Abends kam meine Tante von der Arbeit und sie ließ es sich nicht nehmen, mit mir zu spielen, bis mir vor Müdigkeit und der noch immer vorhandenen Schwäche die Augen zufielen.



Meine Mutter hörte ich zwar, denn ab und zu sauste sie mit einem stinkenden Windeleimer durch die Küche, aber sie schien mich in ihrer Eile überhaupt nicht zu bemerken. Sie hatte ja keine Zeit für ein lästiges Anhängsel, denn sie musste ja ganz schnell wieder nach oben flitzen, wenn der Brüller mal wieder losplärrte.



Meine Oma schaute ihr dann kopfschüttelnd hinterher, doch sie war eine kluge Frau und sagte nichts, nur an ihren gespitzten Lippen war die Missbilligung deutlich zu erkennen.



Dann, es war schon mehr als eine Woche seit der Heimkehr von Mutter und Kind vergangen, musste Mama zum Arzt und wollte ihren Prinzen natürlich nicht mitnehmen, um das arme, kleine, unschuldige Geschöpfchen nicht all den bösen, gemeinen und hinterlistigen Viren und Bakterien in einem Wartezimmer auszusetzen.



Ich vernahm die schrillen Anweisungen, die sie der Schwiegermutter gab und hörte dann meine Omi ruhig sagen: „Du kannst ganz beruhigt gehen. Ich habe selbst zwei Kinder großgezogen und bei Deiner Tochter hast Du mir von Anfang an vertraut, ohne Dich auch nur ein Staubkorn darum zu scheren, wie ich mich um sie kümmerte, warum sollte ich den Kleinen nicht genauso gut versorgen?“



Mutter war nicht überzeugt, denn auf solch ein Kronjuwel hat ihre Schwiegermutter doch noch nie Obacht geben müssen.



Meine gespitzten Öhrchen lauschten auf die Schritte, die in meine Richtung kommen würden, doch nichts dergleichen geschah, ich hörte nur wenig später die Haustür ins Schloss klappen und wusste, dass meiner Mutter ganzes Sinnen und Trachten nur noch dem Baby galten und sie mich schon vergessen zu haben schien, da ich ihr nicht einmal ein Abschiedswort wert war. Ich fühlte mich immer mehr hilflos, abgeschoben und ungeliebt.



Noch heute spüre ich das harte Band, welches sich damals um meine Brust legte und mir nahezu fünfzig Jahre die Luft zu nehmen schien. Das Band lockerte sich zwar irgendwann und fühlte sich ein wenig weiter an und auch das Atmen fiel nicht mehr ganz so schwer, wie in dem Moment, als ich, vier! Jahre alt, erkennen musste, nur der Sohn war das Gottesgeschenk, auf welches meine Eltern die ganzen Jahre gewartet hatten.



Es war wie eine Welle, die mich in dem Moment erfasste und ich begann zu rudern. Ich paddelte mit Armen und Beinen und fing in dem frühen Alter an, den Versuch zu starten, es möglichst jedem Recht zu machen, weil ich dachte, ich bekäme dann wenigstens ein paar Krümel von der Tortenplatte Liebe. Heute, mit weit über fünfzig, weiß ich, das war ein Fehler, der mein Leben bis zu meinem Tod als falsches Verhaltensmuster begleiten wird und mir viele Chancen und viel Lebensqualität geraubt hat und noch rauben wird, auch wenn ich daran arbeite, etwas zu ändern, aber das ist verdammt schwer!





Doch kehren wir zurück ins Jahr 1961, als mir ein von vielen Enttäuschungen gespickter Lebensweg aufgezwungen wurde.



Mama war also zu Tür hinausgestürmt, damit sie von ihrem Liebling auch keine Sekunde länger getrennt war, als unbedingt notwendig.



Kopfschüttelnd kam Oma in die Küche, ein Bündel Hellblau in den Armen. Sie lächelte mich an und murmelte: „Ich leg den Schreihals mal hier neben Dich. Du passt auf, dass er nicht runterfällt, während ich Dir ein Butterbrot schmiere. Magst Du dazu Kakao oder lieber Milch mit Honig?“



Ich liebte meine Oma in diesem Moment mehr, als alles andere auf der Welt. „Ich habe keinen Hunger, aber ich hätte gerne Milch, aber ohne Honig, das mag ich nicht.“



Meine Großmutter drehte sich um und begann mit dem Milchtopf und der Milchflasche, die gute Milch mit dem goldenen Deckel, zu hantieren, derweil ich einen neugierigen Blick auf das Bündel neben mir warf.



Viel erkennen konnte ich nicht, dafür war viel zu viel Stoff um das Menschlein gewickelt. Vorsichtig zupfte ich am Mützchen, was ein sofortiges Heulkonzert nach sich zog.



Seufzend zog Omi den Milchtopf von der Platte und kam zu uns herüber.



Ängstlich sah ich zu ihr hoch: „Ich hab nix gemacht, nur ein bisschen an der Mütze gezogen, weil ich ihn mal sehen wollte.“



Oma zog die Augenbrauen in die Höhe. „Hast Du das Baby noch nicht gesehen? Das gibt es doch gar nicht. Du bist schon eine arme Marjell. Wie sollst Du Dich als große Schwester fühlen, wenn Du Deinen Bruder nicht mal ansehen darfst.“



Der Bengel brüllte wie am Spieß und ihm wurde erst einmal die Mütze abgenommen. „Dem brauchst Du nichts zu tun, der brüllt eben. Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein so ewig brüllendes Baby erlebt. Wenn der Doktor nicht gesagt hätte, er ist kerngesund, würde ich behaupten, irgendetwas fehlt ihm. Aber ich wüsste auch nicht was. Er sieht gut gefüttert aus, die Windeln sind auch immer randvoll und werden noch während dem Schiss gewechselt und Liebe bekommt er eher zu viel.“



Sie seufzte: „Das ist halt ein Schreikind. Früher haben wir immer gesagt, ein gesundes Kind, das immer plärrt und knatscht, wird mal ein wirklich unangenehmer Zeitgenosse.“



Ach, Oma, Du warst so eine kluge Frau und wusstest damals wahrscheinlich gar nicht, dass Du tausendprozentig recht haben würdest.



Das brüllende Bündel war endlich ausgepackt und ich betrachtete das Resultat: Hochroter Kopf, verkniffener Mund, kugelrundes Vollmondgesicht mit abstehenden Ohrhenkeln, das war mein Eindruck, den ich bis heute im Herzen bewahrt habe. Und nur dort!



Damals war mein einziger, ehrlicher Kommentar: „Ist der aber hässlich!“



„Ach, Marjellchen“, murmelte Großmama leise, „Du bist zu Recht eifersüchtig, aber zeige das nicht so sehr, das würde Dir nämlich bestimmt nicht so schnell verziehen, wenn überhaupt jemals.“



Oma hat mich nie verraten und ich habe niemals erzählt, dass sie den Quälgeist zu mir auf die Chaiselongue gelegt hatte.



Bis meine Mutter zurückkehrte, war der Stinker frisch gewickelt und lag wieder in seinem Kinderwagen, wo er ohne Unterlass vor sich hin greinte.



Wie sich jeder vorstellen kann: Das Verhältnis zu meinem Bruder stand von Anfang an auf sehr tönernen, wackligen Füßen und meine Eltern haben in den folgenden Jahren alles, aber auch wirklich alles dafür getan, dass der Ton bröckliger und bröckliger wurde.



Es waren im Grunde genommen ganz banale Kleinigkeiten, die mir meinen Bruder immer weiter entfernten.



Der Bengel wurde vom ersten Tag an nach Strich und Faden verwöhnt. Und das blieb sein ganzes Leben lang so und ist bis vor kurzem für ihn völlige Normalität gewesen, eine Normalität, auf die er nie und nimmer zu verzichten bereit war und es bis heute nicht ist. Und wehe, es lief (oder läuft) nicht so, wie er es gerne hatte oder er bekam nicht alles sofort, wenn er etwas wollte, dann wurde er weinerlich und erpresste seine Eltern auf infamste Art und Weise. Das ist seine Natur und wird so bleiben, bis zum jüngsten Tag.



Als Baby und Kleinkind war er lediglich lästig, wobei ich sagen muss, auch wenn es mir nicht zur Ehre gereicht, ich fand ihn eher widerwärtig. Aber Mutter hing, und hängt immer noch, mit abgöttischer Liebe an dem Bengel und war stets darauf bedacht, dass ja kein Stäubchen sich auf ihrem Augenstern niederließ. Dafür sah er auch immer aus, wie aus dem Ei gepellt, äh, zumindest, bis sich die Erwachsenen mal einen Moment nicht um ihn kümmerten, dann stand er sofort bis unter die Haarspitzen vor Dreck oder klebriger Schokolade, die ihm im Überfluss reingestopft wurde.

 



Ich erinnere mich an ihn nur mit schokoladenverschmiertem Mund und wenn ich an die zwei oder drei Fotos in meinen Fotoalben denke…, meine Erinnerungen scheinen mich nicht besonders zu täuschen.



Damals kam gerade ein bestimmter, scheinbar unserer Nationalfußballspieler liebster Frühstücksbrotaufstrich, auf die deutschen Tische und er bekam Stulle um Stulle mit der Pampe beschmiert. Er aß ja nichts anderes!



Überhaupt, mit dem Essen war er sehr eigen!



Wie sagen unsere Kiddies heute auf so eine Untertreibung? Lol oder RofL, zu Neudeutsch

:


Laughing out Loud

 bzw. Rolling on (the) floor laughing, aber zu Altdeutsch schlicht und ergreifend: Ein Brüller!



Der war nicht nur

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