Paganini - Der Teufelsgeiger

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6

Parma 1795–1796

Marchese Di Negro zahlte die Reise nach Parma und übernahm alle Kosten, die der Aufenthalt dort forderte. Vater behauptete, Giacomo Costa könne mir nichts mehr beibringen, ja, er fürchtete sogar, unter Costa würde ich nichts weiter als ein zappeliger Schulgeiger werden. Papa Paganini genügte das nicht, deshalb setzte er alles daran, mich dem berühmten Lehrer und Violonisten Alessandro Rolla vorzustellen. Dieser Rolla dirigierte das Herzogliche Orchester des Herzogtums Parma. Auf ihn war ich äußert gespannt, musste mich allerdings noch in Geduld üben, denn die Reise in der Kutsche war anstrengend und schien kein Ende nehmen zu

wollen.

Nach den ersten Kilometern stieg ein finsterer Bursche ein. Unter buschigen rabenschwarzen Augenbrauen fixierte er mich böse. Seinem Aufzug nach zu urteilen kam er aus der Toskana, sah aber aus, als käme er direkt aus der Hölle. Ich drückte mich, so tief ich konnte, in meinen Sitz. Am liebsten wäre ich in die Rückenlehne geschlüpft. Glücklicherweise stieg der Toskaner an einem Ort namens Stradella aus. Vater, ich und eine Dame, die seit einiger Zeit mit tief ins Gesicht gezogenem Hut in einem Winkel des Reisewagens kauerte, holperten in die Dämmerung hinein, da hielt der Kutscher plötzlich vor einer Pferdewechselstelle mit angegliedertem Wirtshaus. Unser Gepäck wurde abgeladen und von einem jungen Burschen in ein enges Zimmer unters Dach des Wirtshauses geschleppt. Dort stellte er es ab, doch statt zu verschwinden, blieb er in ergebener Haltung stehen. „Der will etwas Palanche!“, sagte mein Vater und meinte damit Trinkgeld.

Später aßen wir gekochten Reis, mit Käse abgeschmeckt, und einige Stücke Schweinefleisch. Vater trank dazu einen Vino rosso, ich bekam Wasser. Die Wirtin strich mir über den Kopf und sagte: „Iss, Bambino! Iss, du bist ja dünn wie ein Ästchen.“

Früh am nächsten Morgen sollte es weitergehen. Doch die Pferde ließen sehr lange auf sich warten. Ich wurde ungeduldig, zappelte herum, bis mir Vater auf den Hinterkopf schlug. Endlich kamen junge, derbe Kerle, die lustlose Gäule hinter sich herzerrten. Dann ging es los, viele Stunden über holprige Straßen. Einmal wurden wir so heftig durcheinander geschüttelt, dass ich mit der Nase voraus in den Schoß meines Nachbarn – eines Jesuitenpadres, der unter Wadenkrämpfen litt – purzelte.

Wir übernachteten in Piacenza, einer schmutzigen, verfallenen Stadt, der Markt war grasüberwuchert mit verwahrlosten Wallanlagen und halb verschütteten Gräben. Jedes Haus stand düster da und blickte mürrisch auf seinen Nachbarn. Gott sei Dank fuhren wir nach der ersten Speise weiter und erreichten Parma am frühen Nachmittag des folgenden Tages. Nun wollte ich weder essen noch trinken. Ich wollte nur Geige spielen. Daran war ich gewöhnt, das war mir vertraut. Meine Finger verlangten nach dem Instrument, mein Herz sehnte sich nach seiner Berührung. In Gedanken zupfte ich eine hübsche Melodie, die mir unterwegs eingefallen war.

7

Am kommenden Tag eilten wir sogleich zu Maestro Rolla und waren völlig überrascht, trotz vorsorglicher Anmeldung nicht empfangen zu werden. Er sei unerwartet erkrankt und ruhe, erklärte die freundliche Signora Rolla. „Che guaio! Für nichts und wieder nichts die lange Reise!“, knurrte mein Vater mit vor Wut grünem Gesicht. Wieder warten, dachte ich verärgert. Dabei muss ich so unglücklich ausgesehen haben, dass die Signora mitleidig vorschlug:

„Warten Sie bitte im Arbeitszimmer. Ich sehe mal, was ich für Sie tun kann. Vielleicht empfängt er Sie morgen oder übermorgen. Dann sind Sie nicht ganz umsonst gekommen.“ Bei diesen Worten öffnete uns die Signora die Tür zu Rollas Studierzimmer, wo sie meinem finster blickenden Vater einen Platz anbot.

Ich musste mich stehend gedulden. Weil ich aber nervös und aufgeregt war, wanderte ich im Zimmer auf und ab. Da entdeckte ich auf dem Tisch nahe beim Fenster eine Partitur. Sie sah so aus, als wäre sie frisch komponiert worden. Ich konnte die Tinte noch riechen. Mein Vater beobachtete mich. Während ich um die Partitur schlich wie ein Fuchs um die Beute, spürte ich Vaters stechenden Blick auf meinem ganzen Körper. Ob er wohl das Gleiche dachte wie ich? grübelte ich. Das werden wir gleich sehen. Flink packte ich meine Geige aus, stimmte sie geschwind und postierte mich vor dem Tisch. Die Partitur lag etwas schräg und die Noten schienen wie flüchtig auf die Linien geworfen.

„Worauf wartest du?“, zischte Padre Paganini. Ich hatte also richtig gehandelt. Ich unterließ es, das Blatt gerade hinzulegen, sondern folgte augenblicklich dem Befehl meines Vaters. Ohne Zögern und Stocken spielte ich die Melodie. Vater zuckte mit dem Kopf, seine Augen verloren nichts von ihrer düsteren Farbe, doch sein Gesicht leuchtete auf wie von der Sonne beschienen. Das alles erfasste ich ganz nebenbei, in wenigen Sekunden, denn gleichzeitig tauchte ich vollständig in die fremde Melodie, eroberte sie, machte sie zu der meinigen. Und da erschien Maestro Rolla. Bleich wie der Mond, das Haar in alle Himmelsrichtungen strebend, den Mund offen, so stand er vor mir. Ich hatte ihn nicht eintreten hören. Entgeistert musterte er mich. Eine Haarsträhne tanzte auf seiner Stirn wie ein Staubwedel über einem Möbelstück. Seine Augen glänzten, ja sprühten Funken. Und seine fleischige Nase bebte. War er wütend, weil ich mich ungebeten an seinen Musikstücken zu schaffen machte? Jählings unterbrach ich mein Spiel, verbeugte mich und flüsterte verlegen: „Buon giorno, Signore, mi scusi!“ Er antwortete nicht. Er prüfte mich mit seinen glitzernden Augen. Lange verharrte sein Blick auf meinen Händen, streifte dann über meinen Arm in mein Gesicht.

„Als ich die ersten Töne hörte, sprang ich aus meinem Bett. Signora Rolla sagte, im Zimmer warte ein Zwölfjähriger, der bislang wenig in der Geige unterrichtet worden sei. Nach dem, was ich hier hörte, scheint mir das unmöglich.“

„Ist es auch!“, befleißigte sich Papà zu sagen. „Ich unterrichte den Jungen schon seit Jahren.“

Rolla musterte meinen Vater sehr kritisch. Seine Nasenflügel bebten und ein Anflug von Zornesröte färbte jäh das kranke Gesicht.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie der Urheber dieses Talentes sind, Signore!“

„Ach?“ Padres Mundwinkel verzogen sich deutlich nach unten. „Jedenfalls würde es diesen Jungen ohne mich gar nicht geben.“ Innerlich kochte er vor Wut. Gott sei Dank nahm es außer mir keiner wahr. Ich hoffte für Vater, Signore Rolla forderte ihn nicht zum Spielen auf. Meine Hoffnung erfüllte sich. Rolla reagierte nicht auf Vater, sondern sah mich ergriffen an.

„In deinen Augen glüht die Musik! Sie glüht in deinem Körper und befähigt dich zu unglaublichen Dingen. Niemand kann dir beibringen, was dir der Himmel geschenkt hat. Wir armseligen Sterblichen können dich nur fördern und vervollkommnen.“ Seine Nase hatte aufgehört zu zittern. Mit einer heftigen Kopfbewegung schleuderte er die dichte Haarsträhne aus der Stirn und wandte sich erneut an meinem Vater.

„Dieser Junge braucht meine Hilfe nicht. Er handhabt die Violine wie kein anderer. Wo es noch ein wenig mangelt, ist im Kontrapunkt. Schicken Sie ihn unbedingt zu Maestro Ghiretti, Violonist bei Hofe und berühmtester Kontrapunktist unseres Landes.“

Vater hörte die Worte „herzoglich“, „berühmt“, „Violonist bei Hofe“ und schlug mechanisch die Hacken zusammen. Er war kein Kriecher, mein Vater, aber der Glanz des Ruhmes und des Geldes ließen den düsteren Menschen leuchten wie eine Laterne und bewirkten Wunder der Freundlichkeit.

„Mein Sohn ist also tatsächlich sehr begabt?“

„Begabt?“, schrie Signore Rolla auf, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten. Er hob die Augenbrauen, bis sie in seinem Haaransatz verschwanden. „Er ist ein Genie, mein Herr! Da!“ Er hielt Vater die Partitur unter die Nase. „Da, prüfen Sie meine unleserliche Notenschrift. Der Junge störte sich nicht daran, im Gegenteil, er spielte, als habe er das Konzert selbst geschrieben.“ Bei den Worten wandte er sich an mich: „Ich rate dir übrigens, ein paar Stunden Kompositionslehre beim Hofkapellmeister Paër zu nehmen.“

Papa stand herum wie eine unvollendete Statue Michelangelos. Sein Mund klappte nach unten, die Haare klebten an seinem Kopf, die Augen quollen hervor. War er schon wieder verärgert?

„Stehen Sie nicht so lange untätig herum, Signore. Der Junge ist ein Genie, aber hat noch viel zu lernen. Vor allem in Harmonik.“

Wir blieben einige Monate in Parma. Während ich dreimal wöchentlich Harmonik bei Gasparo Ghiretti studierte und nebenbei dank Maestro Paër das Komponieren lernte, spazierte Vater durch die Stadt, wo er vermutlich seinen üblichen Geschäften nachging: Einkauf, Verkauf, Kartenspiel und Glücksspiel. Rolla hatte uns eine Herberge unweit vom Marktplatz empfohlen. Hier war es still und beim Üben blickte ich auf den Dom. Er inspirierte mich zu manchen Höhenflügen, Arabesken weit unten am Steg, Sprüngen mit dem Bogen, Zupfvarianten. War Vater unterwegs, wagte ich die kühnsten Schritte. Ich überlegte auch, wie ich die unterschiedlichsten Kunstgriffe mit zwei Händen bewerkstelligen konnte. Meine großen Hände und ihre außerordentliche Beweglichkeit erlaubten es mir, mit der linken Hand zu zupfen, sodass ich gleichzeitig den Bogen führen konnte. Wundervoll wie sich mein Daumen bis zur Handfläche biegen ließ. Das alles hörte sich noch ein wenig kläglich an, aber mit viel Übung würde es mir vortrefflich gelingen.

Hin und wieder fiel mir der Bogen aus der Hand. Meine Finger zitterten, mein Körper bebte und meine Zähne klapperten. Dann schwitzte ich und Vater meinte, ich hätte Fieber. Aber ich war nur erschöpft. Sein grimmiges Aussehen milderte sich bei meinem elenden Anblick. Er sagte, ich sehe so gespenstisch aus wie eines der marmornen Ungeheuer auf den steinalten Gemäuern des Marktplatzes. Dann nahm er mich bei der Hand und meinte spöttisch:

 

„Komm, ich zeig sie dir!“

„Ich will sie nicht sehen!“

„Dann zeig ich dir etwas anderes, aber gehen wir an die Luft.“

Er führte mich eine Weile kreuz und quer durch belebte Straßen bis wir zu einer seltsamen Kirche gelangten. Ihr Dach wurde von Marmorsäulen getragen und wollte man die Kirche betreten, schritt man sozusagen in die Erde hinein. Aber was für ein Publikum erwartete uns dort? In jedem Winkel hockte ein zerlumpter Mann oder eine verschrumpelte Frau, hinter jeder Säule kauerte ein Gespenst, und sobald wir uns näherten, erhoben sie sich und schlurften auf uns zu. Aber sie kamen nicht allein. Jeder schleppte einen Krüppel zum Betteln hinter sich her. Erschreckend sahen sie aus. Menschen mit Wasserköpfen, eitrigen Geschwüren im Gesicht, zahnlos, hinkend, übelriechend. Mir wurde erneut schwindelig. Warum führte mich Vater hierher?

„Lass uns gehen, schnell!“, verlangte ich und zerrte an seinem Mantel.

Wir gingen zurück. Langsam, mit offenen Augen für die heiteren Straßen und tief durchatmend. Vater meinte, ich solle mehr essen und besser atmen, ich sähe ja aus wie ein Nachtschattengewächs.

Bevor wir zum Essen ins Wirtshaus traten, zeigte er mir die Taufkapelle. Dort fühlte ich mich wieder besser. Ich betrachtete die schöne Gemäldesammlung des Gottestempels und beobachtete die bärtigen Künstler, die einige der Werke zu kopieren versuchten.

Wir verbrachten den Winter in Parma. Vater telegrafierte Carlo, er solle sich gut um die Familie kümmern und Mama sagen, dass ich mich gut entwickele, leider aber noch immer dünn wie ein Spaten sei. Carlo telegrafierte zurück, ihm gehe bald Vaters Geld aus, Niccolò aber solle kräftiger essen und weniger üben, denn würde ich verhungern, sei alle Mühe umsonst gewesen. Vater warf das Telegramm wütend auf den Boden.

Ich ging fleißig zu Fernando Paër wegen der Kompositionslehre, denn davon versprach ich mir sehr viel. Und dank Ghiretti fiel mir auf, was für eine außerordentliche Null im Kontrapunkt ich doch war. Ich musste noch tüchtig an mir arbeiten, um vollkommen zu werden. Nur manchmal und auch nur, wenn Vater in der Stadt unterwegs war, legte ich die Geige weg und lehnte am Fenster. Der Marktplatz war wie ausgestorben und hatte ich im Herbst noch Vogelstimmen gehört, so lag jetzt eine gläserne Stille über allem. Selbst der Wind heulte nicht mehr in den Winkeln und Nischen der Häuser. Und diese äußere Stille, die an die unheimlich Ruhe auf dem Land im ersten Morgengrauen denken ließ, wurde in meinem Kopf zu einem Konzert. Ich lauschte in mich hinein und vernahm viele unterschiedliche Melodien. Manche hatten einen kantiblen Charakter, andere wiederum machten Bocksprünge, andere klangen wie verstimmte Geigen. Ich hörte sie ganz klar, spürte ihnen nach, ergriff sie, ließ sie reifen. Reifen, saftig werden, zu einem enormen Klanggebilde wachsen, das meine Brust zerriss. In dem Augenblick stürzte ich auf die Musikhefte und goss die Musik in meinem Inneren aufs Papier. Danach ging es mir sehr gut, dennoch erschrak Vater jedes Mal über mein Aussehen, wenn er zurückkam. Und schnell ging es wieder hinaus ins Freie, egal wie kalt die Luft zum Atmen war. Er zeigte mir den Palazzo della Pilotta, vermutlich weil er glaubte, ich müsse mich auch an Theaterluft gewöhnen. Wo er mich jedoch hinführte, stank die Luft nach Moder und schmeckte sie nach Erde. Feucht, klamm, wie erstarrt, so fühlte es sich an, in diesem verlassenen Theater. Auf den verschimmelten Sitzplätzen lungerten Ratten und die Bretter der Bühne glänzten schmierig. Wie beim letzten Mal, in der unterirdischen Kirche, zog ich ihn am Mantel und zerrte ihn hinaus. Ich fühlte mich einsam, heimatlos und Orte wie diese vertieften die Trauer in meinem Herzen. Dann sehnte ich mich besonders nach meiner Geige. Sobald wir zurück in unserem Zimmer waren und Vater sein Schläfchen hielt, wollte ich ein wenig mit ihr plaudern.

8

Filippo Buonarotti war nach kurzem Frankreich-Aufenthalt, wo er sich Anregungen und geistige Nahrung für den italienischen Aufstand geholt hatte, zurück bei seiner Frau Francesca und seinem Sohn Andrea. Er blieb drei Tage im Haus in Carrara, aß genüsslich die würzige Pasta und trank vom toskanischen Wein. Seine Gedanken hingegen flohen immer wieder zu der neuen Arbeit. Er sollte als Kommissar in der Republik Oneglia fungieren, zögerte jedoch, Francesca von der Notwendigkeit eines Umzugs zu überzeugen. Natürlich steckte hinter seinem Zögern nicht nur die Furcht vor ihrem Gezeter – sie war vernarrt in die Toskana und wollte sie nicht verlassen –, ihm graute auch vor ihrer Reaktion, entdeckte sie den wahren Grund des Umzuges. Deshalb machte er sich zunächst allein auf den Weg. Hätte er in Oneglia erst einmal ein hübsches Häuschen erworben, würde er sie locken und zerstreuen können. An Geldmitteln fehlte es ihm nicht. Seine französischen Gesinnungsgenossen hatten ihn großzügig ausgestattet, verlangten allerdings als Gegenleistung, unter dem Deckmantel des politischen Kommissars in Oneglia ein jakobinisches Hauptquartier zu errichten.

Glücklicherweise erfuhr Francesca davon zunächst nichts. Ihr Zetermaul aber war durch den Hauskauf gestopft und statt lästige Fragen zu stellen, jubilierte sie über den finanziellen Aufstieg ihres Mannes. Der fünfjährige Andrea wiederum hätte gerne Fragen gestellt. Es interessierte ihn, wohin sein Vater ging, wenn er nachts das Haus verließ, er folgte ihm mit den Augen, lauschte auf seine Worte, wenn abends Freunde kamen, mit denen er in einem Zimmer verschwand. Bewundernd sah er an ihm hoch, weil er die Bewunderung und den Respekt der anderen für seinen Vater spürte. Manchmal nahm Buonarotti seine kleine Familie zu Versammlungen mit, aber nur, weil die Mitglieder mit Essen und Getränken versorgt werden mussten, wofür sie Frauen brauchten.

Bei einer dieser Versammlungen – es war im März 1795 – lernte Andrea die vierjährige Carlotta Servetto kennen. Die Kleine war von Anfang an dabei, da Giorgio immer mit Frau und Kind nach Oneglia kam. In Signora Servetto wütete der Kampf um ein unabhängiges Italien mehr als in Giorgio. Sie hasste Kaiser Franz, schimpfte ihn einen Barbaren, unfähig und unwillig, die italienische Kultur und Mentalität zu begreifen oder ihr entgegenzukommen. Ein Haustyrann im Schlafrock und Käppchen, so nannte sie ihn. Als einzige Frau unter den Männern lockerte sie die ernsten Gespräche mit frechen Reden auf, während die Kinder unterm Tisch miteinander Bekanntschaft machten.

Als Buonarotti ein Jahr zuvor von Robespierres Hinrichtung erfahren hatte, war es ihm kalt den Rücken hinuntergelaufen, aber es war ihm nicht der Gedanke gekommen, eines Tages selbst ein Opfer der neuen französischen Regierung zu werden. Ahnungslos hatte er im Königreich Neapel, in der Lombardei, in Ligurien, doch vor allem im Piemont Unterschriftenlisten verteilen lassen, die mit einem für ihn verhängnisvollen Satz endeten: Die Zeit ist reif, dass die Perücken von unseren Händen gekämmt werden. Anlässlich seines Aufenthalts in Menton wurde er verhaftet und als Anhänger Robespierres bei Wasser und Brot eingesperrt. Der Freiheitsentzug sollte sein rebellisches Blut beruhigen, aber Buonarotti zürnte nun erst recht. Wieder auf freiem Fuß stürzte er sich erneut in die Arbeit. Dank der Gelder der französischen Genossen und der Hilfe seiner Freunde konnte er sein Programm radikalisieren. Der junge Andrea zählte zu seinen treuesten Anhängern.

9

Antonio war froh, in Parma zu sein und weder dem Dottore noch Giorgio zu begegnen. Die in seinen Augen Verblendeten hatten sich einer von Buonarotti ins Leben gerufenen Organisation verschrieben, die mittlerweile einen Namen trug, aber noch stets aus einem Haufen orientierungsloser, begeisterter junger Männer bestand, dem die Konsequenzen seiner Rebellion nicht bewusst war. Sie nannten sich Jakobiner, sangen „La Carmagnola“ und trugen die phrygische Mütze. Weder Geldstrafen noch die Drohung, dafür im Gefängnis zu landen, hielten sie zurück. Antonio wollte davon nichts wissen. Er wünschte Ruhe und Sicherheit, um mit Niccolò ungestört Konzertreisen machen zu können. Die Zeiten waren gefährlich, überall brodelte es. Gleichzeitig schien das Land fest im Griff der herrschenden Dynastien und der Kirche zu sein. Aus diesem Grund bangte Antonio auch um Freund Giorgio, der mittlerweile geheiratet und eine Tochter bekommen hatte. Italiens Herrscher waren gewarnt und beugten der Machtergreifung rebellischer Elemente mit schauerlichen Maßnahmen vor. In Neapel wurde ein junger Mann vom Klerus zu einem grässlichen Tod verurteilt, weil er in einer Kirche „Vive Paris, vive la liberté“ geschrien hatte. Sein eigenes Pferd musste ihn so lange durch die Straßen schleifen, bis ihm die Haut in Fetzen hing. Dann schnitt man ihm die Zunge heraus, die Hände ab und knüpfte ihn auf. Sein gesamtes Eigentum ging an die Kirche.

„Diese Verrückten hoffen auf Napoleon als den Retter Italiens!“, zischte Antonio vor sich hin. „Unter seiner starken Hand solle das Land zusammenfinden, würden die Bewohner leichter untereinander handeln, gewinnträchtig verkaufen, sich zu einem gesunden Ganzen entwickeln.“ Er spuckte verächtlich aus. Blutige Aufstände ohne klares Ziel waren an der Tagesordnung. Die einen nahmen Kirche und Christen ins Visier, andere die Juden und Bürger, wieder andere die Reformisten und manche die Franzosen, weil sie diese als neue Fremdherrscher fürchteten.

„Wasser, Klee, Kühe, Musik und Geld sind des Italieners Musen und nicht die Revolution!“, stieß Antonio zornig hervor. Ihm gefiel der Satz. Er sollte einer seiner Prinzipien werden, nur in umgekehrter Reihenfolge.


Januar und Februar des Jahres 1796 vergingen und Antonio konnte sich noch immer nicht entschließen, nach Genua zurückzukehren. Erst sollte Niccolò perfekt sein. Der Junge lernte schnell und nichts interessierte ihn mehr als die Musik. Rund um die Uhr Musik. Spielte er nicht, so komponierte er, und komponierte er nicht, arbeitete er mit Paër oder Ghiretti. Nachts schlief er so tief, dass selbst das heftige Gewitter Mitte Februar ihn nicht aus seinem Träumen reißen konnte. Für Sekunden erhellte sich der Himmel unter tosendem Krachen, strahlte wie ein Diamant und Niccolò schlief. Ja, seine Augen zuckten nicht einmal, als sich der Donner direkt über dem Haus entlud. Das Zimmer flammte in gleißender Helligkeit auf, doch Niccolò lächelte mit geschlossenen Augen. Antonio mochte Naturgewalten nicht. Sie verunsicherten ihn. Beunruhigt warf er sich im Bett von einer Seite auf die andere. Die Nacht trat auf der Stelle, der Morgen wollte nicht kommen, das Unwetter zog sich schwerfällig unter unzufriedenem Grollen zurück.

Der März brachte würzige Luft. Niccolò liebte diese Frische. Nach seinen Übungsstunden spazierte er über den stillen Marktplatz und begrüßte die Vögel vom letzten Jahr.

Der Monat brachte auch die Franzosen nach Italien. Antonio saß am offenen Fenster der Wohnung in Parma, schnupfte Tabak und genoss die grelle Sonne. Indessen der Sohn in einem geschützten Winkel seine täglichen Übungen absolvierte, dachte Antonio über den Einmarsch der Franzosen nach, wobei er hin und wieder laut vor sich hinschimpfte:

„Du, Giorgio, und deine Bande um Buonarotti, ihr werdet nun jubeln. Aber freut euch nicht zu früh! Die Franzosen haben mit ihrem Eroberungszug nichts anderes im Sinne, als ihre Taschen zu füllen. Ein waschechter Genueser riecht so was. An Italiens Einigung liegt ihnen nichts, solange sie von seiner Zerstrittenheit profitieren. Und einem Volk samt dessen Regierungen, die in Zeiten, als Frankreich Descartes, Diderot und Voltaire ausbrütete, in mittelalterlichen Strukturen festklebten, abergläubisch waren und politisch völlig bedeutungslos, traut doch Frankreich keine reifen Schritte zu. Ha, dass ich nicht lache!“, entfuhr es Signor Paganini laut. Niccolò erstarrte in seiner Bewegung und sah verwirrt den Vater an.

„Du hast nichts falsch gemacht, verdammt! Nach allem, was deine schlauen Lehrer behaupten, machst du doch nichts mehr falsch, figlio mio! Ich rede nur so vor mich hin. Spiel und kümmere dich nicht um meine lauten Gedanken!“

Niccolò ließ den Kopf sinken und seufzte. Vaters Worte zu ignorieren, wurde bislang mit Essensentzug oder Backpfeifen bestraft. Erleichtert über die plötzliche Veränderung legte Niccolò die Geige auf den Tisch, schüttelte kräftig seine Arme, spreizte seine Finger und streckte alle seine Glieder, als wolle er mit den Fußspitzen den Boden durchdrücken und andererseits die Zimmerdecke berühren. Sein Vater runzelte die Stirn.

 

„Lass das sein! Deine Glieder sind schon lang genug. Spiel, habe ich angeordnet!“

Behutsam griff Niccolò wieder zu seinem Instrument. Er nahm es so zärtlich in die Hand wie ein junges Kätzchen. Diesmal tauchte er vollständig in seine Arbeit, sah und hörte vom Vater nichts mehr.

„Freut euch nicht zu früh“, brummte dieser von neuem. „Die Franzosen scheren sich einen Dreck um unsere patriotische Entwicklung. Aber, was zum Teufel, geht mich das alles an?“

Gemütlich streckte er die Beine aus und gab sich den wohltuenden Sonnenstrahlen hin. Die Hintergrundmusik wiegte ihn. Niccolòs Klänge füllten sich mit Wärme und Herz, sein Bogenstrich griff energischer und ließ keinen Widerspruch mehr zu. Ja, brummelte Antonio tief befriedigt, was geht mich das alles an. Und allmählich döste er ein.

Und es ging ihn doch etwas an. Die politische Situation durchkreuzte Antonios Pläne. Napoleons Feldzug oder Geldzug hatte recht Aufsehen erregend begonnen. Das Königreich Sardinien legte widerstandslos die Waffen nieder, Mailand ließ sich mühelos erobern, nur in Lodi musste der Sieg erkämpft werden. Parma empfing ihn sogar freundlich. Manche jubelten ihm zu, blähten sich stolz auf, wenn der Blick des sagenumwitterten Generals zufällig auf ihnen ruhte, andere wiederum spähten keifend hinter vorgezogenen Vorhängen auf den Einmarsch und wünschten ihm den Tod. Machtgierig, geldgierig, vom Ruhm besessen, zischte es im Verborgenen. Er will die Welt, hieß es, er will Gott vom Thron stürzen, er ist vom Teufel, schaut ihn nur an.

Antonio beschloss, wie so manches Mal in seinem Leben, sein Fähnchen nach dem günstigen Wind zu richten. Und der kam von Napoleon. Diese Brise konnte eventuell auch seinem Söhnchen zum Vorteil gereichen. Während Napoleon Modena einnahm, schließlich Mantua bedrohte, das den Handelsweg nach Österreich sichern und das Piemont sowie das Kaiserreich Österreich auseinandertreiben sollte, spielte Niccolò vor den Landesherren in Colorno und Sala. Voller Mitleid erwarteten die blaublütigen Herrschaften in Sala die ersten Töne des schmalen Knaben, der nur zögernd vortrat, an dessen Arm die Geige schwer wie die Glocke der Chiese Santa Maria Maddalena zu hängen schien und dessen langes, durchsichtiges Gesicht von der Glut zweier nachtschwarzer Augen beinahe verzehrt wurde. Er führte seine Variationen zu „La Carmagnola“ vor. Die Zuhörer saßen reglos da und starrten gnädig auf den blassen Dreizehnjährigen, dessen Leben und Kraft mit unvorstellbarer Zielsicherheit in die Geige floss. Dabei fühlte Niccolò in Sala eine große Schwäche, die er in Colorno nicht bekannt hatte. Die Herbstluft draußen war nasskalt, der Saal überheizt. Er hatte schon geschwitzt, als er ankam, doch nun rann der Schweiß in Strömen an ihm herab. Sein Haar klebte, seine Kleidung klebte, seine Beine zitterten vor Mattigkeit, aber in seinen Fingern pochte wild das Leben, in seinem Kopf leuchtete sternenhell die Partitur, in seinem Herzen machte die Musik Freudensprünge. Kaum verwehte der letzte Ton im Saal, schnellte das Publikum von seinen Sitzen hoch, applaudierte, jubelte, stieß Bravorufe aus. Niccolò vernahm die Geräusche, so wie er das Rauschen des Meeres vernahm, wenn er auf den Anhöhen der Bucht von Genua spazieren ging. Er verbeugte sich mehrmals, schwankte und spürte dann ein paar Arme, die ihn stützen.

Er war erkrankt. Der Herbst in Parma bekam seiner schwachen Lunge nicht. Er hustete, atmete röchelnd, hatte blutigen Auswurf. Vater Antonio machte ein sehr besorgtes Gesicht, denn Niccolò sah wirklich elend aus. Was tun? Der Junge sehnte sich nach Genua zurück, eine Reise jedoch würde er in diesem Zustand nicht überstehen. „Trotz der verhassten Franzosen hat sich bis jetzt alles vielversprechend entwickelt“, grummelte Antonio in sich hinein. „Innerhalb eines Jahres hat der Junge gelernt, wofür andere ein achtjähriges Studium benötigen. Seine Konzerte sprechen sich herum, er wird als junges Talent bejubelt, die Kassel klingelt, ein Haus im Polcevera-Tal rückt in unmittelbare Nähe und nun das …!“ Antonio raufte sich nicht lange des Geldes wegen das Haar, sondern zitierte den besten Arzt der Region herbei. Als der Mediziner jedoch auch ein besorgtes Gesicht machte, wurde Antonio wirklich bekümmert.

„Lungenentzündung ist nicht harmlos, Signore, und der Kleine ist ja so zart gebaut wie eine Amsel. Sein Brustkorb misst kaum mehr als der Durchmesser meiner gespreizten Finger!“, konstatierte der Doktor, nachdem er Niccolò sorgfältig untersucht hatte. Unwillkürlich betrachtete Antonio die Hände des Dottore. Sie waren unverhältnismäßig groß.

„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ich zahle alles. Er muss wieder auf die Beine kommen.“

„Sollte er auf die Beine kommen, müssen Sie ihm unwiderruflich einen Monat Ruhe gönnen, sonst könnten Sie die Geige bald für horrende Panache verkaufen.“

„Ich bitte Sie um etwas mehr Pietät, Dottore! Sie sind doch Katholik. Mein Sohn ist nicht nur ein Genie, er ist auch ein Stehaufmännchen. Schon zweimal hat er dem Tod die Tür gewiesen.“

„Sehr schön! Das zeugt von starkem Lebenswillen. Hier schreibe ich Ihnen auf, was der Pharmazeut mischen soll.“ Er kritzelte ein paar unleserliche Worte auf seinen Notizblock und reichte Antonio den Zettel. „Fiebersenkende und schleimlösende Mittel und einen hustenstillenden Sirup. Sie, Signore, sorgen dafür, dass er im Bett bleibt, die Geige nicht anrührt und sehr, sehr viel trinkt. Natürlich, bei Santa Maria, kein Brunnenwasser. Übersteht er die nächsten vier Tage und ist am fünften wohlauf, darf er zurück nach Genua. Und …“,

er hob drohend den wurstigen Zeigefinger seiner riesigen Hand, „drei bis vier Wochen Ruhe, gutes Essen, Spaziergänge in der Bucht von Genua, falls es Buonaparte erlaubt.“


Buonaparte, klein geratener Sohn verarmter Adeliger, geboren in bescheidenen Verhältnissen eines rückständigen Korsikas, das unter der Rivalität und endlosen Vendetta der Clans verfaulte, sprach den korsischen Dialekt und strebte nach Höherem. Als Zehnjähriger trat er in die Militärschule ein, verließ sie mit fünfzehn als Leutnant, avancierte zum Oberfeldwebel und erhielt den Auftrag, Toulon aus englischer Hand zu reißen. Die Stadt fiel und Buonaparte, inzwischen vierundzwanzig, wurde zum General ernannt. Anschließend trieb er sich wie alle Generäle in Paris herum, entkam der Säuberungsaktion des Terrorregimes und warf den Royalistenaufstand gegen das Direktorium nieder. Zur Belohnung unterstellte man ihm die italienische Armee. Gleich anfangs ließ er sich die standhaftesten Verfechter der italienischen Befreiungsidee vorführen, unter anderen einen gewissen Buonarotti, den er aus dem Gefängnis holte und zum Chef der italienischen Patrioten auserkor. Noch im selben Jahr änderte Oberbefehlshaber Buonaparte seinen Namen in Bonaparte und heiratete Josephine de Beauharnais.

Vor dieser Josephine, die nun Bonaparte hieß, spielte Niccolò am 27. November 1797. Er fühlte sich besser, wenn auch wohl nicht ganz gesund, denn seine Beine zitterten immer noch ein wenig und der Husten quälte ihn nur dann und wann. Die Genueser Luft jedoch vollbrachte Wunder. Und vor allem Mama. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass er sich nicht verausgabte, viele Kräutertees trank, seine Medikamente einnahm, solange sie nötig waren, und nur bei Sonnenschein spazieren ging. Ja, sie sorgte sogar für saubere Bettwäsche, was Niccolò sehr schätzte. Bis jetzt hatte die saubere Wäsche nie sauber gerochen, da sie Teresa im öffentlichen Waschbecken, vielleicht auch in irgendeinem Fluss oder Rinnsal schrubbte und am Fenster des Hauses der stinkenden Passo di Gatta trocknete. Bald jedoch, ja bald würde sie köstlich riechen, denn der Vater beabsichtigte, ein Haus im Polcevera-Tal zu kaufen.