Die Passion Jesu im Kirchenlied

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From the series: Mainzer Hymnologische Studien #28
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2.2.4 Ergebnis
2.2.4.1 Annäherung an das Kreuzesereignis mithilfe von Bildern

Luther hat in seinem Lied nicht eine einzige Deutung des Todes Jesu ausgeführt, sondern er umschreibt mit verschiedenen Bildern und Deutungen das Geschehen am Kreuz. Darin entspricht er der ntl Rede vom Heilsgeschehen in Christus, da im NT eine Vielfalt an Deutungen des Todes Jesu vorgebildet ist, die nebeneinander stehen und jeweils ihren eigenen Zugang zum Kreuz eröffnen.

Stellvertretung im Reich des Todes

Eine zentrale ntl Kategorie zur Deutung des Todes Jesu legt Luther seinem Lied zugrunde: Die der Stellvertretung. Er stellt sie in den Kontext der Vorstellung von zwei Herrschaftsbereichen, dem Gottes und dem des Todes. Die Macht des Todes über den Menschen, wegen der er uns „in seinem Reich gefangen“ halten konnte, beruht auf dem Verhängnis der Sünde, das universal auf der Menschheit lag: „kein Unschuld war zu finden“.

Dennoch ist in den ersten Liedversen die Stellvertretung Christi, der „für unsre Sünd gegeben“ war, nicht im Zusammenhang einer Sühnetheologie zu begreifen. Denn hier nimmt Christus nicht unsere Sünde auf sich, sondern er begibt sich „an unser statt“ in die Fänge des Todes, um so dem Tod „all sein Macht und all sein Gwalt“ zu nehmen, der nämlich angesichts der Sündlosigkeit Jesu kein Mittel und keine Berechtigung mehr hat, seinen Gefangenen zu halten.

Weil der Tod durch die Stellvertretung Christi seinen Stachel verloren hat, ist er nun keine Gefahr mehr für den Menschen.

Luthers Theorie des stellvertretenden Strafleidens Christi, in dem er den Zorn Gottes auf sich nimmt, ist hier nur angedeutet; da Versöhnung von Gott und Mensch noch nicht zum Thema wird, sondern der Zusammenhang von Sünde und Tod das Geschehen bestimmt. Mit dem Ausklammern der Rede vom Zorn Gottes wird hier deutlich, daß auch das Stellvertretungsverständnis in der Satisfaktionstheorie Anselms nicht im Hintergrund steht.

Luther schafft in den ersten Strophen Verbindungen der Kategorie der Stellvertretung mit anderen ntl Texten.

Stellvertretung wird in den ersten Strophen verbunden mit der eschatologischen Erwartung der Überwindung des Todes in 1 Kor 15, in der die Auferstehung der Menschen infolge der Auferstehung Christi thematisiert ist.

Luther bringt ebenso die ntl Dahingabeformel „für unsre Sünd gegeben“ mit der Stellvertretung im Reich des Todes in Verbindung; die Rede von der Dahingabe mündet aber hier nicht in einen sühnetheologischen Kontext, sondern in das Modell von der Herrschaft des Todes aufgrund der Sünde, die aber ohne ein Sühnehandeln aufgelöst wird.

Der Machtverlust des Todes durch Christus, der sich anstelle der Menschen in dessen Gefangenschaft begibt, ist das Rettungsmodell, das den ersten drei Strophen zugrunde liegt. Es folgen aber weitere in den folgenden Strophen, in denen die im NT oft mit der Kategorie der Stellvertretung verbundene Sühne eine Rolle spielen wird (vgl. unten „Das erneuerte Passahfest“).

Das im folgenden beschriebene Modell vom „duellum mirabile“ nimmt nicht die Machtlosigkeit des Todes aus Str. 3 auf, sondern schildert den Tod noch als mächtigen Feind.

Duellum mirabile

Mit dem Bild vom duellum mirabile stellt Luther den Kampf zwischen Leben und Tod, der mit der Vernichtung des Gegners endet, in die Mitte des Liedes. In der oben schon kurz zitierten Osterpredigt hat Luther ähnliche Motive verwendet, um den Sieg Christi über den Tod darzustellen:

„Es ist nützlich und notwendig, daß wir uns wider solchen Feind (den Teufel, d.V.) rüsten und auf ihn gefaßt machen mit rechtem Verständnis der Kraft und Frucht der Auferstehung Christi, auf daß wir nicht denken, daß Christus um seiner selbst willen von den Toten auferstanden und gen Himmel gefahren sei, daß er für sich allein in aller Seligkeit lebe, sondern daß er sein Gut und Erbteil mit uns teilte. Denn um seiner selbst willen ist er nicht auf die Erde gekommen, um seiner selbst willen hat er sich nicht ans Kreuz schlagen lassen. Er hat dessen für sich nicht bedurft, sondern unsere Sünde hat er getragen, unsern Tod hat er durch seinen Tod hier hinausgebissen und verschlungen, und die Hölle, in die hinein wir fahren sollten, hat er zerstört, wie im Propheten Hosea (13, 14) geschrieben steht: „Ich will sie aus dem Totenreich erlösen und vom Tode erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein, Totenreich, ich will dir eine Pest sein“. Er redet von unserm Tod und von der Hölle, die uns gefangenhielt, und sagt, er wolle die Sünde austilgen, die auf mir liegt und mich anklagt, und den Tod und die Hölle zunichte machen, die mich fressen und verschlingen will.

So sollen wir dieses Mannes, der da „Jesus Christus“ heißt und allmächtiger, ewiger Gott, und unschuldiger, gerechter Mensch ist, Leiden, Sterben und Auferstehung gegen unsere Sünde und Tod setzen. Kommt der Teufel und spricht: Siehe da, wie groß ist deine Sünde! Siehe da, wie bitter und schrecklich ist der Tod, den du leiden mußt! So sprich du dagegen: Lieber Teufel, weißt du nicht dagegen, wie groß meines Herrn Jesus Christus Leiden, Sterben und Auferstehung ist? In ihm ist ja ewige Gerechtigkeit und ewiges Leben, in ihm ist eine allmächtige Auferstehung von den Toten, welche nicht allein größer ist, als meine Sünde, Tod und Hölle, sondern auch größer als Himmel und Erde. Meine Sünde und Tod ist das Fünklein, aber meines Herrn Christus Sterben und Auferstehung ist das große Meer.“1

Die innere Struktur dieses Predigtausschnittes entspricht dem inhaltlichen Verlauf des Liedes: Voran steht die Feststellung des Handelns Jesu ausschließlich für uns und mit dem Ziel, „sein Erbteil“ mit uns zu teilen, d.h. uns das Leben, mehr noch, sich selber zukommen zu lassen. Christus selber ist das Gut, das uns zukommt: „Christus will die Kost uns sein und speisen unsre Seel allein“.

Es folgt die Deutung seines Sterbens als Sieg über den Tod und schließlich die Aufnahme der Szene, in der in der Predigt der Mensch dem Teufel und im Lied der Glaube dem Tod das Blut Christi entgegenhält.

In der Auslegung wird deutlicher als im Lied, wie die Rede von den sich gegenseitig vernichtenden Toden zu verstehen ist: „unsern Tod hat er durch seinen Tod hier hinausgebissen und verschlungen“. Als „ein Tod den andern fraß“, ist also nicht nur der Tod an sich, als Herrscher in seinem Reich, sondern auch unser individueller Tod mit ihm vernichtet worden. In diesem Verständnis ist die scheinbare Vorzeitigkeit des Geschehens aufgelöst zum Geschehen an uns, es wird zum Geschehen in unserer Gegenwart.

Das im Lied zum Symbol geronnene Blut des Osterlammes (Str. 5) schließt nach dieser Auslegung in sich das gesamte Ereignis von Leiden, Sterben und Auferstehen und steht für „ewige Gerechtigkeit und ewiges Leben“. Qualitativ und quantitativ überragt es die Sünde des Menschen und damit die Macht des Todes über ihn.

Das erneuerte Passahfest

Das Passahfest, wie es in Ex 12 eingesetzt und begründet wird, ist in verschiedenen seiner Dimensionen zum Vorbild für das Verständnis des leidenden und auferstandenen Christus geworden.

Das geschlachtete Lamm vor dem Auszug aus Ägypten findet sich in den Worten wieder: „Hie ist das recht osterlamb / davon Gott hat geboten / Das ist hoch an des creutzes stam / in heisser lieb gebroten“. Im Sterben am Kreuz vollzieht sich demnach wie im Schlachten des Lammes der Wille Gottes, aber daß es ein Geschehen aus Liebe ist, überhöht das Sterben Jesu gegenüber dem des Passahlammes.

Das Blut des Lammes ließ den „Würger“ vorbeigehen: „Des blut zeichnet unser thuer / das helt der glaub dem tod fuer / der wuerger kann uns nicht rueren“. Das Blut Christi allerdings wirkt nicht opere operato, sondern indem es im Glauben ergriffen und dem Tod vorgehalten wird.

Zum Passahfest gehört das Mahl mit ungesäuertem Brot; der rechte Osterfladen ist ebenso vom „alten Sauerteig“ gesondert; der Osterfladen steht bei Luther bildlich für das „Wort der Gnaden“, die Predigt von Christus.

Letztlich mündet der Vergleich mit dem Passahfest in die Feier des Abendmahles. Nicht nur auf der Ebene der Materie entspricht die gereichte Oblate hier dem ungesäuerten Teig dort, sondern indem Christus selbst als Kost begriffen wird, der sich dem Kommunikanten selber gibt und alleinige Seelenspeise ist, sodaß diese nach nichts anderem mehr verlangt, und indem auf den gesamten Liedtext gesehen die Identifikation von Christus, Osterfladen, Predigt von der Gnade vorhanden ist, wird deutlich, daß Luther das Passions- und Ostergeschehen eng bezogen auf das Abendmahl versteht, wie er z.B. in seiner „Vermahnung zum Sakrament des Leibes und Blutes Christi“ sagt:

„Wiltu nu Gott einen herrlichen großen Gotts dienst thun und Christus leiden recht ehren, so dencke und gehe zum Sacrament, darinn (wie du horest) sein gedechtnis ist, das ist: sein lob und ehre …“ 1

Luther nimmt also Bezug auf das Passahfest und überhöht es, indem er Schlüsselelemente des Passahfestes christologisch deutet. Er wertet das jüdische Passahfest nicht ab, sondern versteht es als das „erste Passah des Herrn“, aber er versteht Ostern als Überhöhung des Passahfestes: „Die Erinnerung daran zu erneuern ist viel notwendiger als vor Zeiten, da das Gebot erging, die Erinnerung an das erste Passah des Herrn und den Auszug aus Ägypten ständig zu erneuern“.2 „Es ist gut, zu bedenken, welcher Art die Erlösung sei, mit der uns Christus erlöset hat, nämlich nicht aus Ägyptenland noch zeitlich, sondern eine ewige Erlösung von Sünde, Tod und Hölle. Es ist auch gut anzusehen und zu bedenken, was die Bezahlung für unsere Sünde sei, nämlich daß Christus für uns nicht Geld oder Gut, sondern seinen Leib und Leben gegeben hat; wie Paulus oft rühmt, Christus habe sich selbst für unsere Sünde gegeben“.3 In der ewigen Erlösung von den existenzbedrohenden Mächten und in der Selbsthingabe des Erlösers selber aus „heißer Lieb“ besteht die Überhöhung.

 

Christus als Gnadensonne

Luther findet als Bild für das Wirken Christi im Herzen der Glaubenden die Sonne, aufgrund deren Wirken legt er die alttestamentliche Verheißung der Sonne der Gerechtigkeit auf Christus hin aus. Aufgrund seiner Strahlen weicht die Nacht der Sünde der Gerechtigkeit vor Gott, die im Evangelium verkündet und Heil und Rettung vor dem Tode in sich birgt. Christus wird ausgehend vom Bild der Sonne identifiziert mit dem Wort der Gnaden, mit dem Evangelium, mit der Gerechtigkeit, die der Mensch durch den Glauben an ihn erlangt.

Bildersprache und Erkenntnis

Daß Luther in seinem Lied zur bildhaften Darstellungsweise greift, um Christi Leiden, Sterben und Auferstehen in seiner Bedeutung für uns erfaßbar zu machen, entspricht seiner Haltung gegenüber der Erfaßbarkeit von Dingen, die menschliche Vernunft übersteigen:

„Denn daß ich mit meinem Munde und mit meiner Zunge voll beschreiben und mit meiner Vernunft begreifen soll, wie es in den Sachen zugehe, die weit über und außer meiner Vernunft, Sinn und Verstand sind, das werde ich besser lassen.“1

Es geht ihm um das Erfassen des Nutzens der Glaubensartikel; der Weg dahin kann mit oder ohne „Bild und Blumenwerk“ dargestellt sein.

„Wenn ich so sage: Christus ist ein Herr über Teufel und Hölle, und der Teufel hat keine Gewalt und Macht über ihn und über die, welche ihm angehören, das ist ohne Bild und Blumenwerk geredet. Kann ichs so erfassen und glauben, so ists gut. Wenn ichs aber mit Blumen und Bildwerk vormale und eine Fahne mache, mit der Christus die Hölle aufgestoßen hat, daß es die Kinder und das schlichte Volk, die es sonst ohne Bild nicht erfassen können, auch verstehen, erfassen und glauben mögen, so ists auch gut. Wie man es nun erfassen kann, entweder mit Hilfe äußerlicher Bilder oder ohne äußerliche Bilder, so ists recht und gut, wenn man nur kein Ketzer wird und dieser Artikel nur fest bleibt, daß unser Herr Jesus Christus zur Hölle hinuntergefahren sei, die Hölle zerbrochen, den Teufel überwunden, und die, so vom Teufel gefangen waren, erlöst habe. Müssen wir doch sonst alle Dinge, die wir nicht kennen und wissen, durch Bildreden erfassen, wenn sie gleich nicht so ganz genau zutreffen oder in Wahrheit so sind, wie es die Bilder abmalen, warum wollten wir denn nicht diesen Artikel, den wir auch nicht verstehen noch voll ergründen können, durch Bildreden erfassen, weil das Bild gut hilft, das rechte, reine Verständnis zu erhalten, nämlich daß Christus selbst persönlich die Hölle zerstört und den Teufel gebunden hat? Wie Christus das getan hat, da kommt es nicht drauf an. Aber darauf kommt es an, daß ich wisse und glaube, das Tor sei aufgestoßen, der Teufel gebunden und gefangen, die Hölle zerbrochen und zerrissen, so daß mich und alle, die an Christus glauben, weder Hölle noch Teufel gefangennehmen noch mir schaden kann.“ 2

In diesem Punkt formuliert Luther einen Erkenntnisweg: Erkenntnis geschieht im Glauben, aus Offenbarung und Wort. Erkenntnis ist dann relevant, wenn sie auf mich bezogen ist. Dem Begreifen entzogene Zusammenhänge können dennoch für die eigene Existenz von Bedeutung sein. „Darauf kommt es an, daß ich wisse und glaube …, daß mich … weder Hölle noch Teufel gefangennehmen noch mir schaden kann.“

Luther arbeitet in seinem Lied mit einer Vielfalt an Bildern, die nicht miteinander kongruent gemacht worden sind, so daß jedes seine eigene Aussage behält. Dennoch läßt sich eine Aussage durch die vielen formulieren: Indem Christus sich dem Menschen vor aller Zeit und in dessen jeweiligen Gegenwart zuwendet, erlöst er ihn aus der Gefangenschaft des Todes, indem er ihn aus seiner Sündenverfallenheit befreit, verleiht er ihm Gerechtigkeit und läßt ihm das Leben zukommen, das aus dem Sieg Christi über den Tod entspringt. Insofern kommt in diesem Lied die von Luther formulierte Glaubenserkenntnis zur Sprache: „Darauf kommt es an, daß ich wisse und glaube …, daß mich … weder Hölle noch Teufel gefangennehmen noch mir schaden kann.“

2.2.4.2 Theologisches Konzept
Das extra nos und pro nobis des Geschehens.

Das Lied „Christ lag in Todes Banden“ stellt den Zusammenhang zwischen dem Heilsgeschehen im Sieg Christi über den Tod und der Heilszueignung an uns in seiner gleichzeitigen Getrenntheit und Verwobenheit mit unserer Gegenwart dar.

Die Darstellung in den Bildern vom Ringen von Tod und Leben und von dem Reich des Todes macht deutlich, daß hier Mächte außerhalb unserer Dimension von Zeit und Raum wirksam sind. Ihr Machtkampf aber gilt uns, denn in ihm entscheidet sich, ob der Tod oder das Leben in Christus die Herrschaft über uns haben. Christus hat nicht um seiner selbst willen, sondern pro nobis gehandelt: an „unserer“ Statt gegeben, er hat „uns“ bracht das Leben. „Unsere“ Sünd war Ursache für die Macht des Todes unter den Menschen, die das Handeln Christi auf den Plan gerufen hat.

Das Geschehen um Christus und seinen Kampf mit dem Tod wird aber solange als außerhalb menschlicher Gegenwart dargestellt, bis er, das Osterlamm, als gegenwärtig erkennbar wird: „Hie ist das recht osterlamb“. Erst in diese Gegenwart tritt der Mensch handelnd durch den Glauben, der das Blut Christi für sich in Anspruch nimmt, nun ist der Mensch, repräsentiert durch seinen Glauben, als unbezwingbarer Antagonist des Todes aktiv in der Szene vorhanden.

Indem Luther das Geschehen der Überwindung der Macht des Todes außerhalb unserer Zeit und unserer Existenz ansiedelt, betont er die Exklusivität des Leidens Christi, d.h. die Tatsache, daß diese Rettung ohne unser Zutun geschehen ist. Es ist Christi Gerechtigkeit, eine iustitia aliena, die uns im Glauben zugeeignet wird, wie auch schon die Verlorenheit an den Tod außerhalb unserer Zeit und unseres Handelns eingetreten ist:

„Diese fremde Gerechtigkeit also, ohne unser Tätigwerden, allein durch die Gnade uns eingegossen – indem uns nämlich der himmlische Vater innerlich zu Christus zieht – wird der ursprünglichen Sünde, der Erbsünde, entgegengestellt. Diese ist uns ebenso als eine fremde und ohne unser Tätigwerden allein durch Geburt angeerbt und zugekommen.“1

Im Sermon von der zweifachen Gerechtigkeit geht Luther noch von der „eigenen Gerechtigkeit“ aus, durch die prozeßhaft die Sünde Adams ausgetrieben wird und der Glaube sich mehrt. Auch spricht er von der conformatio, die aus der Nachfolge Christi erwächst. Es ist also deutlich, daß die Rede von der zweifachen Gerechtigkeit der scholastischen Gnadenlehre mit ihrer Rede von der gratia infusa als Ermöglichungsgrund für eigenes verdienstliches Handeln noch recht nahe ist.

Davon aber hat sich Luther in seinem Lied entfernt, wenn er hier nicht mehr von einer allmählichen Einwohnung der Gnade spricht, sondern allein durch das Handeln Christi sagen kann: „der Sünden Nacht ist vergangen“.

Der Glaube als das Ergreifen der Passion

„Des Blut zeichnet unsre Tür, das hält der Glaub dem Tode für. Der Würger kann uns nicht rühren“

Wie in der Theologie Luthers hat der Glaube auch in diesem Lied eine zentrale Bedeutung. Er hat die Schlüsselrolle inne, denn er führt den glaubenden Menschen zur Rettung vor dem Tod. Indem der Glaube das Blut Christi, also sein Sterben für uns, dem Tod entgegenhält, vollzieht sich die Peripetie im Schicksal des Menschen, der Tod Christi wirkt sich auf ihn aus. Der Sieg des Lebens über den Tod, den Christus errungen hat, kommt dem Menschen zugute, denn der Tod hat seine Gewalt über den Sünder verloren. Er muß seinen Anspruch auf den Menschen, den er aufgrund von dessen Sünde hatte, preisgeben. Dies erkennt der hier wie auch der Glaube personifiziert dargestellte Tod in dem Augenblick, in dem er das Blut Christi zwischen sich und den Menschen gestellt sieht.

Das Ergreifen der Passion durch den Glauben ist dabei nicht als vom Menschen initiiertes Handeln zu verstehen, sondern als Geschehen am Menschen. Der Glaube ist kein „Akt, zu dem sich der Mensch aufschwingt“, sondern „Werk Gottes selbst im Menschen“1. Glauben als „responsorische Entsprechung und Bejahung“ ist „opus dei“, zu dem der Mensch nicht aus sich heraus fähig ist, sondern „der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, daß er (nicht: Glauben ‚kann‘, sondern) diejenige Kreatur ist, mit der Gott so und dahingehend sein will, daß er ihn zum Glauben öffnet. Er tut es so, daß er dieser Kreatur das Wort zuspricht, das sich die Antwort des Glaubens schafft.“2 Diese Antwort des Glaubens beschreibt Luther in seinen Thesen „De fide“, in denen er die fides acquisita seu Sophistarum von der fides vera unterscheidet:

„Sed vera fides dicit: Credo quidem filium deum passum et resuscitatum. Sed hoc totum pro me, pro peccatis meis, de quo certus sum. … Fides vera extensis brachiis amplectitur laeta filium dei pro sese traditum et dicit: Dilectus meus mihi et ego illi.“ 3

Der wahre Glaube ergreift die Passion, indem er mit Gewißheit darauf schaut, daß der Gottessohn für die Sünden des Glaubenden gelitten hat. Er umfaßt Christus freudig wie eine Braut ihren Geliebten (Hld 2,16). Er weiß um das Leiden Christi für den Menschen und verläßt sich darauf, daß er nun ihm zugehört. Subjekt des Ergreifens ist der Glaube. Indem er als in erster Ursache von Gott gewirkt zu verstehen ist, ist in diesem Akt der Zueignung nicht der Mensch der sich das Heil aneignender, sondern Gott als der im Glauben im Menschen Handelnde derjenige, der ihm dieses zueignet.

„Mit einem Wort: Durch den Glauben an Christus wird die Gerechtigkeit Christi unsere Gerechtigkeit. Alles, was ihm gehört, ja er selbst, wird unser Eigentum. Aus diesem Grunde proklamiert der Apostel in Röm 1,17 diese Gerechtigkeit als Gerechtigkeit Gottes: Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus Glauben.‘ Ein solcher Glaube wird in Röm 3, 28 sogar als ‚Gerechtigkeit Gottes‘ bezeichnet: Wir halten dafür, daß der Mensch durch den Glauben gerecht wird. Es ist das eine grenzenlose und alle Sünde augenblicklich verschlingende Gerechtigkeit, weil an Christus unmöglich Sünde haften kann. Wer nun aber an Christus glaubt, der haftet an Christus, ist eins mit Christus und hat dieselbe Gerechtigkeit wie er. So ist es unmöglich, daß noch Sünde in ihm bleibt.“4

Indem die Sünde des Menschen vermittels des Glaubens nun durch die Gerechtigkeit Gottes ersetzt ist, gibt es nichts mehr an ihm, das dem Tod den Zugriff auf ihn ermöglichen würde.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, inwiefern der Begriff des Glaubens für die reformatorische Perspektive auf den Einzelnen vor Gott von Bedeutung ist.

Das Heilswerk Gottes vollzieht sich außerhalb des Menschen, vor seiner Zeit und ohne seine Mitwirkung. Im Glauben aber wird die so erworbene iustitia aliena dem einzelnen zugeeignet.

Der Glaubensbegriff verbindet das kollektive und das individuelle, das dem Inhalt der christlichen Religion im reformatorischen Verständnis Eigen ist.

Diese Verbindung wird im Lied offenbar, indem der Kampf zwischen Tod und Leben in einer mythischen Vorzeitigkeit und die Zueignung im Glauben und ihre sinnliche Erfahrbarkeit im Mahl in direkter Zuspitzung auf das „wir“ der feiernden Gemeinde und ihre Gegenwart formuliert ist.

Der Glaube taucht an zwei Stellen des Liedes als handelndes Subjekt auf, ausgerichtet in zwei verschiedene Richtungen: auf den alten und auf den neuen Herrn. Zuerst wie oben gesehen auf den Tod als Begrenzung von dessen Macht und in der letzten Strophe ausgerichtet auf den Stifter des Glaubens, Christus: „Der Glaub will keins andern leben“. Der Glaube ist nicht nur Vollzug des Heilswirkens Gottes am Menschen, sondern er bedeutet auch umgekehrt eine Ausrichtung des Glaubenden auf Christus. Sein Wollen ist nunmehr ganz auf den neuen Herrn gerichtet, der ihn aus der Herrschaft des Todes befreit hat. Diese Bewegung entspricht dem Greifen nach dem Sohn Gottes. So wird deutlich, daß das Greifen nicht allein eine Bewegung der Abwehr der Macht des Todes ist, sondern gleichzeitig die Bewegung auf den Herrn zu, der nun die Herrschaft über den Glaubenden errungen hat. Der Glaube „will“ die Übereignung an den neuen Herrn. Der Mensch in seiner ganzen Existenz will im Glauben diesem angehören; man kann darin ein Abbild der Willenseinheit des Sohnes mit dem Vater sehen. In dem Wollen ist sichtbar, daß es sich bei der Herrschaft Christi um eine – von Christus initiierte – beiderseitige Ausrichtung von Christus und Glaubendem aufeinander hin handelt. Daß der Glaubende Christus als seinen Retter vor dem Tod erkannt hat, ist durch sein „Wollen“ implizit deutlich geworden: Glauben ist nicht nur Ergreifen, sondern auch Erkennen.