Die Passion Jesu im Kirchenlied

Text
From the series: Mainzer Hymnologische Studien #28
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Rettung statt Todesverfallenheit

Aufgrund dieses Zugangs zum Leiden Christi kann sein Heilswerk am Betrachter Wirkung zeitigen: Wenn der Mensch in seinem Gewissen gelitten hat aufgrund der gewonnenen Erkenntnis über sich selber, kann und soll er in der Erkenntnis der Bedeutung von Christi Leiden „für uns“ sich durch Christus con der Sünde befreien lassen. Luther fordert ihn auf: „Dan wirffesttu deyn sunde von dir auff Christum, wan du festiglich gleubst, das seyne wunden und leyden seyn deine sunde“. Damit ist die Rettung geschehen, denn du „sihest itzt keyne wunden, keyne schmertzen an yhm, das ist keyner sunde anzeygung“. Christus hat sie erwürgt. 1

Ebenso formuliert er in seinem ersten Sermom über die Sünden. Im Blicken auf Christus erkennen wir: Sie sind keine mehr, sondern sind es gewesen. Denn wir finden sie nicht mehr in Christus, in dem doch alles ist.2

Daß der Betrachter sich als nicht Unbeteiligter gegenüber dem Geschehen am Kreuz erkannt hat, hat ihm großen Gewinn gebracht: Mit der Sünde gehört auch seine Todesverfallenheit der Vergangenheit an. Mit dieser Gewißheit muß auch Judas nicht mehr ewig „Lucifers Geselle“ sein.

2.4.3.2 Die Strophenreihe von Bonnus
Kommentar

Bonnus stellt konzentriert die wesentlichen Stationen seines Heilskonzeptes dar.

Die Menschen sind dem Tode verfallen aufgrund der Erbsünde, in die sie durch Empfängnis und Geburt hineingeboren sind. Wegen der Übermacht der Sünde im menschlichen Handeln kann allein der Tod des Gottessohnes den Menschen Rettung aus dieser Lage bringen.

Dieser Tod ist notwendig: „es konnt nicht anders sein“. Der einzigmögliche Heilsweg nimmt seinen Lauf: Christus kommt in die Welt, nimmt „unser arm Gestalt“ an und stirbt willentlich für unsere Sünde. Dieses Geschehen hat seinen Grund in Gottes Gnade und Gunst gegenüber der Menschheit. Sie erweist er im Sohn, der sich dahingibt. Um unserer Seligkeit willen stirbt er den Kreuzestod. In diesem Ereignis liegt unser Trost gegen Sünde, Tod und Hölle. Die Rettung ist geschehen, ein abgeschlossenes Ereignis.

Die rechte Antwort von der Seite des Menschen ist Lob, Dank, die Bitte um Bewahrung und darum, „bei seinem heilgen Wort“ zu bleiben. Das Wort, zentraler Begriff der Reformation, steht in dieser Bitte, verstanden als Parallelismus zur vorangehenden Zeile, nicht nur als Träger, sondern als Verkörperung der Gnade und Gunst des dreieinigen Gottes, von dem die Bewahrung ausgeht.

Diese Antwort mündet in einen Lobgesang „Ehre sei dir Christe“ und führt den Singenden so in eine Haltung gegenüber Christus, in der der Mensch sich auf ihn ausrichtet, sich dessen bewußt ist, sein Heil allein von ihm durch dessen Tod empfangen zu haben und in Antwort darauf sich seinem Machtbereich zu unterstellen, in dem er mit dem Vater herrscht, und ihm darin die Ehre zu geben.

In der Dichtung kommen verschiedene Kontexte zusammen:

Sie nimmt ihren Ausgang mit dem affektiven Ausruf „O wir armen Sünder“ bei der Selbstbeweinung, der Beweinung der eigenen Sünden. Darin folgt der Gedankengang Luther, wie er in seinen beiden oben dargestellten sermones ausführt und kurz auch im Sermon andeutet.

Sein Heilskonzept setzt ein bei der Sünde Adams, die durch Empfängnis und Geburt jedem Glied der Gattung Mensch weitergegeben wird und durch die alle Menschen dem Herrschaftsbereich des Todes unterworfen sind. Aufgrund des „vitium originis“ (Tertullian) bedarf die menschliche Natur der Erlösung, um dem Machtbereich von Sünde, Tod und Hölle entrissen zu werden1. Der Blick auf diesen Machtbereich bildet den Rahmen des im Lied ausgebreiteten Heilskonzeptes: Str. 1 begründet das Verhängnis, Str. 5 wirft den Blick zurück auf die Mächte, aus deren Fängen der Mensch nun gerettet ist. Das Lied entwirft so in seinen ersten Strophen ein dualistisches Konzept der widerstreitenden Mächte, die um die Herrschaft über die menschliche Natur ringen.

Die Notwendigkeit des Todes des Gottessohnes, wie sie durch das „es konnt nicht anders sein“ ausgedrückt ist, erinnert an das Konzept Anselms, in dem in gleicher Weise die Notwendigkeit des Sterbens des Gottmenschen Christus konstitutiv ist. Aber auch in ntl Aussagen ist die Rede von der Unausweichlichkeit dieses Sterbens: „Mußte nicht Christus dies erleiden …?“ (Lk 24, 26). Diese Notwendigkeit wird auch in Str. 3 formuliert: „Wäre nicht gekommen …, und hätt angenommen …, so hätten wir müssen …“. Hier wird eine unabdingbare Folge dargestellt, die in Korrespondenz mit dem „es konnt nicht anders sein“ steht.

Ebenso kongruent mit dem Anselmschen Konzept ist die explizite Benennung der Freiwilligkeit des Sterbens des Gottessohnes, wie sie in Str. 3 im „williglich“ ausgedrückt ist: Der Sünde wäre nicht genug getan, wenn nicht der Sohn trotz des Umstandes seiner Sündlosigkeit und über diesen hinausgehend den Tod auf sich genommen hätte.

Andererseits scheint Bonnus das Konzept Anselms nicht in allen Punkten in sein Lied aufzunehmen: Die verletzte Ehre Gottes, die nach Genugtuung verlangt, wird nicht explitzit formuliert, auch nicht, daß aus der Sicht Gottes Gerechtigkeit wiederhergestellt werden müsse.

„Williglich“ starb Christus für unsere Sünde, d.h. er tat es als Teil seines Heilshandelns an uns, im freiwilligen Gehorsam gegenüber dem Vater, der darin den Menschen „Gnad und Gunst“ erzeigen wollte, um damit das Ziel der Zueignung der Seligkeit an den Menschen zu erreichen (vgl. Str.4). Mit der Verwendung des Begriffes „williglich“ hebt Bonnus hervor, daß es sich bei Christi Tod am Kreuz nicht um den willkürlichen Strafakt eines zornigen Gottes handelt, sondern um ein Handeln Christi, mit dem er ein Ziel verfolgt, das seinem Willen entspricht: Die Rettung des Menschengeschlechtes.

Die Verwendung der Wortkonstruktion „gekommen in die Welt“ erinnert an johanneische Präexistenzchristologie. In dieser Begrifflichkeit ist darum festgehalten, daß es sich bei Christi Handeln am Kreuz um das Handeln Gottes gemäß seines vor der Zeit gefaßten Beschlusses zur Rettung der Menschen aus ihrer Sündennot handelt.

Er hat „angenommen unser arm Gestalt“. Das Verständnis der Entäußerung nach Phil 2: „und nahm Knechtsgestalt an“, auf das Luther oft rekurriert, spiegelt sich in dieser Formulierung wider. Er verbindet damit sein soteriologisches Konzept, das auf einem vertieften Verständnis der Menschheit Christi beruht: Der Verzicht auf das Einsetzen seiner göttlichen Eigenschaften gilt besonders in der Situation des Sterbens, weil er auch hier die Verlassenheit des Menschen aufgrund seiner Sünde erleben und durchleben wollte, um den Menschen auch aus dieser letzten Situation befreien zu können.

Darüberhinaus sind im Lied Anlehnungen an Luthers Sprache hörbar: Das Wortpaar „Gnad und Gunst“, in dem der Beweggrund für Gottes Heilshandeln in Christus benannt ist, wird auch von Luther verwendet. Bezeichnend ist diese Formulierung in einem seiner ersten Lieder: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Gott erweist darin den Menschen seinen Willen zur Versöhnung: „Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben“. Angesichts der weitreichenden und intensiven Verbreitung der ersten Lieder Luthers kann man eine starke prägende Wirkung dieser Lieder annehmen, so daß der Einsatz dieses Wortpaares in Anlehnung an diesen Initiator reformatorischer Lieddichtung geschieht.

Ein weiterführender Aspekt verbirgt sich unter der Verwendung von „Gnad und Gunst“: Indem der Mensch Gott als denjenigen, der Sünden vergibt, anerkennt, und darin sich selber als einen, der in der Position des Sünders vor Gott steht, unterstellt er sich dessen Machtbereich. Der Empfang von Gnade und Gunst ist verbunden mit der Unterwerfung unter den, der diese erweist.2 Gnade und Gunst als Ursache zu Gottes vergebendem Handeln am Menschen findet seine Parallele im weltlichen Bereich: Gnade und Gunst sind die Attribute, die man herrschenden Fürsten beilegt, von denen man eine wohlwollende Haltung einem selber gegenüber erbittet.3

Der eben angeführte Rahmen der altkirchlichen Vorstellung von den Mächten, die um den Menschen ringen, ist an dieser Stelle mit dem Blick auf die Sündenvergebung also wiederaufgenommen: Wer die Sünde vergibt, dessen Herrschaft unterstellt sich der Mensch.

Zielsetzung des göttlichen Handelns ist die Seligkeit des Menschen (Str.4.). Damit ist der schon in der überlieferten deutschen Strophe „Ehre sei dir Christe“ verwendete Begriff aufgenommen, der auch in der reformatorischen Theologie von Bedeutung ist: Nicht mehr der Blick Anselms auf die verletzte Ehre Gottes ist Beweggrund zum Handeln Gottes in Christus, sondern der Mensch selber und seine Verfassung vor Gott steht im Mittelpunkt.

In der Seligkeit begründet sich der Trost gegen die widergöttlichen Mächte „Sünd und Tod und … der Höllen Glut“. Die Singenden rufen sich selbst gegenseitig zu diesem Trost auf, auf den sie sich in den bisher gesungenen Strophen gerichtet haben. Durch das bisher bedachte Geschehen sind sie aus der „Fährlichkeit“ dieses Machtbereiches gerettet. Daß das Geschehen am Kreuz und das Betrachten desselben seinen „Nutz“ getan hat und nun der Vergangenheit angehört, wie es von Luther im Sermon betont wird, kommt in dieser Abgrenzung gegen die Macht von Sünde und Tod zur Sprache

Besonders auch die am Ende stehende Bitte zu „bleiben bei seinem heilgen Wort“ entspricht der Schwerpunktsetzung Luthers in seiner Theologie. Denn das Wort Gottes ist es, das dem Menschen Heilsgewißheit gewährt.

Die Strophenreihe mündet in eine kollektive Selbstaufforderung zu Lob und Dank. Damit entspricht der Verlauf der Betrachtung dem in Luthers Sermon, in dem der Dank für das Leiden Christi aus der in der Betrachtung erweckten Selbst- und Gotteserkenntnis hervorgeht.

 

Nun wendet sich der Singende Christus zu, unterstellt sich ihm, indem er ihm seine Ehre zuspricht, die ihm aufgrund seines Leidens und Sterbens und ebenso in seiner Herrscherposition, die er in gleicher Weise wie der Vater einnimmt, zukommt.

Das „simul iustus ac peccator“ klingt in der abschließenden Bitte um die Zueignung der Seligkeit an: „Hilf uns armen Sündern“. Die Rettung ist geschehen, dennoch verharrt der Mensch durch sein Menschsein noch vorläufig im Bereich der Sünde und des Todes, der aber unumkehrbar überwunden ist und dem der Mensch in seiner Ausrichtung auf Christus entzogen ist.

Zusammenfassung

In seinem Lied ist sichtbar, daß Bonnus im Geiste der Reformation in der Nachfolge Martin Luthers dichtet. Er führt in seiner Dichtung den Singenden durch eine konzentrierte, prägnante Darstellung des reformatorischen Konzeptes von dem Heilshandeln Gottes am Menschen im Werk Christi. Er stellt dar, wie von der ersten Erkenntnis „O wir armen Sünder“ sich die Erkenntnis Bahn bricht, daß das eigene Sündersein nicht – wie in der Judasstrophe – unweigerlich den Tod bzw. ewige Höllenstrafe nach sich zieht, sondern durch die Wendung des eigenen Blickes auf Christus der Weg von der Verlorenheit in die Rettung durch das Leiden Christi führt.

Damit nimmt er die Kritik Luthers an der Judasstrophe in seine Strophenreihe auf, beginnend mit dem verfremdeten Zitat der Judasstrophe, und führt in seinem Lied an einer Betrachtungsweise entlang, die der Luthers in seinem Sermon entspricht und auch in den beiden sermones de passione anklingen läßt.

Wie Luther es auch tut, nimmt er Bilder aus der Tradition der Kirche auf, die nicht systematisch miteinander verknüpft sind, aber dennoch in die eine Richtung weisen, auf die er hinausführen will.

Trotz des Weges von der Selbstbeweinung zur Befreiung, den er gemäß der Ausführungen Luthers im Sermon verfolgt, unterscheidet dieser sich in Einzelheiten von dem Weg Luthers.

Anders als bei Luther, bei dem in dem Moment des Blickens auf den Leidenden das Erschrecken über sich selbst den Menschen ergreift und ihm die Beziehung offenbart wird, in die er durch das Handeln Christi gerufen ist, findet im Lied Bonnus’ eine Beziehungsstiftung zwischen Mensch und Christus erst spät statt. Eine Begegnung mit dem leidenden Christus, aus der die Selbsterkenntnis herrührt, geschieht nicht, denn bei Bonnus liegt das Geschehen in der Vergangenheit.

Bei Luther vereinen sich in dem Betrachten Christi am Kreuz aufgrund der Gegenwärtigkeit der Sünde und des sich am gegenwärtigen Menschen vollziehenden Heilswerkes Christi Vergangenheit und Gegenwart1, dagegen führt Bonnus in seinem Lied den Singenden an dem Kreuzesgeschehen als einem in der Vergangenheit abgeschlossenen Heilskonzept entlang. Die Begegnung des Singenden mit Christus findet erst in der letzten Strophe statt: „Ehre sei dir, Christe“. Eine Begegnung mit dem Leidenden ist nicht konstitutiv für die Heilszueignung. Sondern der Kontakt Mensch-Christus wird erst im Loben geknüpft. Der Mensch bittet Christus aufgrund seines in der Vergangenheit geschehen Leidens und seiner Herrschereigenschaften um die Zueignung der im Kreuz erworbenen Seligkeit: „Hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit“.

Wenngleich diese Unterschiede in der Frage nach dem Ort und dem Zeitpunkt der Heilszueignung nicht unwesentlich sind, kann man aber mit Blick auf den Weg, den der Singende im Laufe des Liedes geführt wird, sagen, daß hier das Grundanliegen Luthers von Bonnus voll und ganz aufgenommen worden ist: Aus der „incurvatio in se ipsum“ aufgrund der Sünde, aus der Heillosigkeit seines Daseins, das unter der Herrschaft des Todes steht und darum in den Machtbereich von Sünde, Tod und Hölle unausweichlich verfallen ist, aus dieser Verlorenheit wird der Singende hin zu Lob, Dank und damit in ein neues Herrschaftsverhältnis geführt, das aber für den Menschen nicht mehr Tod, sondern Seligkeit bedeutet. Er kann sich dankbar zu Christus aufrichten, der im Himmel zur Rechten des Vaters herrscht, also in der genauen Gegenwelt zur Hölle, und der seine Rettung vor den Verderbensmächten vollbracht hat: „Denn wir sind gerettet aus aller Fährlichkeit“ durch Christus. Er ist „gelobt in Ewigkeit“, denn er hat diesen Sieg in ewiger Gültigkeit für die Menschheit errungen.

2.4.4 Ergebnis
Die Aufrichtung des Sünders im Singen

Das Lied von Hermann Bonnus hat sich als Darstellung eines heilsgeschichtlichen Entwurfes erwiesen. Der Gedankengang, den der Singende im Verlauf des Singens mit den Strophen mitgeht, stellt ihm vor Augen, in welcher Weise Christus in seinem Handeln den Menschen aus seiner Incurvatio in se ipsum befreit.

Er setzt ein mit dem Beklagen der eigenen Sünde, die ihn zum „armen“ Sünder macht, denn vor seinem Leben steht durch diese Verfaßtheit das negative Vorzeichen des Todes, dem er unterworfen ist und dem er nicht entkommen kann, da die Ursache für seine Todesverfallenheit außerhalb seines Handlungsspielraumes liegt. Durch sein Menschsein ist ihm sein Weg vorgegeben: die vor der Zeit geschehene Sünde hat ihn dem Machtbereich des Todes verschrieben. Dem eigenen Handeln ist nicht das Potential gegeben, dieser Gefangenschaft zu entfliehen.

Doch der Blick wird auf das Handeln eines anderen gelenkt: des Gottessohnes, der unter Einsatz seines eigenen Lebens den Menschen in den Bereich von Gottes Gnadenhandeln geführt hat und die Singenden so der Macht des Todes entzogen und der göttlichen Macht unterstellt hat, die Seligkeit und ewiges Leben verheißt.

Wenn nun im Singen dieser Erkenntnisweg abgeschritten wird, kann der Singende Schritt für Schritt die Rettung innerlich nachvollziehen und darum auch emotional erfassen. Loben und Danken, Ehren und Bitten sind nun Handlungen, die er im Singen der Strophen selber mitvollzieht. Im Singen vollzieht sich an ihm die Aufrichtung aus der Haltung des zum Gottesbezug nicht fähigen Sünders hin zur Haltung des befreiten, aufgerichteten, sich auf Gott ausrichtenden Menschen. Das Singen berührt so seine Haltung Gott gegenüber und zugleich seine Selbstwahrnehmung. Es weckt in ihm Lob und Dank, durch die er sich nicht nur auf Gott ausrichtet, sondern auch im Blick auf sich selbst eine neue Haltung gewinnt: die des aufgerichteten Menschen, der aus dem inneren Verzagen zu einem Leben in Hoffnung erlöst ist. Der Mensch kann vor Christus stehen in der aufrechten Haltung dessen, der aus der Gewißheit lebt, vor ihm Bestand zu haben, der ihn anblickt und ihm die Ehre gibt.

Der Einfluß der Tradition auf die Dichtung

Neben der Grundbewegung der Aufrichtung sind auch andere Traditionen und Denkweisen in die Dichtung eingegangen. Sie setzen z.T. Schwerpunkte, die von dieser Bewegung ablenken und das Heilskonzept in ein anderes Licht stellen.

Am Beginn des Liedes und damit an herausgehobener und bestimmender Stelle steht die Erbsünde: der Mensch ist in „Missetat … empfangen und geboren“. Aufgrund der Erbsünde, d.h. in Folge der Sünde Adams ist die Natur des Menschen verderbt, so daß er „unterworfen ist dem ewigen Tod“ (Str.1), ihn erwartet eine Zukunft in „der Höllen Glut“ (Str.5).

Die Erbsünde wird hier als Ursache und Ausgangspunkt allem weiteren Geschehen vorangestellt.

Sie betont den Verhängnischarakter der Situation des einzelnen Menschen, in der er, ohne als Subjekt vorzukommen, als Teil des Kollektivs der Menschheit dem Sündentod ausgeliefert ist.

Ein weiteres Element des im Lied ausgeführten Versöhnungsmodelles ist die Rede von der Notwendigkeit. Notwendig ist der Tod des Gottmenschen: „es konnt nicht anders sein, denn Gotts Sohn mußt leiden des Todes bittre Pein“. Die Notwendigkeit spricht auch indirekt aus der unbedingt geltenden Kausalkette „So nicht wär gekommen … und hätt angenommen …, so hätten wir müssen …“. Die Begründung für die unbedingte Folge ist die Sünde: sie „war zu stark“, so daß es keinen anderen Weg gab.

Unübersehbar ist in diesen ersten Strophen die Anlehnung an das Versöhnungsmodell des Anselm von Canterbury in „Cur deus homo“. Es setzt an bei einer Forderung Gottes an die Menschen, der sie aber nicht nachkommen können. Dieses Schuldigbleiben des Geforderten aufgrund der Sünde macht es notwendig, daß die Schuld durch jemand anderen beglichen wird.

Anselm stellt ein Rechtssystem dar. Die Gottheit Gottes ist ihm zufolge gebunden an Ehre und Gerechtigkeit und an das System der Forderung an den Menschen. Erfüllt der Mensch die Forderungen nicht, muß es jemand anders tun. Von diesem Anliegen her und der Alternative „satisfactio aut poena“ ist der Tod Christi unausweichlich. Mit dem Ausgangspunkt der Gottheit Gottes muß der Tod Christi der Integrität des Denksystems dienen, Anselm muß die „Notwendigkeit der Heilstat Christi konsequent mit dem Gottesbegriff in Einklang setzen“1.

Bonnus scheint in seinem Lied in den ersten Strophen eben dieses System darzustellen.

Auch Luthers Denken ist von der scholastischen Tradition und dem Anselmschen Versöhnungsmodell geprägt. Auch Luther bedient sich an anderen Stellen des Begriffes der Satisfactio. Allerdings gewichtet er ihn nicht so hoch: Für ihn besteht nicht die Alternative „satisfactio aut poena“2. Er wertet ihn aber auch positiv: Kreuz und Auferstehung sind „satisfactio sufficientissima“3. Dennoch genügt ihm der Begriff „Genugtuung“ nicht: er hält ihn „für das Heilswerk Christi für unzulänglich, sofern diese eine nachhaltige Erlösung von Tod, Sünde und Hölle bedeute.“4 Zudem ist mit dem Begriff der Genugtuung wesentliches nicht gesagt, denn es ist so „zu schwach und zu wenig von der Gnade Christi geredt, und das Leiden Christi nicht genug geehret, welchem man mus höher ehre geben, das er nicht allein fur die sünde gnug gethan, sondern uns auch erlöset von des Tods, Teuffels und der Hellen gewalt und ein ewig Reich der Gnaden und teglicher vergebung auch der ubrigen sunde, so in uns ist, bestetigt“5.

Während bei Bonnus wie bei Anselm die Forderung Gottes im Hintergrund zu stehen scheint, die Menschen aufgrund ihrer Sünde nicht erfüllen können, richtet Luther den Fokus auf einen anderen Ansatzpunkt.

Luther geht es in seiner Theologie um das Gottesverhältnis des Subjektes. Die Sünde des Menschen kann er zwar auch an manchen Stellen als Erbsünde bezeichnen, doch ist bei ihm der Sündenbegriff nicht in erster Linie durch den Verhängnischarakter der Sünde Adams bestimmt, der bei Bonnus, erkennbar durch seinen Liedanfang, eine hohe Bedeutung hat. Sünde bezeichnet bei Luther die „primäre Beziehung des Menschen zu sich selbst“6, aus der Gott ihn durch das Angebot der Vergebung zurück in das Verhältnis der Gerechtigkeit setzen will. Er soll befreit werden aus der „incurvatio in se ipsum“ zu einem Menschen, der vor Gott und in Beziehung zu Gott leben kann.

Die Einbindung des Begriffes der satisfactio ist bei Luther durch sein Interesse an der Heilsgewißheit begründet; er zielt darauf, daß „die angefochtene fides … sich auf die alleinheilsdisponierende Kraft der satisfactio Christi“ ausrichten kann7. Nicht die Erfüllung der Forderung Gottes ist das Anliegen, sondern objektive Gewißheit, das Interesse an „der trostspendenden Faktizität, dem Daß der geschehenen stellvertretenden Satisfaktion Christi“.8

Wo bei Anselm der Tod Christi im Dienste des Gottesbegriffes zum Gedanken der Notwendigkeit führt, denkt sie Luther als Bedingung für das rechte Gottesverhältnis im Glauben mit: er will „die gegenüber jeder Form menschlicher activitas unersetzliche Funktion von Christi Stellvertretung für die fides hominum“ herausstellen.9

So wird deutlich, daß für Luther die Passion Christi eine andere Bedeutung hat als für Anselm: Ihm geht es nicht um die Versöhnung Gottes um Gottes willen, sondern um die Versöhnung des Menschen um des Menschen willen.

Im Lied von Hermann Bonnus erweist sich ein Umstand, der der gesamten Tradition der Deutung des Todes Jesu anhaftet: Die Rede von dem Sterben Christi bedient sich immer vorgegebener Sprachkategorien. Die Bezüge des Denkens Luthers und Bonnus’ reichen von der Theologie der Alten Kirche bis hin zu der von Anselm geprägten Scholastik und nehmen deren Gedanken und Bilder auf. Luther aber prägt um, entsprechend der Intention, die er verfolgt: Begrifflichkeiten werden der Ausrichtung auf die Erneuerung des Gottesverhältnisses des Menschen durch das Sterben Christi eingefügt und entsprechend umgeprägt.

 

Dies ist ein Vorgehen, das gewährleistet, daß in dem Bedürfnis, den Tod Christi je in der eigenen Zeit neu zu begreifen, das Denken sich dennoch nicht von seinen Wurzeln löst, sondern mit dem Überkommenen weiterdenkt und es in die jeweilige Gegenwart transformiert.

Es zeigt sich aber auch die Schwierigkeit, die diesem Verfahren innewohnt: Im Lied von Bonnus ist nicht unbedingt sofort seine neue, reformatorische Ausrichtung erkennbar, denn die Ähnlichkeit in der Darstellung zu dem Konzept von Anselm ist sehr groß. Erst im Verlauf des Liedes werden Grundzüge der lutherischen Theologie erkennbar.