Die Passion Jesu im Kirchenlied

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From the series: Mainzer Hymnologische Studien #28
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Vorgeschichte und Werden des Liedes

Das vorliegende Lied entstammt einer vielfältigen Überlieferungsgeschichte: die Quellen bieten die Einzelstrophe „Ehre sei dir Christe“, die lat Fassung „Laus tibi christe“, eine Einzelstrophe „O du armer Judas“ auf dieselbe Melodie, dazu verschiedene Strophenreihen, in denen diese vorkommen.1

Aus dem 14. und 15. Jh liegen Quellen so zeitnaher Entstehung vor, daß es nicht einfach íst, die literarischen Abhängigkeiten bzw. die mündlichen oder nicht mehr vorliegenden schriftlichen Traditionsstränge zu eruieren. Die Literatur bietet verschiedene Theorien an, die letztlich nicht lückenlos beweisbar sind.

Eindeutig ist sein liturgischer Ort: Die Strophe „Ehre sei dir Christe“ wurde in der Passionszeit als Strophe der Gemeinde am Schluß der Trauermetten am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag, alternierend zu den Strophen des Hymnus Rex christe factor omnium gesungen. Zu dieser Strophe entstanden später längere Strophenreihen, die sich ihr inhaltlich anschließen und Dank für das Leiden Christi formulieren und Momente des Leidens bedenken.

Der früheste Beleg für „Ehre sei dir Christe“ findet sich bei dem Mönch von Salzburg, was aber kein Hinweis auf seine Verfasserschaft sein muß.

Aufgrund dieser und anderer Quellen im 14. Jh. kann man auf die Entstehung der Leise laus tibi christe / Ehre sei dir, Christe spätestens in der Mitte des 14. Jh., evtl. in Salzburg2 schließen.

Vielfältige Versuche, zu erkennen, ob die deutsche oder die lateinische Fassung die ursprüngliche ist, haben keine eindeutigen und unwiderlegbaren Ergebnisse erbracht.

Nach Lipphardt legt ein Vergleich der lateinischen und der deutschen Fassung nahe, daß die deutsche Fassung die ältere ist, die vermutl. von böhmischen Klerikern latinisiert wurde. Argumente für den deutschen Ursprung sind das Versmaß deutscher Lamentationen, die Tatsache, daß die Musik gegen den lateinischen Wortrhythmus und Reim steht. Für eine Rückübersetzung sprechen auch Verordnungen der Diözese Prag, die im Nachklang der hussititschen Bewegung volkssprachlichen Gesang verboten. Andere vermuten aufgrund der rhythmischen Komponenten einen böhmischer Einfluß oder eine slawische Melodiebildung.

Ich meine, daß die reiche Tradition volkssprachlicher Gemeindegesänge im MA das Primat der Strophe in deutscher Sprache unterstützt3, ebenso die Übereinstimmung von Wortakzent und musikalischem Akzent in der Strophe „Ehre sei dir, Christe“. Dagegen aber spricht für eine ursprünglich lateinische Fassung, daß sich die Existenz verschiedener deutscher ma Fassungen nur schwerlich begründen läßt, wenn sie nicht Übersetzungen aus dem lateinischen Vers sind.4 Es wird unklar bleiben müssen, welche Fassung zuerst da war, aber die Entstehungszeitpunkte können nicht weit auseinanderliegen, da die Verbreitung beider Versionen groß ist.

Neben der Strophe „Ehre sei dir, Christe“ hat eine andere Strophe aus einer längeren Strophenreihe aus der von ihr gezeugten Tradition einen eigenen Traditionsstrang eröffnet: „O du falscher Judas, was hast du getan“, auch: „O du armer Judas“, das ursprünglich die letzte Strophe des „Eya der grossen liewe“5 bildete, das evtl aus ma Passionsspielen stammt, erstmals 1392 bezeugt ist6 und sich dann verselbständigte.

Die breite Rezeption dieser Einzelstrophe zeigt sich in verschiedener Hinsicht: Die „Judasstrophe“ wurde seit dem 15. Jh. oft kontrafiziert und zum Spottlied auf weltliche Herren umgedichtet.7 So z.B. in Luthers Dichtung „O du arger Heintze“ gegen Herzog Heinrich von Braunschweig in seiner Schrift gegen den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel „Wider Hans Worst“, 1541.8 Die Judasstrophe dient bis weit ins 16. Jh. als Melodieangabe über Liedern, die sich von dieser Strophe oder dem „Ehre sei dir Christe“ herleiten. Es entstand eine große Zahl von Tenorliedsätzen in der ersten Hälfte des 16. Jh. über diese Weise. Auch hierzu gab es Rückübersetzungen, so in Böhmen9 oder „o tu miser juda“10.

Beide Einzelstrophen sind in das reformatorische Singen vielfältig aufgenommen worden:

Als früheste reformatorische Dichtung liegt das Lied „Ach wir armen Menschen“ aus dem Gesangbuch von Königsberg 1527 vor, als dessen Verfasser Herzog Albrecht von Preußen vermutet wird.11 Der Text ist eine Paraphrase auf die Judasstrophe, in der aber nicht mehr dieser, sondern die Sünder thematisiert sind. Martin Luther nahm sie für sein Lied „Unsre große Sünde“12 zum Anlaß.

In dieser Reihe steht schließlich auch Hermann Bonnus mit seinem Lied: „Och wy armen Sünders“ Magdeburg 1543, vermutlich auf der Basis einer vorreformatorischen Dichtung, bzw. hochdeutsch „Ach wir armen Sünder“ in „Psalmodia“ von Lucas Lossius 1561. Dabei steht es unter der Überschrift „… up de wyse, Och du arme Judas“. Auch in dieser Dichtung bildet demnach die Judasstrophe die musikalische und inhaltliche Bezugsgröße.

Trotz seiner weltlichen Verwendung als Spottlied bleibt das Lied seiner liturgischen Herkunft verbunden. Nach 1550 werden vermehrt Texte gedichtet, die den Dankcharakter des „Ehre sei dir Christe“ aufnehmen; die Judas-Paraphrasen treten zurück.

Zudem versuchen einzelne eine Rückführung des Liedes in seine ursprüngliche liturgische Verwendung in der Mette, indem der Zusammenhang mit dem Hymnus Rex Christe factor omnium, der sich einer ebenso breiten Rezeption erfreute wie das hier besprochene Lied, wiederherzustellen.

Nikolaus Herman hat in seinen „Cantica sacra Evangelia Dominicalia“, Joachimsthal 1558, zu den sechs lateinischen Strophen des Rex christe einen lateinisch-deutschen Mischtext als alternierenden Gesang zugesetzt, der formal die Verwendung im römischen Gottesdienst aufnimmt, dazu auch die urspr. römische Fassung mit einem einfachen Kyrieleison wiederaufgenommen. Eine weitere Fassung mit einem deutschen Text des Rex christe ist angefügt.

Der Kyrie-Ruf hat zwar immer in den Zusammenhang gehört, doch in wechselnder Anzahl der Rufe und in verschiedenen musikalischen Formen.

Das urspr. Ende der Leise hatte nur ein Kyrieleison. In weltlichen Sätzen des 16. Jh. wie in ma liturgischen Versionen, z.B. Neumarkt 1480 waren fünf Rufe angefügt (Kyrieleison – Christe eleison – Kyrieleison – Christe audi nos – salva nos). So geschah es auch z.T. bei der Wiederherstellung des liturgischen Kontextes mit Rex christe. Hermann Bonnus schließlich reduzierte es auf drei Kyrie-Rufe.13

Die vielfältige Aufnahme und Bearbeitung der Strophe weist darauf hin, daß reformatorisches Dichten Tradiertes aufnahm und umgestaltete, und stellt so vor Augen, daß wie in anderen Fragen auch im Dichten nicht das Beseitigen von Traditionen, sondern Bewahren und Umgestalten im Vordergrund stand. Die Tatsache der vielen noch belegbaren Neudichtungen läßt zudem den Schluß zu, daß eine noch größere Vielfalt vorhanden gewesen sein muß, da in der Regel sich nie alle Versuche durchsetzen.

Zu den Fassungen in EG und der hier besprochenen im EKG

Im EKG ist das Lied „O wir armen Sünder“ abgedruckt.

Dieses war zunächst veröffentlicht worden in niederdeutscher Sprache in Magdeburg 1542 (Christoph Adolph) und 1543 (Hans Walther) in „Eyn schoen Geistlick Sangboeck“: „Och wy armen Sünders“, unter der Überschrift: „Van der sünde und van dem lidende Christi / up de wyse, Och du arme Judas“; EKG 57 gibt wieder die Fassung, die erstmals in hochdeutsch: „Ach, wir armen Sünder“ in Psalmodia von Lucas Lossius, Wittenberg 1561 herausgegeben wurde mit ganz entsprechender Überschrift „CANTICVM DE PECCATO et Paßione Christi, …, ad melodiam cantici ueteris: O du armer Judas“ im vierstimmigen Satz von Johannes Bertram Cellensis.

Im EG ist es verkürzt und mit umgestellter Strophenfolge abgedruckt. Der Strophe „Ehre sei dir“ sind zwei Strophen aus dem Lied „O wir armen Sünder“ angefügt. (Reihenfolge: Str. 7-3-6). Die urspr selbständige Strophe „Ehre sei dir“ steht hier zu Beginn, wäherend sie von Bonnus an das Ende gestellt wurde. Damit wird sie zur das Lied bestimmenden Strophe (in Thema und Titel) und erhält im EG eine Position zurück, die sie als Schlußstrophe nicht hatte. Darum scheint die Weise im EG nicht unangemessen. Aber um der Aussageabsicht Bonnus’ gerecht zu werden, ist es sinnvoll, die EKG-Fassung zu besprechen.

2.4.2 Die musikalische Gestalt
Die Strophe

Kennzeichnende Eigenart der Melodie ist, daß sie in einer Spannung von Gleichmaß und Bewegung gehalten wird. Der Eindruck des gleichmäßigen wird erweckt durch verschiedene Faktoren: Alle Zeilen beginnen mit dem gleichen Ton: Mit einem a’, das dreimal wiederholt wird. Alle Zeilen haben eine rhythmisch gleichbleibende Struktur: Sie bestehen aus gleichmäßigen Vierteln. Die Mitte der Zeile, gleichsam ein Ruhepunkt, wird gebildet aus zwei halben Noten1, das Ende besteht aus einer Ganzen. Dadurch wird den einzelnen Zeilen eine symmetrische Struktur verliehen, die zum Eindruck des Gleichmaßes beiträgt.

Das viermalige Singen des gleichen Tones zu Beginn jeder Zeile hat eine doppelte Wirkung: Einerseits gibt es dem Zeilenbeginn den Charakter der unendlichen Tonwiederholungen und eines ewigen Gleichmaßes, andererseits bewirken diese eine Stauung und bauen so eine fast bis ins unerträgliche gehende Spannung auf.2 Die Tonwiederholungen geben dem Zeilenbeginn also einen drängenden Charakter; die aufgebaute Spannung ist so groß, daß sie der beiden halben Noten und zudem der zweiten Zeilenhälfte mit ihrer diatonisch absteigenden Linie bedarf, die Entspannung herbeiführen, bis in der ganzen Schlußnote ein Ruhepunkt erreicht ist.

Die ganze Note verleiht zudem jedem Zeilenende eine Schlußwirkung, durch die jede einzelne Zeile eine eigentümliche monadische Existenz gewinnt. Diese Gestaltung verleiht jeder Zeile den Charakter von Spannung und Entspannung. In der Ununterschiedenheit der Zeilen in diesem Punkt liegt ein weiterer Faktor, der den Eindruck des Gleichmaßes unterstreicht.

 

Bewegung gelangt in die Melodie durch die Intervallik der beiden Halben in der Mitte der Zeile, obwohl ihre Metrik gleichzeitig – wie oben gezeigt – das Gegenteil, Beruhigung, bewirken.

Die halben Noten der einzelnen Zeilen betrachtend zeigen sich fallende Intervalle, die sich stetig vergrößern: Sekunde – Terz – Quart. Mit der Terz in der vierten Zeile verkleinert sich das Intervall wieder und führt so zum Ende der Vier-Zeilen-Einheit hin.

Hier zeigt sich, daß die vier Zeilen nicht nur eine monadische Existenz, sondern auch einen Bezug aufeinander haben: Einerseits ist jede gleich und in sich abgeschlossen in der Bewegung von Spannungsaufbau und -abbau, andererseits wird durch die stetige Vergrößerung der Intervalle in der Mitte ein Spannungsaufbau zur dritten Zeile hin eine zeilenübergreifende Spannung aufgebaut, die in der vierten Zeile wieder abgebaut und in Entpannung und Beruhigung geführt wird. So sind die vier Zeilen durch die Intervallik der Halben in der Zeilenmitte miteinander zu einem Ganzen verbunden.

Auch Tonraum und harmonikaler Rahmen schließen die Zeilen zu einer Gesamtheit zusammen: Jede Zeile beginnt auf dem a’, dem Zentralton des Modus der Melodie, mixolydisch auf d’.

Die Zeilenenden werden aus dem finalis, d’, der repercussio (a’) oder aus g’ (in der Funktion einer Binnenkadenz) gebildet, so daß sie den harmonikalen Rahmen stabilisieren.

Der Ambitus und der Tonraum erhöht sich durch die Intervallik der Halbe bis hin zum Spitzenton d’’, der Oktave über der finalis, der somit Höhepunkt von Ambitus und Spannung ist. Dies umso mehr, als die Oktav der Finalis unüblich ist für den „klassischen Duktus modaler Bewegungen im Tetrardus“, der meist nur zur 7. Stufe steigt3. Dort geschieht die musikalische Peripetie, von der an der Tonraum wieder in die untere Quinte wandert und so den Spannungsabfall, der auch an dem kleiner werdenden Intervall der Halben der Zeilenmitte mitbewirkt.

Die Spannung von Gleichmaß und Bewegung innerhalb der Melodie ergibt sich also aus der Faktur: Das Gleichmaß hängt an der relativen Bewegungsarmut durch Isotonie und Isometrik und dem Verbleiben des Tonraumes im Tonzentrum a’. Die Bewegung hängt an der Intervallik der Halben und am regelmäßig stattfindenden Spannungsaufbau durch das drängende Element der Tonwiederholungen.

Der Kyrie-Ruf

Der Kyrie-Ruf am Ende jeder Zeile bildet selbst auch einen Gegenpol zu der Symmetrie und dem Gleichmaß der Bewegung in den Strophen.

Indem er im gleichen Modus bleibt und mit der Repercussio a’ das gleiche Tonzentrum und den gleichen Anfangston hat, schließt er sich organisch an die Strophe an.

Allein schon in seiner Dreizeiligkeit, d.h. dem dreimaligen Kyrie, verlebendigt er den ersten Teil, der durch seine Vierzeiligkeit in sich ruht. Er fügt der „teutschen Gravität“ (Michael Prätorius) der Vierersymmetrie den fließenden Tanzcharakter des Dreiers an.

Seine Rhythmik ist lebhaft: Die punktierten Noten in der ersten und dritten Zeile beleben die Viertel-Bewegung und geben ihr den Charakter des Vorwärtsdrängens. Das rhythmische Gleichmaß der zweiten Zeile gibt der Bewegung eine innere Mitte.

Die Tonführung ist ebenfalls lebendiger durch fallende Terzen und Quarten und durch die Wellenbewegung, die innerhalb der einzelnen Zeilen und in der Gesamtheit des Kyrie-Teiles.

deutliche Zunahme der Lebhaftigkeit, der Bewegung.

Auch dem lebhafteren Kyrie-Teil wohnt die Spannung von Gleichmaß und Bewegung inne:

Der Zeilenzusammenhang ergibt durch seine Rahmentöne a’ – d’’ – a’ – d’ eine Wellenbewegung, die aber aufgrund der Tatsache, daß es sich um die harmonikalen Zentraltöne handelt, in sich stabil ist. Auch die genannte Bewegungssymmetrie innerhalb der drei Zeilen unterstützt das Gleichmaß.

Zusammenwirken von Text und Musik

Der Text und seine metrischen und theologischen Schwerpunkte entsprechen den durch die musikalische Gestaltung der Melodie erzeugten Schwerpunkten.

Das harmonische und tonführungsbezogene Bewegungszentrum, die Halben, werden auch inhaltlich zum Zentrum: Auf ihnen liegen die Wörter Christe, Kreuzes, Vater, Sünder, die theologische Bedeutungsträger sind. „Vater“ auf dem Spitzenton ist auch als der Begriff, der für den Initiator des Heilsereignisses steht, als Hochpunkt anzusehen.

Die Spannung von Gleichmaß und Bewegung entspricht dem im Text und dem theologischen Entwurf beobachteten Miteinander von der Bewegung der Aufrichtung des in sich gekrümmten Sünders und dem das Lied gleichmäßig durchwebenden Christuslob, das im wiederkehrenden Kyrie-Ruf und dem theologischen Verständnis des im Leiden doch Herrschenden zum Ausdruck kommt.

Der Kyrie-Ruf mit seiner ihn von der Strophe unterscheidenden Lebendigkeit am Ende ist musikalisch dem Jubilus des Halleluja-Gesanges der Sequenz in der römischen Liturgie verwandt; er weist damit auf den Charakter des Lobens in der Bitte um Erbarmen hin.

Die Herkunft der Einzelstrophe „Ehre sei dir, Christe“ aus der Liturgie ist nicht nur am dreifachen Kyrie erkennbar (das dreifache entspricht der Reduzierung des Kyrierufes vom neunmaligen zum dreimaligen durch Luther in seinem Gottesdienstentwurf), sondern auch an dem wiederkehrenden Zeilenbeginn und seiner häufigen Tonwiederholung und in dem Bleiben auf einem Ton bzw. Kreisen um ein Tonzentrum : Ihr wohnt der Charakter des Rezitationstones oder der rezitativische Deklamation in der Gregorianik oder dem liturgischen Psalmengesang inne.

Die Tatsache, daß in späteren Jahrzehnten des Reformationsjahrhunderts das Lied wieder in einer der vorreformatorischen Gestaltung verwandten Art innerhalb des liturgischen Singens eingesetzt wurde, läßt sich auf diese dem Lied zueigen gebliebene musikalische Nähe zum liturgischen Gesang erklären.

2.4.3 Der Liedtext
2.4.3.1 Die Judasstrophe und Luthers Theologie

Zur Betrachtung der von Bonnus verfaßten Strophenreihe ist es sinnvoll, den Blick zunächst auf die eine der beiden Einzelstrophen zu richten, die dem Lied vorangegangen sind und es zu ihrer Zeit populär gemacht haben: die sog. „Judasstrophe“.

Die Strophenreihe des Hermann Bonnus nimmt ihren Ausgang bei der Judasstrophe. Dies ist erkennbar daran, daß sie auf deren Melodie gesungen wird; zudem hat auch die Gestaltung der ersten Strophe deutlich sichtbar die erste Zeile der Judasstrophe zum Vorbild. Darum soll hier zunächst auf deren Aussage eingegangen werden.

O du armer Judas, was hast du getan,

daß du deinen Herren also verraten hast!

Dafür mußt du leiden hellische Pein,

Lucifers Geselle mußt du ewig sein.

Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.

Indem ein Mensch die Judasstrophe singt, bringt er sich in eine bestimmte Position gegenüber der Person des Judas: Er blickt auf den Jünger, der Jesus seinen Verfolgern in die Hände gespielt hat. Mitleid spricht aus seiner Anrede „O du armer Judas“, denn er sieht die Konsequenz, die sein Handeln hat: auf ewig ist er in die Hölle verbannt, in der er seinen Verrat büßen muß.

Zwei Aussagen werden hier implizit vermittelt:

Die eine ist die Gewißheit, daß es keine Rettung vor dieser Strafe gibt. Die andere ist die Schuldzuweisung an Judas. Damit wird eine bestimmte Haltung des Singenden generiert: Er kann von außen auf den blicken, der schuldig geworden ist. Der Betrachter selbst steht nicht in einer inneren Verbindung zu dem Sterben Jesu; er und seine Verfaßtheit, etwa Sünde oder Schuld, spielen keine Rolle im Blick auf Jesu Tod.

Selbstbeweinung statt Schuldzuweisung

Zu Beginn seines Sermons geht Luther auf Formen der Betrachtung des Leidens Jesu ein, die er für nicht fruchtbar und unangemessen hält: Es „bedencken ettlich das leyden Christi alßo, daß sie uber die Juden tzornig werden, singen und schelten uber den armen Judas und lassen es alßo genug seynn, … andere leuth zu clagen und yhre widdersacher vordamen und vorsprechen.“1

Die Judasstrophe scheint im Hintergrund seiner Kritik zu stehen. Was er an ihr und der darin eingenommenen Haltung gegenüber dem Gekreuzigten bemängelt, ist – wie später im Sermon auch noch explizit wird – die Distanz, die der Betrachter zum Kreuzesgeschehen einnimmt: Dieser sieht sich in einer Position, in der er selber nichts damit zu tun hat, er weist Schuld zu und bemitleidet den Gekreuzigten, aber tritt in keinerlei Beziehung zum Geschehen oder zur Person Christi, er bleibt außenstehender Betrachter.

Diese Haltung steht dem Grundanliegen des Passionsbedenkens nach Luther ganz und gar entgegen. Für ihn ist die innere Bezugnahme des Betrachters auf das Geschehen und auf den Gekreuzigten von grundlegender Bedeutung. „Die bedencken das leyden Christi recht, die yhn alßo ansehn, das sie hertzlich darfur erschrecken und yhr gewissen gleych sincket yn eyn vorzagen.“ Der Grund dafür liegt in der Erkenntnis, „du seyest der, der Christum alßo marteret, dan deyn sund habens gewißlich than.“2

Ein Verkennen dieser Ursache ist gefährlich. Luther sagt seinem Leser, er solle denken, „tibi soli haec fecerit … si non tibi sed aliis factum putas, iam negasti eum“3. Indem der Betrachter des Leidenden meint, die Ursache des Leidens läge allein bei anderen, hat er ihn schon verleugnet.

Für Luther ist von Bedeutung, beim Anblick des leidenden Christus auf die Erkenntnis seiner selbst mit dem Beweinen der eigenen Sünden zu reagieren. In seinem Sermon erwähnt er das Wort Jesu an die Frauen, die ihn auf seinem Weg zur Kreuzigungsstätte beweinten, sie sollten nicht ihn, sondern sich selbst beweinen.4 Von größerer Bedeutung ist es in seinem ersten Sermo de Passione: Er bezeichnet es als eine „Pflicht“5, die aus der Erkenntnis seines Leidens hervorgeht, zu weinen und zu wehklagen: „plangi oportet super christum, sicut ipse super nos planxit unus, et nostrum est omnes plangere“. 6

Daß Erkenntnis und Selbstbeweinung für ihn dicht zueinandergehören, formuliert er in derselben Predigt etwas später: Das Leiden Christi als Gegenstand zum Zwecke der Erkenntnis will eine bestimmte Antwort des Betrachters hervorrufen: es zeigt unsere innere Verfassung vor Gott, die uns zum endlosen Wehklagen und Weinen führt: „ostendat, quales simus intus coram Deo, ut his agnitis non cessemus plangere, dolere, flere et poenitere“7. Ohne diese Reaktion ist das Kreuzesgeschehen nicht in seiner Bedeutung erfaß. Erst, wenn einer sich selber in Christi Leiden abgemalt erkennt und daraus lernt, mit sich selber zu leiden, hat er nicht vergeblich mit Christus gelitten8. Wir sollen nicht weinen ohne das Weinen über uns selbst. Mit seiner Aufforderung an die Frauen, nicht über ihn, sondern über sich selber zu weinen (Lk 23,28), verbietet er es, ihn zu bemitleiden und ihn zu trösten zu suchen, und dabei sich selber außer Acht zu lassen und nicht über sich selbst zu weinen. Das Weinen im Blicken auf Christus ist sinnvoll: „Sed in quo possemus nos magis agnoscere et plangere quam in christo? Nusquam utique: quia hic intelligit homo miseriam suam …“ 9. In Christus können wir uns am besten erkennen und unser Elend begreifen, das unendlich und unermeßlich ist.

Selbstbeweinung gehört nach diesen Ausführungen Luthers zum Blick auf den Gekreuzigten als Ausdruck dafür, daß Erkenntnis der Sünde, daß Selbsterkenntnis stattgefunden hat. Es steht zu Beginn des Prozesses, der durch die Betrachtung des Leidenden im Menschen stattfindet. Damit ist der Betrachter weit entfernt von dem Verhalten, das Luther kritisiert, in dem das Weinen und Bemitleiden Christi oder gar des Judas als Flucht vor sich selber zu verstehen ist.