Palast aus Gold und Tränen

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From the series: Die Hexenwald-Chroniken #2
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»Ich will dich nicht verlieren«, flüsterte Rose kläglich. »Nicht deshalb.«

Und mit diesen Worten verlosch meine Wut.

»Ich wollte dir keine Angst machen.«

Sie zog mich in ihre Arme und ich vergrub meinen Kopf in ihren Haaren. Normalerweise rochen sie nach Kamille und Frühling. Jetzt hing noch der Rauch der verbrannten Mondraute darin.

»Ich will dir doch gar nicht verbieten, dich mit deinem Erbe auseinanderzusetzen.« Sie streichelte mir sanft über den Rücken. »Ich wünschte mir nur, du würdest dich bei der Jagd wieder etwas mehr auf deinen Silberdolch verlassen und etwas weniger auf deine Magie.«

Ich wagte nicht zu antworten, weil ich nicht genau wusste, was ich sagen sollte. Ich wollte Rose nicht anlügen. Einen Moment lang verharrten wir in unserer Umarmung, dann lösten wir uns langsam voneinander.

»Es ist spät, wir sollten versuchen zu schlafen.«

Ich nickte und ließ mich zurück in mein Kissen fallen.

Rose stand noch einmal auf, um das Fenster einen Spalt zu öffnen, damit frische Luft und die Kühle der Nacht in die Dachkammer strömen konnten.

»Was hältst du davon, wenn ich dich wieder im Stabkampf unterrichte?«, fragte sie, während sie unter die Decke schlüpfte.

Ich zog eine Grimasse. »Das lassen wir lieber. Darin war ich nie sonderlich gut.«

Rose kicherte. »Das kann man so nicht sagen. Da musst du dir nur die Narbe ansehen, die ich von unserer letzten Kampfstunde zurückbehalten habe.«

Die sichelförmige Narbe an ihrer linken Schulter verdankte Rose nicht meinem Kampfgeschick. Als ich sie während einer unserer Übungsrunden einen Waldhügel hinunterjagte, war ich auf nassem Laub ausgerutscht und der Länge nach hingefallen. Den Kampfstab hatte ich dabei dummerweise nicht losgelassen und Rose mit der harten Kante seines oberen Endes die Haut auf dem Rücken aufgerissen. Sie musste mit vier Stichen genäht werden. Und es war die einzige ernsthafte Wunde, die ich ihr beim Stockkampf jemals zugefügt hatte.

»Wir können gern morgen gegeneinander antreten, wenn du Lust auf weitere Narben hast.« Spielerisch boxte ich ihr gegen die Schulter. Dabei rutschte mein Hemdsärmel nach hinten. Die blauen Tinten­linien auf meinem Unterarm bewegten sich nun nicht mehr so schnell, schienen jedoch dunkler geworden zu sein. Täuschte ich mich, oder ging ein sanftes Glühen von ihnen aus? Als ich Rose anblickte, erkannte ich, dass sie es auch bemerkte. Ich schluckte. Rose sammelte sich als Erste und zog mir energisch wieder den Stoff über den Arm.

»Morgen gehen wir als Erstes zu Irina«, sagte sie. »Schlaf jetzt, und mach dir keine Sorgen mehr.«

Das war freilich unmöglich.

Trotzdem ließ ich es dabei bewenden und erwiderte nicht mehr als »Gute Nacht«, als sie mir einen Kuss auf die Wange hauchte. Danach beugte sich Rose über mich, um die Kerze auf dem Nachtschränkchen auszublasen, und zog mich fest in ihre Arme. Mein Kopf lag an ihrer Brust und ich konnte ihren schnellen Herzschlag hören.

In dieser Nacht träumte ich das erste Mal von Schnee.

Das Frühstück mit der Ziege

Am nächsten Morgen waren die Tintensymbole immer noch da. Mit einem Seufzen schlüpfte ich in ein violett eingefärbtes Leinenhemd, dessen Ärmel eng anlagen und so meine Unterarme bedeckten. Die roten Bänder versteckte ich so gut wie möglich unter den Bünden. Beim Waschen hatte ich sorgfältig darauf geachtet, sie nicht mit Wasser zu benetzen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob das wirklich nötig war. Dann gingen Rose und ich nach unten, um ihrer Familie bei der Hofarbeit zu helfen. Normalerweise liefen wir jeden Morgen einige Meilen, um in Form zu bleiben. Bei der Dämonenjagd kam es oft darauf an, schnell zu sein, und ich hatte keine Lust, mich von einem Moorgeist fressen zu lassen, weil ich aus Bequemlichkeit meine Körperertüchtigung einmal zu oft hatte ausfallen lassen.

Weil wir nicht wussten, wie die Symbole auf meinen Armen auf körperliche Anstrengung reagieren würden, beschlossen wir dennoch, heute eine Ausnahme zu machen. Die Arbeit auf dem Gehöft war vermutlich ohnehin ein angemessener Ersatz. Zumindest für Rose, die losging, die Kühe zu melken und dann ihrem Vater und zwei ihrer Brüder zur Hand zu gehen. Ich ging in den Hühnerstall, um die Tiere in die eingezäunte Freifläche auf der Obstwiese zu lassen, ihren Wasser- und Futtertrog aufzufüllen und nach frisch gelegten Eiern zu suchen.

Mit einem Dutzend Eiern kehrte ich ins Haus zurück. Helene stand am großen Tisch in der Wohnküche und schnitt Brot in Scheiben. Hinter ihr auf dem Herd stand eine Kupferkanne, in der sie Wasser erhitzte. In einem weich gepolsterten Schaukelstuhl am Fenster saß Ursula, Eckharts Frau, ihren neugeborenen Sohn an die Brust gedrückt. Sie schien über dem Stillen eingeschlafen zu sein.

Helene drehte den Kopf in meine Richtung, als ich hereinkam, und lächelte mich an. »Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«

Das hatte ich nicht, aber das konnte ich ihr kaum sagen. Also quälte ich mir ein Lächeln ins Gesicht, eilte quer durch den Raum und öffnete die Tür zur kleinen Vorratskammer, wo ich die Eier in einem Weidenkorb verstaute.

Danach ging ich zum Schrank, um erst einige Holzbretter und Besteck hervorzuholen, danach ein Glas von Helenes selbst gemachtem Mus. Die Butter holte ich aus dem Keller, in den man durch eine außerhalb des Hauses angebrachte Luke kam.

Ich war gerade dabei, eine Rübe in Scheiben zu schneiden, als lärmend die Tür aufflog und unter großem Gelächter Rose und ihre Brüder in die Wohnküche stolperten. Lasse, Rose’ jüngster Bruder, hing an ihrem Arm und ließ sich von ihr hinterherschleifen. Er war vor Kurzem zehn geworden, das jüngste Kind von Lennard und Helene, ein Nachzügler.

»Jetzt sag schon, Rosalie«, bettelte er. »Wie habt ihr den Bergtroll besiegt?«

»Nicht so laut!«, herrschte ihn Ursula an, die offenbar doch wach war. »Die Kinder sind noch im Bett. Und das Kleine ist gerade endlich eingeschlafen.«

Die Männer wurden augenblicklich leiser. Rose verdrehte die Augen.

»Schon gut«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Du musst deshalb nicht so einen Aufstand machen.« Sie setzte Lasse auf dem Boden ab und strubbelte ihm durch die Haare. »Ich erzähl’ es dir später, versprochen.«

»Ach nein, erzähl es jetzt. Bitte.«

»Lasse«, mahnte nun auch seine Mutter streng. Mehr musste sie nicht sagen. Gehorsam, wenn auch unzufrieden, fügte er sich in sein Schicksal und schlurfte zur Bank, um sich auf seinen Platz zu setzen.

»Hast du dir auch die Hände gewaschen?« fragte Helene.

»Freilich!«, erklärte er entrüstet, nur um sich eine weitere spitze Bemerkung von Ursula einzufangen. Jetzt verdrehte auch ich die Augen. Es gab schon einen Grund, weshalb Rose und ihr ältester Bruder Björn Ursula nur die Ziege nannten. Wenn sie es nicht hören konnte.

Eckhart, Rose’ mittlerer Bruder, stellte den tönernen Milchkrug ab, den er von draußen mitgebracht hatte, und ging hinüber zu seiner Frau, um ihr einen Kuss auf den Scheitel zu drücken und mit verzückten Augen auf sein Jüngstes hinunterzugucken. Merkte er nicht, was für einen Besen er geheiratet hatte? Vermutlich nicht. Dass ausgerechnet diese beiden eines Tages den Hof von Lennard und Helene übernehmen würden, darüber war ich nicht gerade begeistert. Im Grunde genommen war Eckhart kein schlechter Kerl. Er war nur ein Jahr älter als Rose und stand ihr damit altersmäßig von all ihren Geschwistern am nächsten. Trotzdem war er derjenige, mit dem ich am wenigsten anfangen konnte. Und ihr ging es da genauso.

Als Rose’ Vater Lennard in die Wohnstube kam, setzten wir uns um den großen Esstisch und begannen mit dem Frühstück.

»Was habt ihr beide heute vor?«, fragte Lennard Rose, als wir uns dem Ende der Mahlzeit näherten.

Rose und ich sahen uns über den Tisch hinweg an. Ich saß auf einem der Stühle, neben Helene, damit ich schnell aufstehen und zum Vorratsschrank gehen konnte, wenn etwas fehlte. Rose saß zwischen ihre beiden Brüder eingekeilt auf der Eckbank.

»Wir werden wohl Irina einen Besuch abstatten«, sagte sie schließlich.

Lennard hob die Augenbraue.

»Es haben sich während unserer letzten Aufträge einige Fragen angesammelt, von denen wir hoffen, dass sie die Antwort kennt.«

»Was für Fragen?«, wollte Lasse wissen.

Rose verzog das Gesicht zu einer Grimasse, krümmte ihre Finger zu Krallen und stieß ein Knurren aus. »Das werde ich dir doch nicht auf die Nase binden, argloses Menschenkind.«

Lasse blieb unbeeindruckt. »Hat es mit Hexerei zu tun?«

Ich verschluckte mich fast an einem Bissen Brot und trank schnell etwas Milch, um nicht antworten zu müssen.

»Oder mit Dämonen?« fragte er mit weit aufgerissenen Augen. »Ich will auch auf Dämonenjagd gehen.«

Neben mir erstarrte Helene. Ich konnte mir vorstellen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Das Dämonenjagen war eine ehrenhafte, wenn auch sehr gefährliche Angelegenheit. Es genügte ihr sicher, dass sie sich bereits um zwei ihrer Kinder Sorgen machen musste. Björn war schon als junger Kerl Hexenschlächter geworden, und Rose war in seine Fußstapfen getreten. Jetzt fehlte es noch, dass auch Lasse diesen Weg einschlug.

Lennard setzte zu einer Erwiderung an, aber Ursula war schneller. »Du, ein Dämonenjäger? Letzte Woche hast du dich noch vor einer Ratte im Keller gefürchtet.«

»Gar nicht wahr!«

»Ursula«, mahnte Eckhart seine Frau sanft.

»Diesen Sommer werden jedenfalls keine Dämonen gejagt, mein Lieber«, mischte sich Lennard ein. »Diesen Sommer wirst du mir auf den Feldern helfen. Bis zur Ernte ist es nicht mehr lang.«

 

»Wusstest du, dass es im Zarenreich einen Korngeist gibt, der den Bauern auf den Feldern auflauert?«, fragte Rose scheinheilig. Lasse riss die Augen auf und hing an ihren Lippen.

»Es ist ein weiblicher Geist. Man nennt ihn die Mittagsfrau. Sie trägt eine riesige Sense bei sich. Wenn die Mittagshitze am größten ist …«

»Rosalie.« Helene trommelte bedeutungsschwanger mit ihrem Zeigefinger auf den Tisch.

»Es ist wahr.«

Lasse ließ sich nicht einschüchtern. »Was passiert, wenn die Mittagshitze am größten ist?«

»Eckhart«, drängte die Ziege.

Eckhart räusperte sich. »Musst du deine Gruselgeschichten hier am Frühstückstisch erzählen, Rosalie?«

Ich sah, wie sich Rose’ Miene wütend verzog und sie zu einer Antwort ansetzte, aber Lennard war schneller. »Dein Bruder hat recht, Lockenköpfchen. Heb dir deine Geschichten für später auf.«

»Es ist keine Geschichte«, schmollte Rose.

»Wir müssen ohnehin gleich gehen.« Ich wandte mich zu Helene um. »Wir lassen dich ungern mit der ganzen Arbeit allein, nur sollten wir früh zu Irina aufbrechen. Wir wissen nicht, was sie heute geplant hat.«

Helene lächelte warm und legte ihre Hand auf meine. »Mach dir darüber keine Gedanken. Mit dem bisschen Geschirr komme ich schon zurecht. Und Lasse wird mir helfen. Nicht wahr?«

»Ja, Mama«, sagte dieser schicksalsergeben und biss in sein Brot. Pflaumenmus färbte die Winkel seines Mundes dunkel.

Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Rose steckte sich schnell einen letzten Bissen Käse in den Mund, ehe sie sich über ihrem Holzbrett die Krümel von den Händen rieb und ebenfalls aufstand.

»Zeit zum Aufbruch.«

»Schade, dass Björn noch nicht zurück ist. Ich bin mir sicher, er hätte euch gern zu Irina begleitet.« Helenes Mundwinkel zogen sich in der Andeutung eines Lächelns nach oben.

»Björn?«, fragte Rose misstrauisch.

»In den letzten Wochen hat er sie das eine oder andere Mal besucht«, sagte Helene schlicht und widmete sich wieder ihrer Mahlzeit. Rose blieb überrascht im Türrahmen stehen und sah sie verwundert an. Als ihre Mutter jedoch nichts weiter hinzufügte, zuckte sie mit den Schultern und öffnete mir die Tür, die zur Treppenstiege nach oben führte. Wenn wir uns auf den Weg zu Irina machten, durften wir das Grimoire nicht vergessen.

Die Mühlenhexe

Irina lebte in einer stillgelegten Mühle, eine halbe Wegstunde vom Dorf entfernt. Rose und ich gingen den schmalen Pfad am Rand des Waldes entlang, der sich hinter den Feldern fächerartig über die Landschaft ausbreitete. Obwohl es so früh am Morgen war, trieb uns die Hitze den Schweiß auf die Stirn. Deshalb bewegten wir uns eng im Schatten der hohen Fichten, deren harziges Aroma schwer in der Luft hing. Das Buch steckte gut verborgen in Rose’ Schulterbeutel. Ihren Kampfstab aus Eschenholz benutzte sie wie einen Wanderstock. Wenn man einmal von meinem Silberdolch absah, war ich unbewaffnet. Über meiner Schulter hing eine ausgebeulte Leinentasche, in der sich ein halbes Dutzend Hühnereier befanden. Helene hatte sie uns überlassen, damit wir nicht mit leeren Händen an Irinas Tür erscheinen mussten. Ich hatte die Zauberin vor vier Jahren kennengelernt, als Rose sie mit mir aufgesucht hatte, damit sie uns im Kampf gegen einen Schwarzalben beistand. Damals hatten wir uns an sie gewandt, weil uns keine andere Wahl geblieben war. Während ich eine Blindschleiche dabei beobachtete, wie sie vor mir über den Weg schlängelte und dann im hohen Weidegras verschwand, wurde mir bewusst, dass die Situation heute ganz ähnlich war.

Irina war kurz nach mir ins Dorf gekommen. Ursprünglich hatte sie nicht länger als einen Winter bleiben wollen. Inzwischen war die alte, verlassene Mühle, in die sie damals gezogen war, ihr Zuhause. Die Dorfbewohner hatten sie aufgrund ihrer Fremdartigkeit anfangs scharf beobachtet. Sie jedoch scherte sich nicht um die Meinung von Menschen, die zwar hinter ihrem Rücken über sie lästerten, aber dennoch zu ihr kamen, wenn die Not groß war. Sie flehten sie um Heiltränke an oder um Beistand bei einer schwierigen Geburt. Und Irina half, wo sie konnte.

Sie blieb eine Einzelgängerin. Wie ich hatte sie ihr altes Leben hinter sich gelassen und hier ein neues begonnen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich sie ein Stück weit in mein Herz gelassen hatte. Anders als Rose, die ihr nur mit äußerster Vorsicht begegnete. Hexe bleibt Hexe, und wenn sie sich hundert Mal Zauberin nennt, hatte sie einmal gesagt. Ob sie das Gleiche jetzt auch von mir dachte?

»Fandest du es eigentlich auch seltsam, was deine Mutter vorhin gesagt hat?«, fragte ich, um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Dass es schade ist, dass Björn uns nicht begleiten kann.«

Rose zuckte nur mit den Schultern.

»Es klang ein bisschen so, als wolle sie die beiden verkuppeln«, fuhr ich fort.

»Unsinn!«

Ich unterdrückte ein Grinsen. »Sie sagte, Björn habe Irina in letzter Zeit mehrfach besucht.«

»Freilich.« Rose reichte mir den Eschenstab, damit sie sich den Pferdeschwanz neu binden konnte. »Vermutlich hat er mehr von ihrem ekligen Trank gebraucht.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Oder sie arbeiten an einer Möglichkeit, den Zauber endgültig zu brechen.«

»Meinst du nicht, davon hätten uns deine Eltern erzählt?«

Rose schürzte die Lippen und nahm den Kampfstab wieder an sich. »Wenn es so ist, hat Björn ihnen sicher nichts davon gesagt. Er will ihnen keine falschen Hoffnungen machen.«

Seite an Seite stapften wir weiter über den Waldweg. Ich glaubte nicht, dass Rose recht hatte, hielt es jedoch auch für keine gute Idee, ihr jetzt, kurz vor unserem Besuch bei Irina, zu widersprechen.

Die alte Mühle lag in einer Senke am Waldrand. Der Trampelpfad, dem wir folgten, führte direkt an ihr vorbei. Auf der anderen Seite des Gebäudes, dort wo das stillgelegte Mühlrad hing, plätscherte fröhlich ein Bachlauf über moosbewachsene Steine. Die Mühle hob sich wie eine kunterbunte Oase vor dem Grün des Hintergrunds ab. Tausend Farben explodierten rund um das aus Stein und dunklem Holz errichteten Gebäude: Korn- und Ringelblumen, Holunder und Schafgarbe, tiefrote Rosen, dunkelblaue Schwertlilien und rosa­farbenes Springkraut wetteiferten miteinander um die Vorherrschaft in dem prächtigen Garten, den Irina hegte und pflegte. Ein kleines Fleckchen, das wusste ich, war allein den Heilkräutern vorbehalten. Der größte Teil des Gartens jedoch war ein wildes Durcheinander aus den unterschiedlichsten Blumen, Obststräuchern, Gemüsebeetchen und Giftpflanzen. Kürbisse wuchsen neben Sonnenblumen, Brombeerbüsche neben Feldsalat und unweit der Erdbeeren erhoben sich die langen Stauden des Blutschierlings. Selbst die schmalen Kästen vor den Fenstern der Mühle hatte Irina bunt angestrichen, mit Erde befüllt und dann wild bepflanzt. Vom überdachten Absatz der Außentreppe im ersten Stock ergoss sich Goldregen ein halbes Stockwerk nach unten. Seine kräftige Farbe leuchtete üppig vor der dunklen Holzverkleidung.

Der Anblick war atemberaubend. Vor allem, wenn man wusste, wie die Mühle noch vor wenigen Jahren ausgesehen hatte. Halb verfallen war sie damals ein schwarzer Verschlag gewesen, der selbst im strahlendsten Sonnenschein traurig und unheimlich ausgesehen und eine böse Aura ausgestrahlt hatte. Bei meiner Ankunft im Dorf war die Mühle bereits seit Generationen als Spukhaus verschrien. Jahrzehntelang hatte niemand mehr darin gewohnt. Gerüchte gingen, dass etwas Schreckliches hinter diesen Mauern geschehen war. So recht erinnerte sich aber niemand mehr daran, was wirklich vorge­fallen war. Von Mord und Totschlag war die Rede, eine Zeit lang befand sich die Mühle in Räuberhand. All das Schlechte, was hinter ihren Wänden geschehen war, hatte das Gemäuer selbst verdorben und zu etwas Bösem gemacht.

Niemand war gern hier vorbeigegangen, und so mancher Krämer und Wanderer hatte einen beträchtlichen Umweg in Kauf genommen, nur um nicht auf seinem Weg das seltsame Gebäude zu passieren. Rose hatte mir erzählt, dass die Dorfkinder früher Mutproben abgeschlossen hatten, wer sich näher daran herantraute. Vielleicht hatten die Dorfbewohner auch begonnen, Irina zu akzeptieren, weil sich mit ihrer Anwesenheit die Atmosphäre der Mühle völlig veränderte.

»Dann mal los.« Rose packte ihren Eschenstab, als würde sie in den Kampf ziehen, und trat vom Weg auf den Hof. Grinsend folge ich ihr in das Blumenmeer. In den Rabatten zu meiner Rechten hörte ich Insekten summen, und als wir am Wacholder vorbeikamen, sprang uns eine schwarz-weiß gefleckte Katze in den Weg und blickte uns fragend an. Wo Irina weilte, waren Tiere nicht weit.

»Es ist schön hier geworden, nicht wahr?« Behutsam fuhr ich mit meinen Fingerkuppen über die Blätter. Rose brummte nur. Ich schob mich an ihr vorbei und klopfte an die Tür. Irina war vermutlich eher geneigt, uns zu helfen, wenn ein freundliches Gesicht sie zuerst begrüßte. Außerdem waren die Tintenlinien im Grunde genommen mein Problem.

Irina öffnete nach meinem zweiten Klopfen. Sie hatte ihr schwarzes Haar in zahlreiche kleine Zöpfe geflochten und am Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt. Es musste Stunden gedauert haben, sich so zu frisieren. Es sah wunderschön aus. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.

Als sie erkannte, wer vor der Tür stand, lächelte sie. »Guten Morgen.«

Eine Bachstelze kam über den Hof geflattert und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. Sie grub ihre Krallen in den Stoff von Irinas Hemd und schmiegte sich an sie. Die hob den Finger und streichelte sanft die helle Vogelbrust, ließ uns dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. »Na, kommt rein, ihr beide«, sagte sie dann.

Sie drehte sich um und verschwand im Haus, ohne sich zu versichern, dass wir ihr folgten. Über meine Schulter hinweg warf ich Rose einen Blick zu. Die aber zuckte nur mit den Schultern, und so betrat ich die alte Mühle.

Der Flur war schmal und dämmerig. Das dunkle Holz der Wandpaneele ließ ihn finster wirken. Daran konnten auch die Blumenkübel nichts ändern, die überall herumstanden. Ich hatte noch nie gesehen, dass man Efeu auch an einer Wand im Haus hochklettern ließ. So war Irina eben: eigen, wenn es um Pflanzen ging. Und um Tiere. Eine kleine Meise schmetterte uns ein fröhliches Lied entgegen. Sie saß auf einer abgestorbenen Baumwurzel, in die ein gnomenhaftes Gesicht geschnitzt war und die Irina an einer Stelle der Wand befestigt hatte, die noch nicht vom Efeu verschlungen worden war. Über den Boden vor uns flitzten im Zickzack zwei Eichhörnchen. Und durch die Geländerstreben einer Treppe, die steil nach oben führte, steckte ein Fuchs sein spitzes Gesicht. Er beobachtete uns wachsam und schien sich für die anderen Tiere überhaupt nicht zu interessieren.

»Passt auf bei der Treppe«, rief Irina uns zu, während sie vom Flur in eines der hinteren Zimmer abbog. »Den schwarzen Fleck dort habe ich immer noch nicht wegbekommen. Normalerweise ist er nur gefährlich, wenn man in den ersten Stock hinaufwill. Aber wenn Gäste im Haus sind, ist er unberechenbar.«

Unbehaglich warf ich einen Blick nach rechts. Das Zwielicht am Fuß der Treppe schien noch eine Spur düsterer zu sein als im restlichen Flur und irgendwie … kälter. Die Stelle löste widerstreitende Gefühle in mir aus: Beunruhigung, aber auch eine seltsame Faszination. Wie ein grauenhaftes Gemälde, von dem man einfach nicht den Blick abwenden konnte. Mein Herz begann zu klopfen und ich hatte das Gefühl, die Tintenflecken auf meinen Unterarmen herum­krabbeln zu spüren.

Rose schloss zu mir auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Ob sie mich damit beruhigen wollte oder eher sich selbst, wusste ich nicht. Ihr ganzer Körper war angespannt.

»Komm«, stieß sie gepresst hervor und schob mich weiter.

Erleichtert atmete ich auf. Ich wusste selbst nicht weshalb, und schritt durch einen Türbogen in einen großen, lichten Raum, dessen hintere Fensterfront vom Fußboden bis zur Decke aus trübem Glas bestand. So dunkel es im Flur gewesen war, so hell war es hier.

Irina ging zu einem mächtigen Eichenholztisch in der Mitte des Raums. Darauf standen nicht nur allerlei Pflanzen, sondern auch Korbschalen, Tongefäße und Glasfläschchen. Vor Irina lagen ein hölzernes Schneidebrett und ein kleines Messer. Sie ergriff Mörser und Stößel. Hexenküche, schoss es mir durch den Kopf. Doch der Raum war so ganz anders als die unterirdische Gift- und Folterkammer der letzten Hexe, deren Haus wir betreten hatten. Wo uns das Grimoire in die Hände gefallen war. Das Kellerverlies jener Hexe hatte nach Blut, Angst und Tränen gestunken. Dieser Raum roch nach Frühling, Freundlichkeit und Leben.

 

»Wenn ihr Durst habt: Auf der Anrichte dort hinten steht ein Krug mit verdünntem Apfelsaft. Entschuldigt bitte, dass ich euch nicht selbst einschenke. Morgen ist Markttag und es gibt noch viel zu tun.«

Rose griff demonstrativ nach ihrer Wasserflasche am Gürtel und trank einen tiefen Schluck. Innerlich verdrehte ich die Augen, beschloss allerdings, keinesfalls auf das Thema einzugehen.

»Die Mühle ist unglaublich!«, platzte es stattdessen aus mir heraus.

Irina blickte auf und lächelte mich herzlich an. »Danke.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Bank, die auf der anderen Seite des Tisches stand. »Setzt euch.«

Rose setzte zu einer Erwiderung an, aber ehe sie ablehnen konnte, zog ich sie mit mir zur Bank und ließ mich darauf nieder. Unsere Gastgeberin nahm auf einem Holzstuhl Platz, legte jedoch Mörser und Stößel nicht aus der Hand.

»Wie hast du das so schnell geschafft?«, fragte ich neugierig.

Irina grinste mich spitzbübisch an. »Magie.«

Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt.

»Was führt euch zu mir?« Irina zupfte ein paar Blätter von einer Pflanze ab, um sie in den Mörser zu geben.

»Ich dachte, das wüsstest du. Hast du uns nicht erwartet?« Rose’ forscher Ton trieb mir die Röte ins Gesicht. Möglichst unauffällig trat ich ihr unter dem Tisch auf den Fuß.

Irina lachte nur. Der Bachstelze, die bis dahin auf ihrer Schulter gesessen hatte, wurde es offenbar zu unruhig auf ihrem Platz. Sie flog nach oben ins Gebälk, um sich dort niederzulassen. »Ich sehe, du hast immer noch deine Dornen. Warum kommst du zu mir, wenn du mir nicht traust?«

Ehe Rose antworten konnte, trat ich mit dem Fuß noch einmal zu. Fester diesmal.

»Sei uns nicht böse«, sagte ich schnell.

»Das bin ich nicht.«

Einen Augenblick lang schwiegen wir. Dann stellte Irina klappernd den Mörser beiseite und stand auf, um uns Apfelsaft einzuschenken.

Als sie uns die Getränke demonstrativ vor die Nase stellte, blitzten ihre Augen. »Ich weiß, dass du nicht aus reiner Höflichkeit auf einen Nachbarschaftsbesuch gekommen bist, Rosalie Lennards­tochter. Also: Was willst du?«

»Sie ist mit mir gekommen, weil ich sie darum gebeten habe. Ich bin es, die deine Hilfe braucht.« Ehe sie etwas erwidern konnte, nestelte ich an dem Hornknopf an meinem Ärmelbund herum und schob dann den Stoff nach oben, um den Unterarm freizulegen.

Als sie die Zeichen erblickte, finsterblau auf meiner schneeweißen Haut, sog Irina scharf die Luft ein. »Was ist das?!«

»Wir hatten gehofft, dass du uns das sagen könntest.« Rose’ Stimme klang nun nicht mehr angriffslustig.

»Sie sind von einem Zauberbuch«, sagte ich niedergeschlagen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Irina kam um den Tisch herum und setzte sich neben mich auf die Bank.

»Was für ein Zauberbuch?«

»Ein Grimoire.«

»Ich hab es dabei.« Rose ließ ihren Lederbeutel von der Schulter gleiten. Irina nahm meine Hand in ihre und beugte sich nah zu meinem Unterarm herunter. Die Symbole und Schlangenlinien führten wilde Tänze auf.

»Sind sie nur dort?«

Ich schüttelte den Kopf. »Auch auf dem anderen Unterarm.«

»Darf ich?«

Irina wartete meine Antwort nicht ab und schob auch den anderen Ärmel nach oben. In ihrer Miene spiegelte sich eine Mischung aus Faszination und Entsetzen, als sie eine Tintenspinne dabei beobachtete, wie sie sich zwischen zwei zackigen Runen hindurchquetschte und dann auf der Rückseite meines Arms verschwand.

»Hast du das gemacht?« Irina deutete auf die Bänder, die ich immer noch um meine Oberarme und Handgelenke gebunden trug.

»Rose hat mir geholfen.«

»Salbei und Rosenwasser?«

Ich nickte. »Und Minze.«

»Kluges Mädchen.« Sie umschloss meine Hände fest mit den ihren. »Ich will dich nicht anlügen, Muireann. Das, was ich sehe … das sind keine harmlosen Symbole auf deinen Armen. Das ist Hexenwerk.«

Ich schluckte.

»Hier ist das Buch.« Rose klang ungewohnt leise, als sie das Grimoire vorsichtig auf den Tisch legte. Irina streckte den Arm aus, um es zu sich zu ziehen, aber sobald sie das bronzebeschlagene Leder berührte, zuckten ihre Finger zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihre Hände ballte sie zu Fäusten.

»Wo habt ihr das her?«, fragte sie scharf und ich konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb schneller hob und senkte als gewöhnlich.

»Aus dem Keller einer Hexe«, sagte ich. »Es ist eine längere Geschichte.«

Irina verschränkte die Arme. »Wenn ich euch helfen soll, muss ich alles wissen.«

Also erzählten Rose und ich ihr abwechselnd die ganze schreckliche Geschichte.