UNHEILBAR GESUND

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Fünfjährig

Und eines der zwei zurückgebliebenen kranken Kinder bin ich, nun also fünf Jahre alt. Es fängt somit die Zeit an, an die ich mich bis heute gut zurückerinnern kann.

Ich habe das Glück, dass ich wie ein Kind ohne schwere Krankheit aufwachsen darf. Meine Eltern behandeln und erziehen mich gerade so, als wäre ich gesund. Das heißt, keine Vorzüge und auch keine Nachteile. Weder sind meine Eltern extrem übervorsichtig mit mir, noch versuchen sie mich vor allem zu schützen. Sie sind beide von Haus aus Bauernkinder und stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Dieser Kraft, die sie in meine Kindheit gebracht haben, habe ich viel zu verdanken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es damals für sie war und wie sie mit der ganzen Situation umgingen und umgehen, findet bis heute meine uneingeschränkte Bewunderung.

Sechsjährig

Ich gehe wie alle anderen Kinder in den Kindergarten. Mir wird nach und nach gewahr, wie meine Schwester in der zweiten Schulklasse mit Abstand die klügste Schülerin ist. Wegen ihres eher schlechten Gesundheitszustandes muss sie aber öfters der Schule fernbleiben. Sie hat große Mühe mit der Atmung und hustet sehr oft. So kommt es, dass andere Schulkameraden oder auch ich häufig ihren Schulranzen tragen.

Siebenjährig

Nun bin auch ich in der Schule angelangt und darf endlich rechnen und schreiben lernen. So klug wie meine Schwester bin ich nicht, aber ich komme auch ganz gut und ohne große Mühen durch alle Fächer durch.

Zu diesem Zeitpunkt merkt man bereits, dass ich in der körperlichen Entwicklung leicht zurückbleibe. Mein Alltag wird von vereinzelten Kontrollterminen beim Hausarzt, ein Minimum an Therapiestunden und durch Einnahme von Medikamenten begleitet. Ansonsten merke ich selbst nicht viel von meiner Krankheit.

Meiner Schwester aber geht es immer schlechter. Irgendwann kann sie nicht mehr zur Schule. Nach mehreren Krankenhausaufenthalten darf auch sie ihren Leidensweg auf dieser Erde mit neun Jahren verlassen und Zuhause in den Armen meiner Mutter einschlafen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt draußen am Spielen und bekomme erstmal nichts mit.

An den Tod meines Bruders kann ich mich kaum erinnern, da ich zu dem Zeitpunkt selbst erst knapp zwei Jahre alt war.

Hier, als Monika stirbt, bin ich sieben und erinnere mich. Jedoch verdränge ich die damit verbundenen Gefühle meisterhaft. Dies ist für Kinder in diesem Alter vermutlich eine ganz normale Reaktion, die dem Eigenschutz dient. So kommt es, dass ich das ganze überspiele und bei meinen Schulkameraden wie auch im übrigen Umfeld sogar ins lächerliche ziehe, indem ich Witze darüber mache wie z.B., dass ich jetzt endlich nicht mehr teilen oder streiten müsse.

Von nun an bin ich also ein Einzelkind. Dies werde ich in Zukunft noch vermehrt (teils berechtigt - teils nicht) zu hören bekommen.

Meine Angehörigen tun mir in diesem Zeitraum kaum einen Gefallen, indem sie mich vor allem Mitleid spüren lassen und das Gefühl, ich sei etwas Besonderes. Natürlich nehme ich das niemandem übel und weiß, dass solche Dynamiken immer unbewusst und ohne bösen Willen entstehen. Meine Eltern, die in mir jetzt das letzte Kind haben, klammern sich natürlich umso mehr an mich. Hinzu kommt, dass sie zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass auch ich vor ihnen sterbe und wohl kaum das Erwachsenenalter erreiche.

Zusammengefasst, es ist wahrscheinlich der reinste Horror für sie.

In den nächsten Jahren folgen weitere Todesfälle in der Verwandtschaft und ein schwerer Autounfall meiner Mutter. Es scheint fast, als wäre unsere Familie von dieser Thematik verfolgt.

Weitere Schicksalsschläge und Todesfälle in der Familie respektive Verwandtschaft folgen in den nächsten Jahren, so dass das „Elend“ kein Ende zu nehmen vermag.

Immerhin können es sich meine Eltern ein Jahr nach dem Tod meiner Schwester leisten, mit mir nach Gran Canaria in die Ferien und somit das erste Mal ans Meer zu fliegen. Endlich können wir alle einmal etwas abschalten und die schönen Seiten des Lebens genießen. Meine Eltern lassen es sich in der Folge nicht nehmen, fast jährlich wieder mit mir ans Meer zu fahren. Dabei stehen Destinationen wie Mallorca und Süditalien auf dem Programm.

Zwölfjährig

Ich komme nun in die Oberstufenschule. Körperlich ist es nicht mehr zu übersehen, dass ich auf Grund der Krankheit zurückgeblieben bin. Ich bin der Kleinste in der Klasse. Dieses Defizit muss natürlich ausgeglichen werden. Mein Mundwerk bietet sich hierfür an und dementsprechend entwickelt es sich. Ich war aber auch schon in der zweiten Primarschulklasse der Klassenkasper und meine Mutter durfte regelmäßig zur Elternsprechstunde antraben. Die Lehrer wissen nicht, wie sie Ruhe in die Klasse bringen können, wenn ich dabei bin. Im Gegensatz zu meiner körperlichen Unterentwicklung lässt sich mein schulisches Können aber immer noch sehen. Bald werde ich sogar der Förderklasse, damals etwas Positives, zugeteilt. Ich muss ehrlich sagen, die meisten Schulthemen fallen mir einfach leicht, denn fleißig bin ich immer noch nicht, sondern eher faul und ein Minimalist.

So stellt die Zeit der drei Jahre in der Oberstufenschule schulisch für mich kein Problem dar. Auf der Persönlichkeitsebene jedoch bin ich umso mehr gefordert. So komme ich durch meine Unterentwicklung oft unter die Räder. Mein Mundwerk trägt das Restliche dazu bei, dass ich auf Dauer weder bei meinen Mitschülern noch bei den Lehrern besonders gut ankomme. Irgendwie schaffe ich es, mir meinen Freundeskreis aufzubauen, wahrscheinlich weil ich trotz allem ziemlich selbstsicher durch die Gegend laufe. So genieße ich trotz meines gesundheitlichen Handicaps die Freizeit wie viele nicht kranke Jugendliche in diesem Alter: Ich spiele Fußball, Skate, baue Baumhütten im Wald, rauche heimlich und klettere verbotenerweise auf Baukräne.

Gesundheitlich geht es mir den Umständen entsprechend gut. Das darf ich mit gutem Gewissen behaupten. Dennoch gehen die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch immer davon aus, dass ich wohl höchstens das Erwachsenenalter erreiche. Außer, dass ich viel huste und täglich Medikamente einnehme, bemerke ich selbst aber kaum Einschränkungen gegenüber den nicht kranken Jugendlichen.

Dreizehnjährig

In der Zwischenzeit, ich bin 13 Jahre, unternehmen meine Eltern mit mir wieder einmal einen Urlaubstrip. Es geht nach Florida, wo wir meinen Paten besuchen, der auf Grund seines Jobs auf einer Bank einen Sprachaufenthalt macht.

Das ist der Moment, wo ich vom klassischen Hausarzt zum CF-Spezialisten wechsle. Medizinisch gesehen, ist das natürlich ein großer Fortschritt und meine Überwachung respektive Betreuung wird damit optimiert.


KAP 2 Erwachsen werden

Zu der Zeit, in der ich vom Jugendlichen langsam zum Erwachsenen werde, ist es noch eher ungewöhnlich, dass ein CF-ler überhaupt das Erwachsenenalter erreicht. Deshalb wird das Thema kaum thematisiert und stellt dementsprechend für mich eine Herausforderung dar. Denn plötzlich bin ich ein fast schon „ausgewachsener Teenager“ und siehe da, ich lebe noch. Und es geht mir den Umständen entsprechend gar nicht mal so schlecht.

So komme ich in die letzte Schulklasse. Auf Grund meiner guten Schulnoten sähen mich viele in meinem Umfeld gerne am Gymnasium und später studieren. Meine Eltern überlassen solche Entscheidungen jedoch glücklicherweise mir allein und versuchen nicht, mich zu beeinflussen.

Da ich weder die Schule noch das Lernen wirklich mag und es auf Grund meiner Lebenserwartung in meinen Augen keinen Sinn macht, weiter zur Schule zu gehen und somit vielleicht gar nie mein eigenes Geld verdienen zu können, erübrigt sich diese Frage für mich ziemlich schnell.

So mache ich einen Besuch beim Berufsberater und entscheide mich für die vierjährige Berufslehre zum Hochbauzeichner. Ich war immer gut in der Geometrie und habe Sprachen nie gemocht, so passt das ganz gut. Die Lehrstelle ist im eigenen Dorf schnell gefunden und die erste Hürde, nämlich den künftigen Lehrmeister vorgängig über die Krankheit und deren möglichen Folgen ins Bild zu setzen, ist auch geschafft. Da ich jetzt weiß, dass ich nach dem Schulabschluss versorgt bin, stelle ich jegliches Bemühen und Engagement in der Schule ein. Ich genieße meine Zeit, bevor der „Ernst des Lebens“ beginnt.

Die emotionalen und psychischen Herausforderungen nehmen indes zu. Ein starker Husten macht sich mehr und mehr bemerkbar und die körperliche Unterentwicklung ist inzwischen auch nicht mehr zu übersehen, respektive zu überhören. Denn mittlerweile bin ich wohl der einzig übrig gebliebene Junge meines Jahrgangs, der den Stimmbruch noch nicht hatte. Die entsprechenden Hänseleien bleiben selbstverständlich nicht aus. Ich bin ein absoluter Meister im Überspielen geworden und vermute daher, dass mir niemand anmerkt, wie ich darunter leide.

Damit nicht genug. Ich habe nun meine Tätigkeit als Hochbauzeichner-Lehrling begonnen und werde beim Beantworten der Telefonanrufe mit Frau Dobler begrüßt und verabschiedet. Naja, es gibt wohl Schlimmeres. Und die Zeiten werden sich ändern, und zwar gewaltig. Das kann mein verunsichertes damaliges Selbst aber natürlich nicht ahnen.

 

Vielleicht fragst du dich, welche Ziele hat ein Jugendlicher mit einer solchen Diagnose? Was will ein junger Erwachsener, der davon ausgeht, dass er grade mal noch einige Jahre zu leben hat, vom Leben? Ganz einfach:

Ich will die Autoprüfung noch bestehen und einmal legal Alkohol trinken dürfen. Und das wichtigste; ich will wissen, was Sex ist und wie es sich anfühlt. Leider scheint genau dieser Wunsch zu diesem Zeitpunkt für mich fast unerfüllbar. Wie soll ein Junge in meiner Verfassung jemals eine Freundin finden? Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb nehme ich jede Gelegenheit wahr, mich mit der anderen Spezies zu unterhalten.

Aber wie bereits erwähnt, die Zeiten ändern sich. Mittlerweile im 3. Lehrjahr angekommen, habe auch ich den Stimmbruch noch bekommen. Ich bestehe mit Bravur die Autoprüfung und bin zudem einer der ersten, der eine Freundin hat und zu diesem Zeitpunkt mit siebzehn Jahren seine Unschuld verliert.

Die Ziele sind also nun allesamt erreicht, was natürlich eine gewisse Bremskraft auf meine Motivation ausübt. Wofür lebe ich jetzt, was will ich, wie soll es weiter gehen? Denn, entgegen aller Erwartung und medizinischer Prognose, lebe ich ja immer noch.

Na gut, der nächste Schritt ist dann wohl, jeden einzelnen Tag, der noch bleibt, zu genießen und zu leben, als gäbe es kein Morgen mehr, denn wer weiß schon, wie lange mir noch bleibt? Und wie lebt man am besten so, als ob es kein Morgen gäbe? Natürlich, die Antwort kennt jeder, ob „krank“ oder nicht: Feiern, feiern, feiern. Und das nehme ich leider etwas zu wörtlich.

Das Ende meiner Berufslehre naht. Die Abschlussprüfung schließe ich mit einem Minimum an Lernaufwand ab. Und irgendwie habe ich es sogar geschafft, mich zwischen meinen ersten Alkoholexzessen und nächtlichen Streichen auf der Straße noch um meine kurzfristigen Zukunftspläne zu kümmern.

Und wie meine Laune so spielt, kommt mir die glorreiche Idee, eine zweijährige Zusatzlehre zum Maurer in Angriff zu nehmen. Unschwer vorzustellen, wie mein Umfeld nach dieser Verkündung reagiert. Verständlicherweise schütteln so ziemlich alle ihren Kopf und fragen mich, was denn in mich gefahren sei. Wie wolle ich das mit meiner Krankheit in Einklang bringen? Man ist sich einig, eine Talfahrt meiner Gesundheit sei auf diesem Weg vorprogrammiert. Ich mache es trotzdem.

Und meine Eltern unterstützen mich auch darin. Sie kennen mich genau und wissen, wie wichtig es für mich ist, meinen eigenen Kopf zu haben. Bei einem Gespräch teilen sie mir mit, ich solle meinen Weg gehen, wenn ich der Ansicht sei, dass es das Richtige ist. Und glücklicher- und auch ein bisschen überraschenderweise unterstützt mich sogar mein Arzt, jedoch unter der Bedingung und in gegenseitigem Einverständnis, dass ich, sollte sich mein Gesundheitszustand drastisch verschlechtern, die Zusatzlehre umgehend abbreche. Damit ist der geschmiedete Plan besiegelt. Im besten Fall werde ich diese Berufsausbildung sogar abschließen, um anschließend wieder einen Bürojob anzunehmen und eigenes Geld zu verdienen.

Aber wie sagt man so schön, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Ich bin definitiv gefordert und durchlebe weniger gute Zeiten während diesen zwei Jahren. Zwar sind die Bewegung und die frische Luft ein positiver Aspekt in Bezug auf meine Gesundheit, zugleich stellt jedoch die körperliche Anstrengung in Verbindung mit den Witterungsverhältnissen die bisher wohl größte Herausforderung dar.

Natürlich will ich nicht wahrhaben, dass es mir gesundheitlich nicht sonderlich gut geht. In vielen Diskussionen, auf die ich mich nur widerwillig einlasse, wird mir nahegelegt, dass es vielleicht doch besser sei, dem nun ein Ende zu setzen. Ich denke nicht daran. Selbst wenn ich manchmal nächtelang durchhuste und oft mehr tot als lebendig zur Arbeit erscheine, gebe ich nicht so schnell auf. Ich bin es bereits gewöhnt zu kämpfen und habe auch nichts anderes erwartet, da ich seit Geburt an krank bin und der Verlauf in etwa der Norm entspricht.

Mehr noch, gegen Ende meiner zweijährigen Zusatz-Berufsausbildung übernehme ich die verantwortungsvolle Aufgabe, das neue Eigenheim meines Onkels zu erbauen. Ich bin wohlverstanden süße einundzwanzig Jahre alt zu diesem Zeitpunkt. Es handelt sich um den Neubau eines Zweifamilienhauses, bei welchem ich sämtliche Architektur- und Bauleitungsaufgaben auf mich nehme. Von der Projektierung über die Einreichung des Baugesuchs bei den Bewilligungsbehörden, der Ausführungsplanung bis hin zur eigentlichen Bauausführung mit den dazugehörigen Ausschreibungen und Vergabe der Arbeiten, sowie der örtlichen Bauleitung, bin ich verantwortlich und zuständig. Ich führe also alle Arbeitsgattungen an, vom Verlegen der Kanalisationsrohre bis hin zur Montage der Vorhangschienen. Ein paar Tage nehme ich mir dazu unbezahlten Urlaub bei meinem Arbeitgeber, um in der intensivsten Planungsphase die notwendigen Arbeiten innerhalb der Frist abliefern zu können. Den Rest erledige ich jedoch so nebenher und dies beinhaltet dann doch auch noch ein paar Nacht- und Wochenendschichten - schlaflose Nächte natürlich inklusive, weil ich ständig befürchte, dass ich dieser Aufgabe nicht gewachsen bin.

So gibt es auch und vor allem zu dieser Zeit meines Lebens einige Höhen und Tiefen. Gleichzeitig erhalten gerade diese Tätigkeiten mich am Leben. Tja und so will es geschehen, dass ich nach sehr erfolgreichem Abschluss dieser zweijährigen Zusatzlehre zum Maurer weiterhin als Vorarbeiter auf dem Bau arbeite und das für die nächsten fünf Jahre.

Ohne dass ich etwas ahne, steht die nächste schwierige Zeit in meinem Leben bereits vor der Tür, sowohl psychisch wie auch physisch.


KAP 3 Ich bin immer noch am Leben, und jetzt?

Wo stehe ich inzwischen? Ich bin etwa 21 Jahre alt und stehe jetzt, nun ja, mitten im Leben. Bei mir heißt das jedoch nicht, dass ich mich niedergelassen und gemütlich häuslich eingerichtet habe. Sondern ich stehe da, lebe wider Erwarten noch immer und habe weder irgendwelche Ziele noch Pläne, nicht in beruflicher Hinsicht und nicht auf der Beziehungsebene. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, aufgrund des erwarteten frühen Todes musste ich mich um solche Gedanken nie kümmern, was definitiv auch seine Vorteile hat. Ich ging einfach davon aus, dass ich in dem nun erreichten Alter ungefähr sterben würde und bis dahin allein mit der Bewältigung meiner Krankheit mehr als genug zu tun hätte.

So hatte ich bis hierher zumindest genug Zeit, mich auch um den Reiz des anderen Geschlechts zu kümmern und habe inzwischen mit 23 Jahren meine zweite Freundin. Sie ist zugleich meine erste große Liebe. Wir sind nun schon vier Jahre zusammen. Es steht mir jedoch eine Zeit der Veränderungen bevor, und zwar so ziemlich in jeder Hinsicht.

Alles fängt mit einem Artikel an, den mir meine Mutter zeigt. Er handelt davon, dass in Gran Canaria für CF-Betroffene eine sogenannte Klima-Kur angeboten wird. Ich kann mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Bild davon machen und rufe kurzerhand den Leiter der Kur an, der selbst CF hat, um mich genauer zu informieren. Die erteilten Auskünfte und das Telefongespräch wirken auf mich sehr sympathisch. Ich entscheide ohne lang zu überlegen, an diesem dreiwöchigen Trip am Meer teilzunehmen. Wie sich später herausstellt, scheine ich zu Gran Canaria sowieso eine besondere Beziehung zu haben. Sicher kein Zufall, dass dort auch bereits meine ersten wirklichen Ferien mit meinen Eltern waren.

Am Flughafen angekommen und von meiner Freundin verabschiedet, warte ich nun also beim Treffpunkt auf die anderen Teilnehmer und das ganze Betreuungsteam. Dieses setzt sich zusammen aus einem Arzt, drei Physiotherapeuten und dem Leiter. Ich bemerke allerdings nicht, dass bereits andere Leute beim Treffpunkt sind. Schließlich kenne ich noch niemanden und bis zu diesem Zeitpunkt habe ich auch noch keinen Kontakt zu anderen Menschen mit CF gehabt, geschweige denn viel über meine Krankheit selbst gewusst.

Wie sich aber herausstellt, sind die anderen Wartenden alles CF-Betroffene, die auf den Beginn derselben Kur warten. Ich kann es kaum besser ausdrücken, als zu sagen, dass ich etwas schockiert bin von der kranken Ausstrahlung, die mir da entgegenstrahlt. Es sind aber alles sehr nette Menschen.

Noch viel lustiger ist jedoch, dass keiner der Anwesenden realisiert, dass ich ein CF-ler bin, da man mir dies auf den ersten Blick überhaupt nicht ansieht. Normalerweise sind die Betroffenen dünn und in der Haltung nach vorne etwas eingeknickt, oft bleich im Gesicht. Naja, wie soll ich sagen, man sieht es vielen einfach an, dass sie diese Krankheit mit sich tragen. Ich aber habe zu diesem Zeitpunkt ordentlich etwas auf den Rippen, und zwar an Muskelmasse. So wiege ich 85 kg bei einer Körpergröße von 1.85 m und das mit einem Körperfettanteil von knapp 10 Prozent. Dies ist das Ergebnis aus jahrelangem disziplinierten Krafttraining. Entsprechend strahle ich auch nicht gerade „den Kranken“ aus.

Jetzt erst fällt mir das aber auf, vorher habe ich mich aufgrund fehlender Kontakte zu anderen Erkrankten immer mit den Gesunden verglichen. Jetzt weiß ich aber auch, weshalb mich ehemalige Schulkollegen nicht mehr wiedererkennen. Ich habe kaum bemerkt, dass ich zum Mann herangereift bin und mich zudem körperlich sehr stark verändert habe.

Ich gehe auf die Person zu, bei welcher ich in der Zwischenzeit beim genaueren Beobachten feststellen konnte, dass es sich um den Leiter der Kur handelt, und stelle mich vor. Der Empfang ist sehr herzlich und die ersten Gesprächspartner schnell gefunden. Zwei etwa gleich alte Jungs, die bereits gut miteinander befreundet sind, laden mich direkt nach dem Einchecken des Gepäcks auf ein Bier ein. Ich nehme die Einladung gerne an, und so fühle ich mich bereits mitten im Lager angekommen und gut aufgehoben.

Die Kur stellt mein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf und ich muss mich diesbezüglich zuerst wieder zurechtfinden. Ich lerne dabei meine Krankheit erstmals so richtig im Detail kennen. Die Begegnungen sind sehr positiv und den sozialen Austausch empfinde ich als bereichernd. Nichtsdestotrotz ist es für mich, als wäre ich von heute auf morgen in eine andere Welt katapultiert worden. Eine Welt so anders von jener, in der ich aufgewachsen bin. Wo mir der Kopf steht, weiß ich zu dieser Zeit nicht so genau. Bereits am ersten Abend wird erklärt, dass jeder seine Therapie, sprich die Inhalationen auf dem eigenen Zimmer, durchzuführen habe. Als ich dazu nochmals nachfrage, schauen mich alle mit fragenden Blicken an. Ich habe weder ein Inhalationsgerät dabei noch weiß ich, wann ich ein solches zum letzten Mal in meinem Leben benutzt habe. Entsprechend geht das Gelächter los, es ist allerdings sehr herzlich. Was meine Krankheit betrifft und wie damit umzugehen ist, kann ich zu diesem Zeitpunkt sehr viel von den anderen Teilnehmern lernen. Das Ganze hat allerdings auch seine Kehrseite, denn wie bereits erwähnt, stellt es meinen bisherigen Alltag komplett auf den Kopf. Zusammengefasst ist es aber eine sehr schöne und intensive Zeit in den 3 Wochen.

Das nach Hause kommen fühlt sich in etwa so an, als ob ich wieder mitten in der Pubertät angekommen wäre. Ich habe zwar viele tolle Erinnerungen und neue Erkenntnisse auf Gran Canaria gewonnen, durfte Freunde fürs Leben gewinnen, weiß jedoch noch fast weniger als zuvor, wie ich das weitere Leben bewerkstelligen soll. Durch Zufall ergattere ich einen Gelegenheitsjob als Barkeeper in einem Club. So führe ich meine bisherige Tätigkeit auf dem Bau weiter stundenweise bezahlt im Teilzeitpensum aus und arbeite 2-3 Abende pro Woche zusätzlich hinter der Bar.

Ich bin jetzt also 25 Jahre alt, arbeite bereits das zweite Jahr hinter der Bar und bin schon das dritte Mal bei der Klima-Kur auf Gran Canaria im November dabei. Die Wege meiner Freundin und mir trennen sich hier. Wir waren beide sehr jung, als wir zusammenkamen, haben uns beide in eine andere Richtung entwickelt und nun beschlossen, die schönen Erinnerungen mitzunehmen und die nächsten Abschnitte unseres jeweiligen Weges alleine zu gehen.

So genieße ich nun das erste Mal ein richtiges Single-Leben. Die Arbeit hinter der Bar lädt hierfür geradezu ein. Ich lasse kaum eine Gelegenheit aus, die Angebote und Flirts anzunehmen. Das erste Mal lasse ich so richtig die Sau raus und hole mir was ich will, um meine Bedürfnisse zu stillen. Vordergründig sind die sexuellen Bedürfnisse. Natürlich sind aber die Bettgeschichten nur das Mittel zum Zweck und ein Symptom des eigentlichen Bedürfnisses. Viel mehr als nach sexueller Betätigung suche ich nach Anerkennung und Bestätigung. Nichtsdestotrotz bin ich ein Mann und ein Teil in mir genießt mit allen Sinnen, was mir bezüglich der Frauenwelt widerfährt, habe ich doch noch vor ein paar Jahren gehofft, überhaupt einmal intimen Kontakt zu erleben.

 

Ich lebe zurzeit also in Saus und Braus und stecke mitten in der Partyszene drin. Ich werde sogar von einer Schweizer Reisegruppe als Animator in Ibiza engagiert, wo ich dreimal je eine Woche mitfliege. Die Gesundheit vernachlässige ich dabei allerdings beachtlich. Ich trinke auf Partys viel Alkohol, rauche zwischendurch Zigaretten und probiere sogar einige Drogen aus, namentlich Marihuana, Kokain und Ecstasy. Außer dem Krafttraining mache ich kaum Sport oder achte sonst auf mich. Meine Gesundheit verschlechtert sich dementsprechend stetig und bald kann ich nicht mehr verbergen, dass ich tatsächlich krank bin, besonders auch nicht mehr vor mir selbst.

Es wird klar, will ich weiterleben, muss mein Leben wieder geordnet und die Perspektiven neu bestimmt werden. Diesen Entschluss zu fassen ist jedoch nicht ganz einfach.

Langsam beginne ich zu erkennen, dass mein bisheriges Credo, jeden Augenblick auszukosten, da es der letzte sein könnte, nicht nur positiv war. Denn so buddhistisch das auch klingen mag, in meinem Fall versteckt sich dahinter auch ein wenig die Flucht vor der Auseinandersetzung mit meinem eigenen Leben und mir selbst. Dieser Wechsel ist ein Prozess und kommt mit viel Unangenehmen daher, dazu später mehr. Aber zuerst weiter in meiner Lebensgeschichte.

Während diese Erkenntnisse also langsam in mir heranreifen, steht ein weiteres Jahr auf Gran Canaria an. Mittlerweile ist die Insel zu meiner zweiten Heimat geworden und nach der anfänglichen Aufregung, hat sich auch der Kur-Alltag für mich normalisiert.

Ich lerne dort eine deutsche Reiseleiterin kennen und verliebe mich ziemlich schnell in sie. Der Abschied nach drei Wochen ist der Übliche in solchen Situationen und wir versprechen uns beide, den Kontakt aufrecht zu erhalten und offen dafür zu sein, was die Zukunft bereithält.

Die liebe Zukunft. Zurück in der Schweiz habe ich hierzu noch immer keine besonderen Perspektiven und Ziele. Entsprechend leicht und intensiv kommt die Idee auf, nach Gran Canaria zurückzugehen, bzw. für unbestimmte Zeit dort zu bleiben und einen Job zu suchen. Es vergehen einige Wochen und Monate. Der Kontakt zwischen meiner Bekanntschaft und mir wird immer weniger und eines Tages teilt sie mir mit, sie habe einen neuen Mann kennengelernt. Dummerweise ist mein Flug zu diesem Zeitpunkt bereits gebucht, die Wohnung gekündigt und das Auto verkauft. Die Dame bietet mir freundlicherweise an, sie würde mir trotzdem helfen, einen Job zu suchen, falls ich den Flug antreten möchte. Ich lehne dankend ab. Danach geht es mir ziemlich schlecht. Alles hatte ich auf diese Karte gesetzt und bin nun völlig orientierungs- und ahnungslos, wie es weitergehen soll. Zum Glück rüttelt mich ein guter Freund von mir auf. In diesem Moment meines Lebens realisiere ich endgültig, dass es nichts bringt in Selbstmitleid zu versinken und ich trotz meiner Krankheit Verantwortung für mich und mein Leben übernehmen möchte. Und dazu passt nach Gran Canaria wegen einer verflossenen Liebe abzuhauen nicht gerade. So bleibe ich da.

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