"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"

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From the series: Forum Modernes Theater #48
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Die soziale Landschaft der Praxis

Die Praxislandschaft resultiert aus unterschiedlichen Partizipationsmodi, die sich zwischen lokalen Interaktionen und globaler Partizipation bewegen. Um die drei wichtigsten Formen oder Mechanismen der Partizipation zu beschreiben, verwendet Wenger die Begriffe Beteiligung (engagement), Vorstellung (imagination) und Ausrichtung (alignment). Während die Beteiligung eine aktive Mitwirkung bei zeitlich, räumlich und psychologisch markierten Bedeutungsaushandlungsprozessen bezeichnet, weist die Vorstellung auf einen kreativen Prozess hin, der die menschliche Erfahrung nutzt, um Weltbilder zu schaffen und Verbindungen durch Raum und Zeit aufzuspüren. Solche über die Beteiligung hinausgehende Bilder und Beziehungen werden zu Grundbestandteilen des Selbstbewusstseins sowie der individuellen Auslegung der eigenen Partizipation an der Sozialwelt. Es ist auffällig, dass sich Wenger dabei auf Benedict Andersons Vorstellungsgedanken beruft (Wenger 2000: 228). Die Vorstellung diente Anderson zum Modell, um die Entstehung gemeinschaftsbildender Beziehungen bzw. Nationen in der Moderne zu erklären.1 Die Vorstellung einer begrenzten und souveränen Gemeinsamkeit existiere zwar ohne direkte Begegnung und aktive Mitbeteiligung der Mitglieder, wurzele zugleich aber im soziohistorischen Kontext: Als Entität, die sowohl Individuen als auch deren kleine Gemeinschaften einbezieht und zugleich über diese hinausgeht, entspricht die Vorstellung einem Wechselspiel zwischen Erfahrungen, Projekten, Selbstdarstellungen, Gefühlen und Bedingtheiten, welches immer neue Identitätsbeziehungen herstellt. Wenger bekräftigt den Standpunkt Andersons, indem er feststellt, das Hauptmerkmal der Vorstellung sei, dass:

it is anchored in social interactions and communal experiences. It is a mode that always involves the social world to expand the scope of reality and identity. Because imagination involves unconstrained assumptions of relatedness, it can create relations of identity anywhere, throughout history, and in unrestricted number. (1998: 178)

Diese theoretische Öffnung zur Translokalität2 hat selbstverständlich ihr praktisches Pendant: Beteiligung und Vorstellung wirken zusammen als ein Mechanismus paralleler Einbindung und Entbindung. Die Beteiligung führt zur Herstellung von CoPs, die Vorstellung hingegen ermöglicht dem Subjekt, von seiner Beteiligung Abstand zu nehmen und diese durch die Augen eines Außenstehenden zu sehen. Kurzum, die Verknüpfung von Beteiligung und Vorstellung ergebe eine »reflective practice«, welche zwei Fähigkeiten kombiniert: einerseits die Fähigkeit, sich mit einem gemeinsamen Projekt zu identifizieren, andererseits die Fähigkeit, das Projekt in seinem translokalen Kontext zu betrachten (218). Jeder Akteur gehe also mit Grenzen und Peripherien insofern produktiv um, als er seine Identität(en) mitspielen lassen und suspendieren kann. Individuen seien sowohl in lokale Lerngemeinschaften als auch in translokale Netzwerken eingebettet, die Prozesse kulturellen Austauschs und Transfers fördern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also nicht mehr einheitliche Akteure, sondern Trägergruppen, die in einem dynamischen Aktions- und Erfahrungsraum translokale bzw. transkulturelle Komponenten ständig miteinander verbinden und diese als wandelbare Einheit bilden. Mitglieder solcher Trägergruppen oder Trägerinstitutionen sind Individuen, welche ihre eigene Identität selbst als transkulturell empfinden: Die transkulturelle Fähigkeit, sich durch unterschiedliche Sozialwelten zu bewegen und das jeweils spezifische Wissen zu übertragen, um potenziell immer neue mögliche Identitäten zu realisieren, prägt die Menschen seit der Neuzeit.3 Obwohl Wenger das Präfix „trans“ im Bereich des Translokalen, Transnationalen oder Transkulturalen nie benutzt, verweist die von ihm theorisierte soziale Landschaft der Communities of Practice auf den pragmatischen Ansatz translokaler Sichtweise, der Phänomene der Kontaktzonen berücksichtigt und Übertragungs- und Abneigungsprobleme in den Vordergrund stellt. Wengers Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung – der letzte Begriff bezeichnet einen Koordinationsprozess von Kräften und Tätigkeiten, welcher das Subjekt darauf vorbereitet, sich an breitere Sozialstrukturen anzupassen und dadurch an umfangreicheren Projekten teilzunehmen4 – bilden eine Wissens- und Identitätsstruktur ab, die Praxisbeziehungen nicht zwischen Lokalem und Globalem aufbaut, sondern zwischen verschiedenen Örtlichkeiten, zwischen effektiven und imaginierten Räumen, wie diese eine globale Dimension erschließen.

So ist es kaum verwunderlich, dass der Identifikationsprozess für Wengers situiertes Lernen zentral ist. Identifikation sei nämlich ein Prozess, durch den die Partizipationsmodi zum konstitutiven Teil menschlicher Identität werden, indem sie Bindungen oder Differenzierungen herstellen, für die man sich einsetzen kann (208ff.). In dieser Hinsicht deute die Identifikation auf den konstitutiven Charakter der CoP und der Konturen von Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft für die menschliche Identität hin. Die Anwesenheit unterschiedlicher Sozialformen von Partizipation, welche die Grenzen einer gewissen Region transzendieren, führt zur Proliferation translokaler Erfahrungen, die Deterritorialisierungs- und Relokalisierungsprozesse charakterisieren.5 Der Kontext jedes Partizipationsmodus setzt also eine spezifische Identifikation voraus,6 so dass die Identitätsbildung die besondere Aufgabe erfüllt, direkte sowie indirekte Erfahrungen, konkrete sowie symbolische Aushandlungen und Auseinandersetzungen in ein kohärentes Selbstbild und Fremdbild aufzunehmen. Sie bringt den Versuch jedes Individuums zum Ausdruck, seine alltägliche Praxis innerhalb der lokalen Gemeinschaften mit weltumspannenden Phänomenen zu verbinden und diese zwei Bereiche einander gegenseitig zu interpretieren, zu übertragen und einzuverleiben. Der De- und Reterritorialisierungsprozess sozialer Beziehungen und Praktiken, in dem jeder seine Einzelidentität konstituiert, resultiert somit aus der Wahrnehmung der sozialen Welt durch die unterschiedlichen – doch zugleich komplementären – Mechanismen der Partizipation. Themenkreise, denen eine Forschung aus transnationaler oder transkultureller Perspektive nachgeht, sind demnach alle »über den Nationalstaat hinausreichenden Interaktionen, Verbindungen, Zirkulationen, Überschneidungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und Institutionen jeder Art […], sei es in Form von sozialen Praktiken, Symbolsystemen oder Artefakten« (Patel 2008: 77f.). Hierzu könnte Pierre Bourdieus Auffassung von „sozialem Raum“7 die praktische Auswirkung der Translokalität näher beleuchten: Neben den eindeutig lokalisierten sozialen Wirklichkeiten gibt es eine relationale Ordnungsvorstellung, die sich als abstrakte Raumkonzeption ergibt. Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung vom Sozialraum geht also aus einem doppelten Produktionssystem hervor: einerseits aus einer objektiven Perspektive her, durch welche die in einer Gemeinschaft ausgehandelten Artefakte und Symbole nicht isoliert, sondern in elementaren Verkoppelungen wahrgenommen werden; andererseits aus einer subjektiven Perspektive her, durch welche die objektiven Strukturen der sozialen Welt inkorporiert werden. Wenn man Ludger Pries’ „transnationale soziale Räume“ bedenkt (1996), kann man diese translokale Raumvorstellung als Zeichen dafür betrachten, dass soziale Beziehungen und Verflechtungszusammenhänge existieren, die »geographisch-räumlich diffus« sind (456) und die sich zwischen und oberhalb der lokal-regionalen Sozialräume aufspannen. Dies ist so zu verstehen, dass Menschen Vorstellungen über Räume benötigen, um ihre Praxen aus der Umwelt abzugrenzen und mithin zu bestimmen,8 und Vorstellungen über soziale Praxen benötigen, um die Räumlichkeit zu erfassen, in der sie handeln bzw. sich als Identität definieren. Erst in einem translokalen Handlungsspielraum entfalten sich die Wirkungen einzelner Subjekte und zugleich die Ressourcen, die Bedeutungen und Wissenssegmente, die ständig ausgehandelt und genutzt werden können. Der Blick auf die Translokalität hat demnach die Funktion, »ein Denken in Strukturen durch eines in Strömen ( flows, streams)« zu ergänzen (Osterhammel 2001: 474), d.h. neben der historischen, sozialen und ökonomischen Situiertheit des Wissens auch neue bewegliche Formationen einzubeziehen, die intensive Austauschbeziehungen, produktive Durchmischungen seitens der Träger und Austauschvorgänge in vielen Bereichen zu umfassen.

Ein letztes, mit der „sozialen Landschaft“ verflochtenes Element, das man hervorheben muss, bevor man sich mit dem Lebenszyklus einer CoP beschäftigt, ist die Reflexion über die unterschiedlichen Verläufe der Einzelidentität (trajectories). Unter diesem Begriff verstehet Wenger weder ein Endziel noch einen festgelegten Weg, den man vorhersehen kann. Vielmehr bezeichnet das Wort einen Bezugspunkt, der für die zeitliche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sorgt (1998: 154). Indem das Subjekt eine Reihenfolge von Partizipationsformen durchlebt, zeichnet seine Identität immer unterschiedliche Verläufe auf, sowohl innerhalb als auch quer über Lerngemeinschaften. Das bedeutet, dass mehrere Typologien von Identitätsverläufen existieren – wie etwa periphere, eingehende, innere Trajektorien, Grenztrajektorien oder ausgehende Trajektorien – und dass jede Einzelidentität eine Vergangenheit und eine Zukunft mit sich bringt. Identität sei demnach nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit bezogen. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig.9 Das Lernen, das durch Communities of Practice erfolgt, stellt eine Geographie möglicher Verläufe dar – und zwar den Vorschlag einer Identität: »Learning communities will become places of identity to the extent they make trajectories possible – that is to the extent they offer a past and a future that can be experienced as a personal trajectory« (215). Durch die Partizipation an multiplen Praxissystemen handeln alle Menschen ihre Trajektorien aus, greifen ihre Identitäten ineinander. Eröffnen Lerngemeinschaften eine Reihe möglicher Verläufe, dann setzen sie Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung zusammen in Gang. Wie Wenger nachdrücklich sagt, nimmt die Beteiligung eigener Identität auch Vorstellung und Ausrichtung auf: »[E]nvisioning these possible futures and doing what it takes to get there« (2000: 241). Das Netzwerk von CoPs muss das Individuum befähigen, ein hohes Maß an lokalem Zusammenhang, globaler Ausdehnung und sozialer Effektivität zu gewinnen. Selbstverständlich bringt die Aushandlung von Trajektorien eine Zusammenkunft von Generationen mit sich, was Wenger als besonders produktiv einschätzt. Er erkennt ausdrücklich an, eine solche Zusammenkunft sei wahrlich ein Treffen, »in which generations attempt to define their identities by investing them in different moments of the history of the practice« (157f.). Die Zeitlichkeit der Identität in der Praxis ist also weder bloß individuell noch linear-deterministisch, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenseitig verzahnten Verläufen verkörpert sind. Diesbezüglich bietet die Forschungsperspektive Wengers die Gelegenheit, zwei gegensätzliche Aspekte mit neuen Instrumenten zu analysieren. Zum einen können Raum und Zeit als Sozialformen betrachtet werden, welche den situationsbezogenen Einsatz, die Vorstellung und Ausrichtung des weltweiten Spektrums der Träger und Akteure hervorbringen. Raum und Zeit werden somit zu Zentralkategorien jeder Art von Untersuchung, sofern sie eine soziale Landschaft mit fließenden Grenzen bilden, in deren Disjunktionen jedes Individuum Bedeutungen und Identitätsmöglichkeiten aushandeln kann. Diese Kategorien sind daher nicht absolut, sprich vorgegeben, sondern historisch, politisch, ökonomisch, kulturell von jeweils unterschiedlichen Agenten markiert. Obschon Einzelakteure immer an Communities of Practice partizipieren, stehen sie mit ihrer Situiertheit im Fokus der Aufmerksamkeit: Es sind Einzelakteure, die letztendlich die soziale Landschaft wahrnehmen und diese (um)gestalten.10 Selbst der Begriff Identität enthält die Erfahrung von Multimitgliedschaft und die Tätigkeit, alle wahrgenommenen Anhänglichkeiten und eigenen Identitäten in eine Ganzheit zusammenzuführen. Zum anderen kann man Generationen nicht nur als „imagined communities“ auffassen,11 sondern auch als komplementäre Faktoren zum Transport, zur Adaption sowie zur Neubestimmung des Wissens innerhalb und durch CoPs. Eine Generation ist nicht einfach ein Konstrukt, eine Projektionsfläche kollektiver Phantome, Selbstbilder und Erwartungen, die sich als imaginäre Gemeinschaft profiliert, sondern vielmehr die Verkörperung einer spezifischen gemeinsamen Praxis, die in Beziehung mit der Geschichte anderer Generationen steht. Mit anderen Worten: ein derartiges Generationskonzept ermöglicht, sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten als Kategorien auszumachen. Kontinuität taucht in der Aufeinanderfolge von Illusionen, Projekten oder Deutungen auf, Diskontinuität finde man in den soziopolitischen und kulturellen Verhältnissen, in den realen Rahmenbedingungen, welche »die Chancen generationeller Autopoiesis bestimmen und anscheinend zunehmend begrenzen« (Niethammer 2009: 37). Erst in der Durchdringung von Generationen erkennt das Individuum die Befangenheit sowie die erforderliche Gebundenheit, die Grenzen sowie die Ausweitungsmöglichkeit seiner eigenen Erfahrung in der sozialen Welt. Diese Auffassung zieht die zwei Dimensionen des Generationsbegriffs in Betracht, und zwar einerseits dessen synchronische Ausdehnung, welche »Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung« entspricht, und andererseits dessen diachronische Ausdehnung, welche die Generativität bzw. die Genealogie betrifft (Weigel/Parnes/Vedder/Willer 2005: 7). Die Generation als Selbstverständnis und zeitgleich als Prägekraft im Prozess des Erwerbes und der Erzeugung von Wissen stellt ebendaher das Spannungsverhältnis zwischen Einrichtung und Transformation der Praxen dar, das sich allein wirksam erweist.

 

Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität

Was mich an Kutscher immer begeisterte, war die lebhafte Art seines Vortrags. Sein Mit-Dabei-Sein versetzte auch seine Hörer in Stimmung und brachte ihnen Epochen und Persönlichkeiten nahe. […] Wenn Kutscher las, wurde der Hörsaal immer etwas Bühne. (Regimius Netzer in Günther 1953: 181)

Damit die Entwicklung einer CoP genauer gefasst werden kann, gliedert Wenger u.a. deren Lebenszyklus in fünf prägende Phasen oder Momente, die von einer jeweils unterschiedlichen spannungsgeladenen Beziehung zwischen den Grundbestandteilen gekennzeichnet sind. Auch wenn dieser Phasenablauf zu streng erscheint, um die effektive Entfaltung der Münchner Theaterwissenschaft zu erklären,1 ist es immerhin brauchbar, die Entwicklungsmerkmale jeder Phase zusammenzufassen: Sie verweisen nämlich auf die wechselnden Herausforderungen der Mitglieder und des Koordinators einer CoP sowie auf das temporale und räumliche Spannungsfeld, in dem die Praxis selbst immer wieder definiert wird. Im Gewebe der Entwicklungsstufen eines kooperativen Lernens kann außerdem die Rolle der Lehrtätigkeit hervorgehoben werden, was uns auf die Figur Artur Kutscher zurückführt. Kutschers Fokussierung auf die Ausbildung der SchülerInnen bzw. seine pädagogische Berufung wird sich schließlich als ein grundlegendes Element erweisen, um in der neugeborenen praxisbezogenen Disziplin das spezifische, kollektiv erarbeitete Wissen zu tradieren, zu erneuern und aktiv für die Aufgabenerfüllung anzuwenden.

Die erste Lebensphase einer Lerngemeinschaft fällt mit seiner Gründung zusammen; es handelt sich also um eine Phase, in der das Potential der entstehenden Gemeinschaft bekannt wird und sich systematisch zu organisieren beginnt. Man braucht selbstverständlich Planungswerkzeuge und Gründungsaktivitäten, um aus einem losen Personennetzwerk eine strukturierte, praxisorientierte Gruppe zu bilden. Der Ursprung einer CoP liegt aber nicht in einem Leerraum: Die mitbeteiligten Subjekte haben nämlich schon etwas Gemeinsames sowie Beziehungen zueinander, »[t]hey start to see their own issues and interests as communal fodder and their relationships in the new light of a potential community. As the sense of a shared domain develops, the need for more systematic interactions emerges and generates interest« (Wenger/Snyder 2000: 71). Aus diesem Knotenpunkt heraus taucht eine Person auf, die für den Start der gemeinsamen Praxis die Verantwortung übernimmt. Das herauszuholende Potential stellt den Gemeinschaftsmitgliedern eine Spannungssituation vor: Alle Teilnehmer müssen die Entdeckung nutzbarer, bereits vorhandener Elemente, gemeinsamer Probleme und einer geteilten Geschichte mit der Vorstellung einer künftigen Mission balancieren. Die Identifikation gemeinsamer Forderungen an Wissen und Handeln führt zur Aushandlung sowohl von Ressourcen als auch von Visionen, so dass die Lerngemeinschaft eine bestimmte Trajektorie annimmt. Eine zweite Stufe im Leben der CoP entwickelt sich aus der Verschmelzung der Mitglieder sowie ihrer Aktionsprinzipien. Die entstehende CoP ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine konkrete Gruppe zu bilden und sich nach Außen hin zu profilieren. Der anfängliche Enthusiasmus kollidiert notgedrungen mit der Realität des strukturellen Aufbaus, der Vertrauensgewinnung unter den Mitgliedern, der Interaktionsfähigkeit und der Förderung des Ideenaustauschs. Da solche dem Zusammenwachsen dienende Aktivitäten keinen unmittelbaren Nutzen bringen, kann die Beteiligung der Mitglieder stark sinken und somit der interne Zusammenhalt zerrissen werden. In diesem Moment ist ein Gleichgewicht zwischen der für die Entwicklung erforderlichen Etablierung von Beziehungen, Ritualen sowie Interaktionen und der konkreten Wertschaffung herzustellen. Wenn eine CoP diese Lebensphase übersteht, dann beginnt das Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen zu funktionieren: Die praxisorientierte Gemeinschaft nimmt stufenweise feste Gestalt an und wird zu einem Fixpunkt für die Erlebnisse der Mitglieder. Die dritte Phase besteht folglich im Reifwerden: Nachdem sie den Wert des gemeinsamen Lernens festgestellt hat, muss die Gruppe das ausgehandelte Projekt näher bestimmen und eine stärker auf die Gemeinschaft fokussierte Identität bilden. Die Mitglieder entwickeln ihr Selbstverständnis als aktive Teilnehmer, steigern mithin ihr Engagement und verleihen der Arbeitsgruppe eine hohe Dynamik. In dieser Phase beschäftigt sich die Lerngemeinschaft damit, die eigenen Ziele zu klären, Standards für die Problemlösung und Routineoperationen festzulegen, Wissenslücken zu finden und auszufüllen, das gemeinsame Wissen effizient zu organisieren und die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die zwei gegensätzlichen Forderungen sind daher die kräftige Expansion und die systematische Fokussierung bezüglich zentraler Themen und Zwecke. Man könnte sogar behaupten, das innere Wachsen entspreche einem Modernisierungsprozess, einer Wiederaufnahme schon ausgehandelter Bedeutungen und Praxisressourcen in Anbetracht der umliegenden Sozialwelt. Die folgende Entwicklungsphase ist dann jene der Festigung, die durch eine fortwährende Transformation gekennzeichnet ist. Die Gemeinschaft reagiert auf die Umwelt und gestaltet diese zeitgleich: »The strength of communities of practice is self-perpetuating. As they generate knowledge, they reinforce and renew themselves« (Wenger/Snyder 2000: 143). Einerseits entwickelt sie ihre Methoden weiter, um das gewonnene Wissen zu expandieren, und sucht andere Kontexte, um dieses zu überprüfen und umzusetzen. Aus diesem Grund öffnet sie sich Newcomern und erarbeitet neue Ansätze. Andererseits versucht die CoP, dank der gewonnenen Relevanz im eigenen Wissensgebiet andere Lerngemeinschaften oder größere Organisationen zu beeinflussen. Die Mitglieder versuchen also, den Lernprozess in der Gesellschaft intensiv zu nutzen. Ein Spannungsverhältnis entwickelt sich in dieser Hinsicht zwischen der gezielten Offenheit und den Eigentumsansprüchen langzeitiger Mitglieder, die Angst davor haben, in der breiteren Gemeinschaft ihre Führungsrolle und ihren Einfluss zu verlieren. Die letzte Entwicklungsstufe trägt den viel sagenden Namen „Umwandlung“, der eine tiefgründige Transformation oder sogar das Ende der CoP bezeichnet. Auslösende Faktoren können ein nicht mehr aktueller Wissensstand, ein übertriebener Tätigkeitsdrang, eine fehlende Identifikation der Mitglieder mit der geteilten Praxis und dem Projekt, strukturelle Veränderungen oder die Verstreuung der Mitglieder in andere Lerngemeinschaften sein. Die Herausforderung besteht also darin, die Spannung zwischen der Auflösung der ganzen Gemeinschaft und der Fortführung als Erbe für andere Communities of Practice abzubauen. Wie jeder andere lebende Organismus kann auch eine Lerngemeinschaft wegen interner Schwächen oder mangelnder Funktionstüchtigkeit sterben. Darum

[t]he very qualities that make a community an ideal structure for learning – a shared perspective of a domain, trust, a communal identity, long-standing relationships and established practice – are the same qualities that can hold it hostage to its history and its achievements. The community can become an ideal structure for avoiding learning. (Wenger/McDermott/Snyder 2002: 141)

Eine aufgelöste CoP kann nichtsdestotrotz in der Erfahrung der Mitglieder weiterleben und als Ansatzpunkt für eine Fusionierung oder für eine Neugründung genutzt werden.

Was aus dem erörterten Lebenszyklus klar hervorgeht, ist die Positionierung von Communities of Practice – als Lerngemeinschaften – im Prozess sozialer Umgestaltung. Die Tatsache, dass Lernende alle Beziehungen von Identifikation und Aushandlung innerhalb einer teils konkreten teils imaginierten Landschaft immer neu konfigurieren, ist ebenso wichtig für das Lernen wie der Zugang zu Informationen. Die Umgestaltung betrifft also nicht nur von Mal zu Mal die lokale Praxis, sondern auch ihre translokalen Einbeziehungen: Lernen sei demnach »a way of being in the social world, not a way of coming to know about it. Learners, like observers more generally, are engaged both in the contexts of their learning and in the broader social world within which these contexts are produced« (Hanks 1991: 24). Insgesamt lässt sich also resümieren, dass die Teilhabe an CoPs den Lernprozess ermöglicht und dass Lernen seinerseits ein Mittel zum Ausbau der Teilhabe an CoPs ist. Beim Lernen handelt es sich um einen erweiterten Zugang zur Performance, und zwar um den Vollzug bestimmter Aufgaben, gemeinsam getroffener Entscheidungen, etablierter Formalitäten und Riten. Erst durch die Teilnahme an einer CoP werden die Lerngegenstände und -werkzeuge relevant und es können sich neue Lerninhalte entwickeln. Das gemeinsame Lernen führt somit die Subjekte dazu, notwendige Expertisen und Fertigkeiten zu erschließen und diese durch die selbsterlebten Ereignisse zu ergänzen. Der Erfolg des Koordinators einer CoP geht also mit seiner Fähigkeit einher, das spezifische Wissensgebiet und die Partizipation an der gemeinsamen Praxis so zu strukturieren, dass jedes Mitglied seinen Spielraum im und durch den Lernkontext hat. Die ständige wechselseitige Bereicherung zwischen der individuellen Lebenserfahrung und dem gemeinsamen Handeln dient der Entwicklung sowohl von den Einzelpersönlichkeiten als auch von der Lerngemeinschaft.