Tag der Drachen

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Zwei Frauen und ein Mann baten nachdrücklich um eine Audienz bei dem Kaiser. Als diese nicht gewährt wurde, baten die Frauen die Kaiserin zu sprechen. Als auch dies nicht gewährt wurde, schmiss sich die jüngere Frau zu Boden und flehte um Nachsicht. Hong Li rief von der Mauerkrone aus hinunter, was denn der Grund für eine Audienz beim Kaiser sei. Da erwiderte das Mädchen „Hoheit, mein Vater wurde zu Unrecht gefangen. Ich möchte für ihn sprechen und das Unrecht klären. Bitte lasst mich zu Eurem Vater vor oder wenigstens zur Kaiserin.“

Hong Li war erstaunt, dass ihn das Mädchen scheinbar erkannt hatte. Das machte ihn neugierig. Er wies den Wächter an, die zwei Frauen zu seiner Mutter zu bringen. Der Mann sollte so lange vor dem Tor warten. Die Pferde wurden vorübergehend beschlagnahmt. Hong Li entschuldigte sich bei Baihu und Shi Yan. „Ich muss der Sache nachgehen und komme bald wieder.“

Schnell war er im Palast der Kaiserin. Im hinteren Wohnbereich aß die Kaiserin gerade zu Mittag. Die Bittsteller waren noch nicht da. Die Kaiserin freute sich sehr über den Besuch des Sohnes und fragte ihn, ob er etwas mitessen wolle. „Nein danke, ich habe ein anderes Anliegen. Gleich kommen zwei Frauen, die dir ein Problem vortragen. Ich kenne das Mädchen, ich weiß aber nicht, woher. Bitte höre sie an. Ich stehe hinter dem Thronsessel und höre mit.“ Kaum dass die Kaiserin den letzten Bissen genommen hatte, begehrte ein Eunuch Einlass und trug die Bitte der Frauen vor. Die Kaiserin gewährte die Audienz als inoffizielle Audienz, also ohne Protokoll.

Die Frauen stürmten weinend vor den Thron, warfen sich zu Boden und flehten um Gnade, für den Herzog Lirong Bao Fuca, dem Präfekten von LINFEN, der kürzlich gefangen genommen wurde. Die Kaiserin erschrak. Sie hatte gehört, dass zwei Rebellen verhaftet wurden. Aber sie wusste nicht, dass dies der Präfekt von LINFEN war. „Lady Gioro Fuca und Xiao Xian, bitte steht auf, das ist ja schrecklich. Wie kann ich euch helfen? Wie kommt ihr nur in diese Lage?“ Erst jetzt erkannte die Kaiserin die Bittsteller. Oft waren sie dort zu Besuch, und ebenso oft war die Familie im Kaiserpalast zu Audienzen bei Kaiser Kang Xi. Lady Gioro erinnerte die Kaiserin an die Zeit, bevor Yun Reng von Kaiser Kang Xi die Verwaltung der Provinz SHANXI erhielt. Bis dahin war die Familie Fuca mit dieser Aufgabe betraut, und sie war immer loyal zum Kaiserhaus gestanden. Der Großvater von Xiao Xian war sogar Finanzminister am kaiserlichen Hof.

Oft waren sich die Familien auch freundschaftlich begegnet, zum Beispiel bei den Treibjagden in ZUNHUA, wo Kaiser Kang Xi mit der Hilfe von Xiao Xians Großvater einen Tiger erlegen konnte. Mit der Ernennung von Yun Reng als Verwalter der Provinz SHANXI wurde die Familie Fuca als Präfekt von LINFEN eingesetzt. Yun Reng war von da an sein Vorgesetzter. Lady Gioro und ihr Mann wussten nicht, dass Hong Li entführt werden sollte. Ihr Mann hatte nur erzählt, dass man Hong Li eventuell als Gast für ein oder zwei Wochen bewirten sollte.

Niemals hätte ihr Mann zugelassen, dass Hong Li etwas zustoßen oder er in Gefahr geraten könnte. Die Kaiserin Xiao Sheng Xian vertraute Lady Gioro. „Das kann nur ein Missverständnis sein. Und ich werde das aufklären.“ In diesem Moment trat Hong Li aus dem Schatten des Throns heraus. „Moment einmal, dieses Mädchen hat mich in LINFEN geradezu ‚überfallen‘, und sie hat mich ‚niedergeschlagen‘“. „Und dann bist du über mich hergefallen“, konterte Xiao Xian. „Ich wusste doch, irgendwoher kannte ich dich“, antwortete Hong Li.

Die Kaiserin und auch Lady Gioro wussten nicht, um was es da ging. Die Kaiserin erinnerte sich aber an die Geschichte mit dem Mädchen, das mit Hong Li über die Häuserecke zusammengestoßen war und von dem Hong Li seine erste Ohrfeige erhalten hatte. „Ach, du warst das Mädchen in LINFEN. Das Mädchen, das einem Prinzen eine Ohrfeige gab. Ach ja … und das Mädchen, das so gut roch …“ Hong Li lief rot an. „Nun, als künftiger Kaiser, welche Strafe würdest du diesem netten Fräulein auferlegen?“ Hong Li stotterte: „Ähmm … ich habe mich noch gar nicht bei dir entschuldigt. Wir konnten uns über Eck überhaupt nicht sehen und sind so zusammengestoßen. Dass ich dann auch noch ausgerutscht und auf dich gefallen bin, das war Pech. Das tut mir wirklich leid. Verzeihst du mir?“ Xiao Xian war seine Freundin. Schon von Kindesbeinen an waren sie gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Er versuchte sie zu umarmen, in der Hoffnung, diesen Duft, der von ihr ausging, ganz tief einzuatmen. Aber Xiao Xian drehte sich zur Seite. Sie war hier, um ihren Vater zu retten. Lady Gioro und Xiao Xian waren noch immer in ihren Wintermänteln eingehüllt. Jetzt entschuldigte sich die Kaiserin für die ungastliche Begrüßung und bot den beiden Damen ein Tasse Tee an. Langsam beruhigte sich die Gesellschaft, und Xiao Xian enthüllte ihren Blumenschmuck aus der Kapuze ihres Umhangs. Sie drückte sich schüchtern an Hong Li, und endlich konnte er den Duft der frischen Natur riechen.

Lady Gioro bat darum, das Thema wieder auf die ernste Lage ihres Mannes zu verlagern. „Hong Li, wie können wir hier helfen?“, fragte die Mutter den künftigen Kaiser. Hong Li schritt auf und ab. „Nun, eigentlich hatten wir ja überhaupt keinen Kontakt mit Präfekt Fuca. Wir waren ja, auf Anraten des Kommandeurs, nach Osten in Richtung CHANGZHI ausgewichen. Der Kommandeur erwartete einen Überfall der Schergen vor TAIYUAN, was ja auch so geschehen ist. Dass der Überfall von Onkel Yun Reng selbst geleitet wurde, entlastet den Präfekten. Bei dem Scharmützel haben die Gegner große Verluste eingefahren, und unseren Soldaten ist nichts geschehen. Auch das spricht für den Präfekten. Vor dem Kaiser hat er beteuert, dass er mich zwar festhalten wollte, aber nur in Form einer Einladung. Aus dem Grund für das Festhalten konnte nur einer profitieren, mein Onkel, der Präfekt Fuca zieht daraus keinen Vorteil. Er hat nur einen Befehl befolgt, wie man das von einem Untertan erwartet hätte. Alles andere wäre eine Befehlsverweigerung, die mein Onkel mit dem Tod bestraft hätte.“ So ähnlich sah es auch die Kaiserin. „Wir haben nur ein Problem: Yong Zheng wird vor seiner Inthronisierung kein Recht sprechen. Präfekt Fuca wird diese Übergangszeit in Gefangenschaft ausharren müssen. Lady Gioro, sorgen Sie bitte dafür, dass Ihr Mann mit ehrlicher Reue und mit Demut die Zeit der Gefangenschaft durchhält. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Mann nicht gefoltert wird und dass er auch sonst gut behandelt und verpflegt wird.“

„Wir werden in zwei Tagen Kaiser Kang Xi nach ZUNHUA überführen. Die Trauerfeier wird fünf Tage dauern, dann erst kann Kaiser Yong Zheng den Thron besteigen und erst dann Recht sprechen. Das ist auch die Zeit, in der wir auf den Kaiser einwirken können. Ich und Hong Li werden das gerne tun. Gerne können Sie sich die Zeit bis zur Rechtsprechung im Gästetrakt des Palastes aufhalten und einmal am Tag Ihren Mann sprechen. Mehr können wir nicht tun.“ Lady Gioro bedankte sich bei der Kaiserin und wurde von einem Eunuchen in ihr Abteil geführt. Xiao Xian ließ Hong Li noch einen tiefen Schnaufer machen, indem sie sich etwas fester an ihn drückte. Es gefiel ihr, dass sie einen gewissen Einfluss auf Hong Li hatte. Und sie fühlte sehr wohl, dass auch sie selbst von ihm angezogen wurde.

Inzwischen war es auch bis zu den Generälen und Kommandeuren durchgedrungen, was die Beamten als würdige Bestattung für den verstorbenen Kaiser Kang Xi vorgesehen hatten. Ein Trauerzug begleitete den Kaiser zu seiner letzten Ruhestätte. Er selbst hatte den Platz ausgesucht. Ungefähr 130 km östlich von PEKING lag sein Lieblingsjagdrevier. Während einer Treibjagd in der Präfektur ZUNHUA im nördlichen Teil der Provinz HEBEI kam die Jagdgesellschaft an den südlichen Fuß der CHANG-RUI-Berge. Dort fand Kaiser Kang Xi ein Tal, das ihm besonders gefiel. Er schoss einen Pfeil in die Luft, und dort wo dieser die Erde berührte, so verkündete der Kaiser, sollten die Grabstätten der QING-Kaiser erbaut werden. 2500 qkm hatte Kaiser Kang Xi dafür vorgesehen. Denn auch seine Nachkommen sollten in diesem Tal Platz finden für sich und für die Kaiserinnen. Das war nun schon mehr als 60 Jahre her. Kang Xi hatte das erste Grab für die Bestattung seines Vaters SHUN ZHI errichten und dann auch gleich an seiner eigenen Grabstätte nach KAN YU planen und bauen lassen.

Der Trauerzug war würdevoll und in Größe und Pomp den großen Verdiensten des Kaisers angepasst. Immerhin war Kang Xi bisher der am längsten regierende Kaiser in der chinesischen Geschichte, nämlich 61 Jahre von 1661 bis 1722. Der künftige Kaiser Yong Zheng achtete aber auch darauf, dass die Kosten für das Begräbnis sich im Rahmen hielten. Kang Xi war sehr reisefreudig und hatte sehr viel Zeit und auch Geld für seine Reisen aufgebracht. Für die 130km-Strecke für die Überführung hatten die Beamten drei Tage vorgesehen. Für die Trauerfeier fünf Tage und wieder drei Tage für die Heimreise. Viel Arbeit wartete in Peking auf den neuen Kaiser Yong Zheng. Da die Straßen nach ZUNHUA gut ausgebaut waren, konnten die Soldaten der kaiserlichen Garde in Vierergruppen und mit zehn Reihen vorausreiten. Die erste Reihe mit großen Seitentrommeln. Dann folgten der künftige Kaiser und die Kaiserin. Eine Gruppe von 20 ZEN-Mönchen folgte als Nächstes zu Fuß. Dann kam der Bestattungswagen mit dem Sarg des verstorbenen Kaisers Kang Xi, der mit den acht Bannern geschmückt war. Der Sarg wurde von einem Sechserpferdegespann gezogen. Dahinter ritten jeweils vier Kommandeure der verschiedenen Banner in den entsprechenden Farben, gefolgt von einem Zweiergespann mit einem Wagen, auf dem eine große Trommel montiert war. Das Lieblingspferd von Kang Xi trottete hinter diesem Gespann her, vom Stallmeister geführt. Nach weiteren zehn Reihen der kaiserlichen Garde folgten Beamte und Generäle. Hong Li ritt an vorderster Stelle, in Dreierreihe mit Shi Yan rechts und auf der anderen Seite Xiao Xian. Darauf folgten die vier Shaolin. Die allgemeine Trauergesellschaft, mit den anderen Prinzen und den Nebenfrauen, den Eunuchen, Zofen und dem gewöhnlichen Volk, schritt ungeordnet hinterher. Je näher der Tross dem Ziel kam, umso mehr Trauernde hingen sich dem Zug an. Am Ende waren es wohl mehr als 500 Trauergäste, die natürlich auch alle verpflegt werden mussten. Der Heimweg war weit ungeordneter. Die Gardesoldaten, Generäle und Beamte ritten mit dem Kaiser voraus. Die Arbeit wartete. Der Rest ließ sich mehr Zeit. Der Kaiserin war aufgefallen, dass Hong Li viel Zeit mit Xiao Xian verbracht hatte. Sie hatten ständig getuschelt und immer wieder die Berührung gesucht. Shi Yan und Baihu hatten Verständnis dafür und sich im Hintergrund gehalten. Sie freuten sich schon auf die Heimreise nach FA MEN SI, auf das Drachennest und auf die Keller des Klosters, in denen noch manches Geheimnis schlummern konnte.

 

Zurück in PEKING wollte sich der Kaiser den Rebellen der Provinz SHANXI widmen, während die Beamten die Inthronisation des Kaisers vorbereiteten. Der Kaiser kannte seinen älteren Bruder sehr gut. Bereits als Kind war er der Aufrührer, der sich keiner Obrigkeit unterordnen wollte. Sein Vater Kang Xi hatte ihn schon einmal zurechtgewiesen und ihn enterbt. Dann aber doch auch wieder Gnade walten lassen und ihm die Provinz SHANXI übergeben. Vorher war diese Provinz dem Kaiser treu ergeben und wurde vom Herzog eines ersten Ranges, Fuca, erfolgreich geführt. Auch der Vater war dem Kaiser treu ergeben und hatte ihm sogar als Finanzminister gedient. Nach wenigen Jahren ist SHANXI zu einer Problemprovinz geworden, mit hoher Korruption und kriminellen Machenschaften. Die Bevölkerung war unzufrieden und rebellierte gegen den Kaiser. Sollte er ein Exempel statuieren? Sollten die zwei Rebellen hängen? Oder sollte er noch einmal nachsichtig sein? Der Gefangene Lirong Fuca hatte die Tat bereut, Yun Reng hatte die Tat verleugnet. Yong Zheng wusste, dass die Minister, Beamten und Generäle nur auf seine Entscheidung warteten, um ihn zu kritisieren, egal wie er entschied.

Yong Zheng saß in einer Nische seines Wintergartens und sinnierte über die Zukunft und über seine Regentschaft. Er hatte einen Plan. Vor allem wollte er die Korruption im Land bekämpfen. Am liebsten würde er seine komplette Mannschaft austauschen und durch loyale, arbeitswillige, junge Leute ersetzen, die sich ihr Brot erst verdienen mussten und nicht an ihrem Sessel festklebten. Auf der anderen Seite wollte er gerecht sein. Jeder, unabhängig von Stand und Herkunft, sollte das Recht bekommen, das er verdiente. Er wollte tatkräftig sein, Volk und das Land voranbringen.

Sparsam an jedem Silbertael, aber großzügig, was Bildung und Kultur betraf. Während er nachdachte, hörte er Kinder lachen. Hong Li und ein Mädchen, das er nicht kannte, schlitterten über den Bachlauf, der durch seinen Garten floss, wenn das Eis geschmolzen war. Es fiel im sofort auf, dass die beiden sich sehr mochten, und er erinnerte sich an seine eigene Jugend. Hong Li bat darum, leise zu sein, da dies hier der Garten des Kaisers sei und er sicher nicht gestört werden wollte. Das Mädchen fragte Hong Li, was er machen würde, wenn er einmal Kaiser wäre. Er schlitterte um sie herum und antwortete spontan: „Wenn ich einmal Kaiser bin, dann werde ich dich heiraten.“ „Du flachst. Ich meine es ernst. Um Kaiser zu werden, musst du erst einmal viel, viel lernen und so weise werden wie dein Vater.“ „Was würdest du als Erstes machen, wenn du der Kaiser wärst?“ Hong Li überlegte kurz. „Ich? Ich würde alles tun, damit mein Volk glücklich ist.“ „Was ist Glück für dich?“ „Glück, hmm … das ist Zufriedenheit, Sorglosigkeit, Gesundheit. Das ist, wenn man etwas Sinnvolles tun kann, wenn man jeden Tag etwas Neues lernen kann, wenn man sich etwas leisten kann, was einem Freude macht. Wenn man Kinder lachen hört und wachsen sieht, wenn man seine Eltern mit Stolz erfüllen kann und vieles mehr.“ „Was ist mit Liebe, mit Fürsorge, mit Mitleid? Was mithilfe und Unterstützung?“ „Ja, das natürlich auch alles.“ „Gut, wenn du das alles schaffst, dann würde ich dich auch heiraten.“ Xiao Xian schob Hong Li vor sich her. Hong Li drehte sich und rutschte aus. Und wieder fielen sie aufeinander, und beide genossen dieses Gefühl. Yong Zheng hatte unbemerkt zugehört. Ihm war das Fräulein schon bei der Überführung aufgefallen, ihre Nähe zu Hong Li und Hong Lis Interesse an diesem Mädchen. Das waren gerade sehr erwachsene Fragen, und er war stolz, wie Hong Li darauf geantwortet hatte. Stolz über den hohen Anspruch, den Hong Li gegenüber dem Kaiseramt hatte. Er hätte die Frage des Mädchens ähnlich beantwortet, aber er war schon 44 und nicht erst 13. Das ist die Schule von FA MEN SI. Yong Zheng gab sich im Garten zu erkennen.

Die Kinder erschraken. „Oh kaiserliche Hoheit, haben wir Euch gestört? Wir schlittern gleich weiter.“ Hong Li war das peinlich. Der Kaiser verneinte die Störung. „Willst du mir das Mädchen nicht vorstellen?“ Bevor Hong Li antworten konnte, übernahm Xiao Xian die Frage.

„Ihr kennt mich, Majestät, wir haben uns in früheren Jahren oft gesehen.“ „Klärt mich auf, Fräulein, aus welchem Hause seid Ihr?“. Hong Li ahnte, dass die folgende Antwort den Kaiser sehr verärgern konnte. Sie waren auf dem Bach kurz vor dem Ende des kaiserlichen Gartens. Der Bach machte dort einen Bogen, der diese Situation retten konnte. Während Xiao Xian sich dem Kaiser zuwendete, um Antwort zu geben, schob Hong Li sie um den Bachbogen herum und rief zurück: „Ich erkläre es dir später.“

Yong Zheng war enttäuscht, dass Hong Li ihm die Antwort schuldig blieb. „Na ja, Kinder beim Schlittern …“ Aber das Mädchen hatte ihn schon sehr beeindruckt. Hong Li musste sie ihm vorstellen. Oder noch besser, er ging zur Kaiserin. Sie musste es wissen. Die Kaiserin schenkte sich gerade eine Tasse Tee ein. Oft besuchte sie Yong Zheng, auch unangemeldet. Gern tranken sie nachmittags ein oder zwei Tassen Tee und diskutierten über Gott und die Welt. Yong Zheng hielt viel von der Meinung seiner Frau Xiao Sheng Xian. Sie war immer ehrlich zu ihm, auch wenn sie eine andere Meinung vertrat als der Kaiser. Aber sie hat nie seine Meinung beeinflussen wollen, wie das die Minister, Generäle und Beamten gerne taten. Nach einem Schluck Tee kam Yong Zheng zur Sache. „Unser Sohn hat eine neue Freundin?“„Nein“, erwiderte die Mutter, „es ist eine alte Freundin, die er schon lange nicht mehr gesehen hat. Schon als Kleinkinder haben sie zusammen gespielt.“ „Wer ist sie?“, fragte der Kaiser. „Nun, erinnere dich bitte an einen treuen Freund unserer Familie. Erinnere dich an einen treuen Freund deines Vaters, der ihm im Ministerium die besten Dienste geleistet hat, erinnere dich an einen absolut loyalen und absolut ehrlichen Finanzminister.“ Yong Zheng ahnte, wen seine Frau meinte. „Du meinst den Rebell und Schergen Fuca. Was hat dieses Kind hier verloren?“

Xiao Sheng Xian war nun schon 33 Jahre lang mit Yong Zheng verheiratet, und sie war seine Hauptfrau, die künftige Kaiserin. Sie wusste, dass die kommenden Worte über ihr Schicksal entscheiden konnten, aber sie hatte Yong Zheng gegenüber nie gelogen, und sie wollte auch weiterhin ihrem Mann gegenüber ehrlich sein. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren, mit großem Talent, diplomatische Fähigkeiten angeeignet, die sie nun einsetzen konnte. „Lady Gioro von der Familie Fuca bat vor zwei Wochen um eine Audienz bei dir. Diese wurde aber abgewiesen. So kam sie zu mir, übrigens mit der Hilfe von Hong Li. Sie bat um Gnade für ihren Mann und beteuerte dessen Unschuld. Lirong Fuca wurde von deinem Bruder Yun Reng angewiesen, Hong Li einzuladen und ihn einige Tage zu bewirten. Sollte er Hong Li nicht finden, dann war er angewiesen in Richtung TAIYUAN dem Verwalter von SHANXI entgegenzureiten. Das waren seine Befehle, denen er folgen musste. Ein Widerspruch hätte seinen Tod bedeutet.“ „Der Fuca wurde gefangen genommen, nachdem er unsere Soldaten überfallen hatte. Ist das nicht Grund genug für eine Todesstrafe?“ Das Argument des Kaisers wog schwer. „Der Fuca selbst wurde doch von den Schergen Yun Rengs überfallen. Er wusste nicht, von wem und warum er angegriffen wurde. Nach Klärung dieses Missverständnisses kam sofort der Befehl deines Bruders, eine Gruppe auf der anderen Seite des Flusses anzugreifen. Fuca wusste doch gar nicht, wer das war. Und auch das war ein Befehl, dem Fuca doch folgen musste.“ Xiao Sheng Xian war geschickt in der Verteidigung der Fucas, sie war aber auch von deren Unschuld überzeugt. „Ich erklärte Lady Gioro, dass du, bis nach deiner Inthronisierung, kein Recht sprechen und sie bis dahin auch nicht empfangen würdest.“

Mit Nachdruck bat Xiao Sheng Xian: „Erinnere dich bitte an die Gastfreundschaft der Fucas, deshalb bot ich auch Lady Gioro und ihrer Tochter meine Gastfreundschaft an, bis nach deiner Inthronisierung, in der Hoffnung, dass du ihr dann Audienz gewähren würdest und sie zumindest anhörst.“

„Der Fuca selbst hat bei seiner Befragung sein Unrecht eingesehen und sich selbst für schuldig erklärt.“ Yong Zhengs Argumente stachen. „Lirong Fuca war selbst erschüttert darüber, dass er gegen das Kaiserhaus gekämpft hat. Dieses Missgeschick ist für ihn selbst unverzeihlich. Er fühlte sich schuldig, und deshalb hat er seine Schuld zugegeben. Eine Schuld, die durch ein unglückliches Unglück entstand. Eine Verstrickung von mehreren unglücklichen Zufällen.“ Yong Zheng grübelte.

„Gut, wenn man resümiert, dann war unser Sohn zu keiner Zeit in Gefahr. Keiner unserer Gardesoldaten ist gefallen. Die Schergen unseres Gegners Yun Reng wurden geschwächt. Hong Li war rechtzeitig in PEKING und ist morgen bei der Inthronisierung anwesend. Eigentlich sollte man bei so viel Glück auch gnädig sein.“ „Ich werde deine Meinung in Betracht ziehen“, versprach Yong Zheng. „Ach, welche Meinung hattest du jetzt eigentlich?“ Das war so typisch für seine Frau. Sie half ihm bei seiner eigenen Meinungsfindung, ohne dass er sich von ihr beeinflusst fühlte. „Meine Meinung? Ich finde, man sollte den Vater der womöglich künftigen Kaiserin nicht bestrafen, sondern ihm Vertrauen schenken.“ „Was …, wie meinst du das?“ „Du wolltest doch wissen, wer das Mädchen ist, das deinen Sohn so glücklich macht. Es ist Xiao Xian, die Tochter von Lady Gioro und dem Herzog Lirong Bao Fuca.“ Die Kaiserin ließ den Kaiser stehen und zog sich in ihre Räume zurück. Sie konnte nicht sehen, wie sich der Kaiser verzweifelt auf ihren Thron setzte und angestrengt nachdachte.

1.07 Inthronisation des 5. Qing-Kaisers Yong Zheng

PEKING, 5. Februar 1723

Es war eine wichtige Zeremonie, mit der die chinesischen Kaiser den Thron einnahmen. Eine uralte Prozedur aus den Zeiten der ersten Kaiser, deren Abfolge genau eingehalten werden musste. Yong Zheng hatte sie schon oft einstudiert und kannte sie besser als alle Minister und sonstige Beamte. Der Himmel schien Yong Zheng gut gewogen zu sein. Der morgendliche Nebel verzog sich und gab einen wolkenlosen blauen Himmel frei, der den kalten Morgen bald erwärmte. Yong Zheng war schon seit frühen Stunden mit seinen Eunuchen beschäftigt, sich für die Thronbesteigung herauszuputzen. Der Kaiser trug zu seiner Thronbesteigung einen zeremoniellen Ornat, der vom Amt für kaiserliche Gewandung verwaltet wurde. Äußere Zeichen waren eine schwarze Jacke und ein gelber Rock. Über dem Rock befand sich ein schürzenähnlicher Gürtel, der auf beiden Seiten der Hüfte von roten Quasten gehalten wurde, ein stilisierter Schwertgürtel. Die gefütterten Stiefel des Kaisers waren aus gelber Seite mit seitlicher Drachenstickerei. Die Sohlen der Stiefel waren um mindestens 10 cm erhöht, damit der Kaiser über den anderen stand. Yong Zheng musste hierfür eine spezielle Laufart üben, damit er bei der Zeremonie nicht hinfiel.

Die offizielle Kopfbedeckung für die Thronbesteigung bestand aus dem Perlenschnurbarett und einem viereckigen schwarzen Brett, dessen Schmalseiten nach vorne und hinten gerichtet waren. Von jeder dieser beiden Seiten hingen 12 Perlenschnüre mit je 12 Perlen herab.

Die Inthronisierung fand in der Halle der höchsten Harmonie statt. Es dauerte mehr als vier Stunden, bis alle Angehörigen des Hofstaates den KOTA vollführten, und zwar in ritualisierter Form, durch Zuruf des Zeremonienmeisters, des obersten Eunuchen. Zuerst traten die Prinzen vor, dann die Minister, die Generäle und Kommandeure, es folgten die Frauen und Nebenfrauen, die Eunuchen und Zofen. Dann kamen die Soldaten der kaiserlichen Garde, die sich alle im Inneren Hof aufgestellt hatten. Danach wurde der Kaiser auf der Prunksänfte von 20 Eunuchen in den Äußeren Hof getragen. Hier haben sich Würdenträger und Vertreter der benachbarten Reiche und alle sonstigen Gäste aus aller Welt versammelt. Baihu durfte mit Shi Yan in den Reihen der Kommandeure stehen. Er schätzte die Teilnehmerzahl auf mehr als 100 000 Menschen.

 

Auch im Äußeren Hof forderte der Zeremonienmeister den Kotau von allen Besuchern. Keiner hatte diese Ehrenbezeugung dem Kaiser ausgeschlagen. Über die Kaiserbrücke wurde der Kaiser durch die mittlere Öffnung des Mittagstores getragen. Auf den TIAN-ANMEN-Platz und entlang der Prachtstraße haben die Soldaten der acht Banner links und rechts ein Spalier gebildet, durch das der Kaiser nun getragen wurde. Vor und hinter dem Kaiser ritten die Gardesoldaten. Jeder einzelne Soldat links und rechts des Weges klopfte mit seiner Faust auf seine Lederrüstung, wenn der Kaiser an ihm vorbeigetragen wurde. Hinter dem Soldatenspalier sammelten sich die Bürger der Stadt und des Landes. Auch sie vollzogen den Kotau, wenn der Kaiser an ihnen vorbeigetragen wurde.

Das Ziel der Sänfte war der Himmelstempel. Hier musste der Kaiser „Zwiesprache mit dem Himmel“ halten, von dem er sein Mandat, seine Legitimation zu herrschen, erhielt. Der Himmel war dabei weder ein spezieller Ort noch mit einer Person oder mit einem Gott verbunden, es war eher ein abstrakter Begriff. Man glaubte, dass auf Erden nur dann Harmonie und Wohlstand herrschen konnten, wenn dies mit dem Himmel in Einklang gebracht sei. Und der Himmelssohn war der Kaiser. Nur er hatte den Kontakt zum Himmel. Deshalb musste er diese Harmonie beschwören, damit die Natur sich nicht durch Unwetter, Überschwemmungen und Dürren an den Menschen rächte. Nur wenn die Natur vorteilhaftes Wetter bereithielt, konnten gute Ernten eingefahren werden. Nur dann konnten die Menschen überleben und zu Wohlstand gelangen.

Zur Inthronisation musste Yong Zheng dem Himmel seine Aufwartung machen, sich ihm vorstellen und von da an alle Jahre dem Himmel seine Opfer bringen. So wie heute musste er künftig mit großem Gefolge aus dem Palast auf der breiten Prachtallee nach Süden, die Himmelsrichtung, die mit dem Himmel in Verbindung gebracht wurde. Die Tempelanlage mit den weitläufigen Parklandschaften ist größer als die Verbotene Stadt. Das hatte auch seinen Grund, wie Hong Li es Shi Yan beim Ausritt erklärte. Als „Söhne des Himmels“ war es den chinesischen Kaisern verboten, Anlagen zu bauen, die größer waren als die irdische Residenz des Himmels, dem Himmelstempel. Das Gleiche galt auch für die Räume im kaiserlichen Palast. Denn nur der Himmelspalast umfasst 10 000 Räume. Eine gleiche oder gar größere Zahl an Räumen wäre einer Gotteslästerung gleichgekommen. Deshalb muss der Kaiserpalast unter 10 000 Räume haben. Weder die Minister noch der oberste und dienstälteste Eunuch wissen genau, wie viele Räume die Verbotene Stadt hat. Hong Li hörte, nach den neuesten Zählungen der Eunuchen sollen es nur 8885 Räume sein.

Und so ist es eben auch mit dem Himmelstempel, der größer sein musste als die kaiserliche Palastanlage. Der Tempel ist von einer langen Mauer umgeben. Der nördliche Teil ist halbkreisförmig angelegt und symbolisiert den Himmel. Der südliche Teil ist quadratisch gebaut und symbolisiert die Erde. Der nördliche Teil der Anlage ist höher als der südliche Teil. Das soll zeigen, dass der Himmel hoch, also YANG, und die Erde niedrig, also YIN ist. Im Palast angekommen, betrat der Kaiser Yong Zheng, über die Brücke der zinnoberroten Stufen, den erhöhten Ehrenweg, durch den die wichtigen Gebäude miteinander verbunden sind. Vom Himmelspalast aus wandte sich der Kaiser nach Norden und fand dann, auf der rechten Seite, in einer Ausbuchtung des Wegs, ein Zelt vor, in dem er sich für die Zeremonien umkleiden musste.

Den Rest des Weges legte der Kaiser barfuß zurück. Auch im Winter. Als der Sohn des Himmels kann nur Yong Zheng die irdischen Angelegenheiten im Auftrag der himmlischen Autorität verwalten und umsetzen, und dabei sollte er seinen Respekt vor dem himmlischen Herrscher barfüßig unter Beweis stellen. Denn er, Yong Zheng, konnte nur durch „Himmels Gnaden“ herrschen. So schritt er also barfuß durch das Tor des Ernteopfers in den großen Innenhof, den die runde Halle des Ernteopfers dominiert, um dort zu beten und um seine Opfer darzubringen. Gäste durften hier nicht teilnehmen. Diese Zeremonie war einzig und alleine Sache des Kaisers und des Himmels. Nur eine Handvoll Beobachter aus dem Stand der Würdenträger, Minister und Beamte durften als Protokollanten anwesend sein. Während der gesamten Zeremonien lastete ein enormer Druck auf dem Kaiser. Der kleinste Fehler würde als ein schlechtes Omen verstanden werden, welches das gesamte Reich in der kommenden Regentschaft belasten würde.

Yong Zheng war froh und erleichtert, als er den Zeremonienteil erfolgreich abschließen konnte. Der gesamte Tross machte sich wieder auf den Weg in die Verbotene Stadt und löste sich dann auf. Die Hallen und Paläste der Verbotenen Stadt waren entsprechend ihren Nutzungen festlich geschmückt und für die Feier bestuhlt. So waren auch Baihu und Shi Yan zusammen mit den Kommandeuren und Generälen in der Halle der Militärischen Tapferkeit untergebracht. Nur geladene Gäste von hohem Rang konnten an dieser opulenten Feier teilnehmen.

Aber auch das Volk durfte mitfeiern und sich auf die Regentschaft des neuen Kaisers freuen. Vor den Toren der Verbotenen Stadt wurden ausreichend Nahrungsmittel und alkoholische Getränke verteilt. Ein großes Feuerwerk schloss am frühen Abend die gelungenen Feierlichkeiten ab. Wie schon gesagt, Yong Zheng wollte nicht viel Kosten für die Bestattung seines Vaters, aber auch für die Inthronisierung ausgeben. Die Arbeit wartete, und ein Tag Feiern musste ausreichen. Morgen früh begann der Alltag des neuen Kaisers.

Baihu und Shi Yan freuten sich schon auf die Heimreise. In zwei Tagen sollte aufgebrochen werden. Ein kleiner Trupp von 20 Gardesoldaten und die drei Shaolin sollten den Sohn des Kaisers begleiten. Und auch Lady Gioro und Xiao Xian sollten sich dem Trupp bis LINFEN anschließen.

Rechtsprechung sollte Yong Zhengs erste Arbeit sein. Baihu und Shi Yan diskutierten noch, wie sich Yong Zheng im Falle des Präfekten und im Falle seines Bruders entscheiden würde. Und während die zwei sich Gedanken darüber machten, diskutierte die ganze Kaiserfamilie bis spät in die Nacht hinein, in der Halle des kaiserlichen Friedens, über die Strafe des vermeintlichen Schergen Lirong Bao Fuca. Der erste Tag der kaiserlichen Regentschaft war ein Audienztag für alle hochgestellten Persönlichkeiten und Würdenträger aus dem Reich und aus aller Herren Länder, die sich gute Beziehungen mit dem neuen Kaiserhaus wünschten. Mit dem ersten Akt der neuen kaiserlichen Regentschaft sorgte Yong Zheng für einen Paukenschlag im Ministerium. Yong Zheng erklärte schon am ersten Tag seiner Regentschaft auch gleich seinen Nachfolger. Er wählte seinen vierten Sohn Hong Li und erhob ihn in den Stand des Prinzen im ersten Rang. Prinz Bao, diesen Namen hatte sich Hong Li erst gestern Nacht ausgesucht, nachdem er seinem Vater beteuert hatte, dass er sehr stolz auf diese Ernennung sei.

Bao bedeutet Stolz, und Prinz Bao bedeutet der stolze Prinz. Das gefiel allen. Natürlich bedeutete das aber auch, dass Prinz Bao bei der ersten Audienz anwesend sein musste, denn jeder Kotau, jede loyale Beteuerung der Gäste galt nun nicht nur dem Kaiser, sondern auch seinem Nachfolger, dem Prinzen Bao.