Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs

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»Kapital!« meinte der Fremde; »herrlicher Plan – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Anzüge in den Kisten –- und jetzt eines andern Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiß.«

»Wir müssen aber jetzt unsere Billette lösen«, sagte Herr Tupman.

»Nicht der Mühe wert, eine Guinee zu halbieren«, versetzte der Fremde. »Wollen aufwerfen, wer für beide zahlt – ich rate – Sie werfen: nun – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.«

Das Goldstück fiel nieder und der Drache (den man aus Galanterie Frauenzimmer nennt) kam nach oben zu liegen.

Herr Tupman klingelte, kaufte die Billette und rief, man solle ihnen leuchten. In einer Viertelstunde stak der Fremde ganz in Nathanael Winkles Kleidern.

»Es ist ein neuer Frack«, sagte Herr Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete; »der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.«

Er lenkte dabei die Aufmerksamkeit des andern auf die großen vergoldeten Knöpfe, die zu beiden Seiten von Herrn Pickwicks Brustbild die Buchstaben P.K. erkennen ließen.

» P.K.« sagte der Fremde, – »schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P.K. Was soll dieses P.K.? – Seltsamer Anzug – wie?«

Herr Tupman erklärte ihm mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.

»Etwas kurz in der Taille – nicht wahr?« meinte der Fremde, über die Schultern blickend, um im Spiegel die hinteren Knöpfe zu besehen, die allerdings so ziemlich in der Mitte seiner Rückenlänge saßen. »Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – kontraktmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung – alle kleinen Leute kriegen lange Röcke und alle großen kriegen kurze.«

So fortschwatzend machte sich Herrn Tupmans neuer Freund seinen –oder vielmehr Herrn Winkles– Anzug zurecht und ging, von Herrn Tupman begleitet, die Treppe hinauf nach dem Ballsaal voran.

»Ihre Namen, meine Herren«, sagte der Türsteher.

Herr Tupman wollte eben vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, als ihn der Fremde daran hinderte.

»Durchaus keine Namen« – und dann flüsterte er Herrn Tupman zu – »braucht keine Namen – nicht bekannt – zwar gut in ihrer Weise, aber nicht berühmt genug – ganz herrliche Namen für eine kleine Gesellschaft, aber machen keinen Eindruck in öffentlichen Ballgesellschaften – inkognito ist besser – Herren von London – ausgezeichnete Fremde – so etwas.«

Die Tür wurde geöffnet und Herr Tracy Tupman trat mit dem Fremden in den Ballsaal.

Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagcnen Bänken, der durch Wachskerzen auf gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Die Musiker befanden sich auf einer erhöhten Tribüne, und die Quadrillen wurden durch zwei oder drei Reihen von Tänzern systematisch durchgeführt. Zwei Spieltische waren in einem anstoßenden Zimmer, und zwei Paar alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren daselbst im Kartenspielen begriffen.

Die Tour war zu Ende: die Tänzer und Tänzerinnen gingen in dem Saale auf und ab, und Herr Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.

»Bezaubernde Frauenzimmer«, sagte Herr Tupman.

»Warten Sie noch ein Weilchen«, sagte der fremde; »wird bald kurzweiliger. – Vornehme noch nicht da – wunderlicher Ort – oberste Arsenalbeamte kennen nicht die unteren – untere Arsenalbeamte nicht den niederen Adel – niederer Adel nicht die Kaufleute – Arsenaldirektor kennt keinen Menschen.«

»Was ist das für ein junger Mensch – der dort mit dem blonden Haare, den kleinen Augen und dem modischen Anzuge?« fragte Herr Tupman.

»Pst! Bitte – kleine Augen – modischer Anzug – junger Mensch – nur gescheit – ist Fähnrich im siebenundvierzigsten Regiment. – Der ehrenwerte Wilmot Snipe – große Familie – die Snipen – sehr große Familie.«

»Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!« rief der Mann an der Türe mit einer Stentorstimme.

Dies erregte große Sensation, und unmittelbar darauf trat ein stattlicher Mann in blauem Rock mit blanken Knöpfen, begleitet von einer großen Dame in blauem Atlasgewand und zwei jungen Fräuleins in modischen Anzügen von derselben Farbe, in den Saal.

»Direktor – Vorstand des Arsenals – großer Mann – höchst bedeutender Mann«, flüsterte der Fremde Tupman zu, als der Wohltätigkeitsausschuß Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem oberen Teile des Saales führte. Der ehrenwerte Wilmot Snipe nebst andern ausgezeichneten Gentlemen drängten sich an die Fräuleins Clubbers, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen; und Sir Thomas Clubber stand kerzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.

»Herr Smithie und Madame Smithie nebst Fräulein Töchter!« lautete die nächste Ankündigung.

»Wer ist Herr Smithie?« fragte Herr Tracy Tupman.

»Er ist Arsenalbeamter«, versetzte der Fremde.

Herr Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber nahm einen Operngucker vor und beäugelte Madame Smithie nebst Familie, während Madame Smithie ihrerseits eine Madame So und So anstierte, deren Gatte nicht beim Arsenale angestellt war.

»Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter«, waren die nächsten Ankömmlinge.

»Garnisonskommandant«, beantwortete der Fremde Herrn Tupmans fragenden Blick.

Fräulein Bulder wurde sehr warm von den Fräuleins Clubber bewillkommt, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Schnupftabaksdosen an und sahen ganz wie ein paar Alexander Selkirks10 aus – Herrscher über alles, soweit sie schauen konnten.

Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal bewahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in andern Teilen desselben nach. Die weniger aristokratischen Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Klasse (die Frau des Brauers machte den Bulders Besuch), und Madame Tomlinson, die Posthalterin, schien durch gegenseitige Übereinkunft zum Haupte der Frauen aus dem Handelsstande erwählt worden zu sein.

Eine der populärsten Personen in ihrem Kreise war ein kleiner, wohlbeleibter Mann, mit einem in die Höhe gestrichenen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze auf dem Scheitel dieses Herrn umgab – Doktor Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Karten, tat alles und war allenthalben. Diesen Beschäftigungen, so vielseitig sie auch waren, fügte der kleine Doktor eine noch weit wichtigere hinzu – er war nämlich unermüdlich, einer kleinen alten Witwe die größte Aufmerksamkeit zu erweisen, deren reiches Kostüm, überdies mit Juwelen überladen, sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu seinem beschränkten Einkommen kennzeichnete.

Herrn Tupmans und seines Gefährten Blicke waren schon einige Zeit auf den Doktor und die Witwe gerichtet, als der Fremde das Schweigen unterbrach.

»Schweres Geld – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – herrlicher Spaß«, waren die vernehmlichen Sentenzen, die seinen Lippen entströmten.

Herr Tupman sah ihm fragend ins Gesicht.

»Ich will mit der Witwe tanzen«, sagte der Fremde.

»Wer ist sie?« fragte Tupman.

»Weiß nicht – sah sie in meinem Leben nie – den Doktor ausstechen – da geht sie.«

Der Fremde schritt sofort durch den Saal, lehnte sich an das Kamingesims und begann dem fetten Gesichte der kleinen alten Dame Blicke achtungsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Herr Tupman sah in stummem Erstaunen zu. Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer andern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen: der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn – ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knix – einige verbindliche Worte. Er ging keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime, und der Fremde trat mit Madame Budger in die Quadrille ein.

So groß auch Herrn Tupmans Überraschung über dieses abgekürzte Verfahren war, so wurde es doch durch die des Doktors bei weitem überboten. Der Fremde war jung und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet, und die entrüsteten Blicke, die er seinem unerschütterlichen Nebenbuhler zuschoß, waren verloren. Doktor Slammer meinte, der Schlag müsse ihn rühren. Er, der Doktor Slammer, Regimentarzt vom Siebenundneunzigsten – im Augenblicke verdunkelt von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen, und von dem man auch jetzt noch nicht wußte, wer er war! Doktor Slammer – Doktor Slammer vom Siebenundneunzigsten verschmäht! Unmöglich! Es konnte nicht sein! Aber doch war es so: da standen sie. Was? Er stellt ihr seinen Freund vor? Konnte er seinen Augen trauen? Er sah abermals hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich zuzugestehen, daß ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Madame Budger tanzte mit Herrn Tracy Tupman – da war kein Irrtum. Ja, es war leibhaftig die Witwe, die mit einer ungewöhnlichen Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte: und Herr Tracy hüpfte gleichfalls mit der allerfeierlichsten Miene umher und tanzte (wie es bei vielen Leuten der Fall ist), als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine ernste Prüfung der Gefühle, deren Bestehung eine unbeugsame Entschlossenheit fordere.

 

Der Doktor ertrug all dies schweigend und geduldig, ebenso auch das darauf folgende Präsentieren von Negus11 und Süßigkeiten nebst dem Flirt, der diese Aufmerksamkeiten begleitete. Als jedoch der Fremde verschwand, um Madame Budger zu ihrem Wagen zu führen, stürzte Slammer rasch aus dem Saale, während jedes Teilchen des bisher eingestöpselten Grimms aufbrauste und ihm in großen Schweißtropfen an seinem zornroten Kopfe hervorsprudelte.

Der Fremde kehrte mit Herrn Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute – denn offenbar hatte sein Nebenbuhler gesiegt und frohlockte jetzt darüber.

»Sir!« sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, indem er eine Karte zum Vorschein brachte und seinen Feind in eine Ecke des Vorraums zog, »mein Name ist Slammer, Doktor Slammer, Sir – beim siebenundneunzigsten Regiment – Chatamkaserne – meine Karte, Sir, meine Karte.«

Er würde noch mehr gesagt haben, aber die Entrüstung erstickte seine Worte.

»Ah,« versetzte der Fremde kaltblütig, »Slammer – sehr verbunden – höfliche Aufmerksamkeit – jetzt nicht krank, Slammer – aber wenn ich es bin – nach Ihnen schicken.«

»Sie – Sie sind ein Schieber, Sir,« keuchte der wütende Doktor, »ein Gauner – eine Memme – ein Lügner – ein – ein – kann Sie nichts veranlassen, mir Ihre Karte zu geben, Sir?«

»O, ich sehe,« sagte der Fremde halb beiseite, – »starker Negus hier – liberaler Wirt – sehr einfältig – gewiß – Limonade viel besser – heiße Gemächer – ältliche Herrn – haben's morgen zu büßen – grausam – grausam«; und er entfernte sich um einige Schritte.

»Sie wohnen hier im Hause, Sir«, sagte der zornige kleine Mann; »Sie sind jetzt betrunken, Sir; Sie werden morgen weiter von mir hören, Sir. Ich will Sie schon ausfindig machen, Sir – ja, ich will Sie schon ausfindig machen.«

»Meinetwegen machen Sie mich ausfindig, wenn Sie mich nur nicht zu Hause finden«, versetzte der unerschütterliche Fremde.

Doktor Slammer schoß Giftblicke, als er seinen Hut mit einem zornigen Klapse auf seinem Kopfe befestigte, und der Fremde ging mit Herrn Tupman nach dessen Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Reisesack des nichtsahnenden Winkle zu stecken.

Der letztere lag in tiefem Schlafe, und so war denn die Rückerstattung bald erledigt. Der Fremde scherzte viel, und der von Wein, Negus, Lichtern und Damen ganz verwirrte Herr Tracy Tupman meinte, daß dies ein ausgesuchter Spaß wäre. Sein neuer Freund entfernte sich, und nachdem der ehrenfeste Pickwickier nach einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete Öffnung seiner Nachtmütze gefunden, und bei seinen Anstrengungen, dem Lichte einen passenden Platz anzuweisen, den Leuchter umgeworfen hatte, half er sich durch eine Reihe komplizierter Bewegungen nach seinem Bette, worin er alsogleich in tiefen Schlaf verfiel.

Am nächsten Morgen hatte es kaum sieben geschlagen, als Herrn Pickwicks reger Geist aus dem Zustande der Bewußtlosigkeit, in den er von dem Schlummer gewiegt worden war, durch ein lautes Pochen an seiner Zimmertür geweckt wurde.

»Wer ist da?« rief Herr Pickwick, von seinem Kissen auffahrend.

»Der Hausknecht, Sir.«

»Was wollt Ihr?«

»Verzeihen Sie, Sir, können Sie mir nicht sagen, welcher Herr von Ihrer Gesellschaft einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen trägt, auf denen die Buchstaben P. K. stehen?«

»Der Rock wird zum Ausbürsten hinausgegeben sein,« dachte Herr Pickwick, »und der Mann hat vergessen, wem er angehört. – Herr Winkle«, rief er laut: »im dritten Zimmer rechts.«

»Danke, Sir«, versetzte der Hausknecht und entfernte sich.

»Was gibt's?« rief Herr Tupman, als ein lautes Klopfen an seiner Tür ihn aus seiner tiefen Ruhe aufschreckte.

»Kann ich mit Herrn Winkle sprechen, Sir?« entgegnete der Hausknecht von außen.

»Winkle – Winkle!« rief Herr Tupman ins Nebenzimmer.

»Holla!« antwortete eine matte Stimme unter der Bettdecke hervor.

»Es ist jemand an der Tür, der zu Ihnen will.«

Nachdem sich Herr Tracy Tupman soweit angestrengt hatte, legte er sich wieder aufs Ohr und fiel aufs neue in tiefen Schlaf.

»Zu mir?« sagte Herr Winkle, rasch aus seinem Bett springend und einige Kleidungsstücke anziehend. »Zu mir? in so weiter Entfernung von der Stadt? Wer um Himmels willen kann denn etwas von mir wollen?«

»Ein Herr im Gastzimmer, Sir«, versetzte der Hausknecht, als Herr Winkle die Tür öffnete, um den Anklopfenden hereinzulassen. »Der Herr sagte, er wolle Sie keinen Augenblick aufhalten, Sir; er könne aber durchaus keine Abweisung annehmen.«

»Höchst sonderbar!« sagte Herr Winkle. »Nun, ich will gleich hinunterkommen.«

Er hüllte sich rasch in einen Reiseschal, zog seinen Schlafrock an und ging die Stiege hinunter. Eine alte Frau und ein paar Kellner scheuerten das Gastzimmer, und ein Offizier in Halbuniform blickte aus dem Fenster. Er wandte sich mit einer steifen Kopfverbeugung an den eintretenden Winkle, hieß das Dienstpersonal sich entfernen und schloß sorgfältig die Tür.

»Herr Winkle, wie ich vermute?« begann der Offizier.

»So heiße ich allerdings, Sir.«

»Es wird Sie nicht überraschen, Sir, wenn ich Ihnen mitteile, daß ich diesen Morgen Sie in der Angelegenheit eines Freundes – des Doktors Slammer vom Siebenundneunzigsten besuche.«

»Doktor Slammer?« sagte Herr Winkle.

»Doktor Slammer. Er bat mich, Ihnen in seinem Namen zu sagen, daß Ihr Benehmen an dem gestrigen Abend von der Art war, wie kein Mann von Ehre es sich gefallen lassen kann, und (fügte er bei) wie kein Mann von Ehre es sich gegen einen andern erlauben würde.«

Herrn Winkles Erstaunen war zu echt empfunden und zu augenfällig, um der Wahrnehmung von Herrn Slammers Freund zu entgehen; der letztere fuhr daher fort:

»Mein Freund, Doktor Slammer, ersuchte mich, hinzuzufügen, daß er fest überzeugt sei, Sie wären einen großen Teil des gestrigen Abends betrunken gewesen und wüßten daher vielleicht nichts mehr von dem Umfang der Beleidigung, die Sie sich zuschulden kommen ließen. Er trug mir daher auf, Ihnen zu sagen, daß er, wenn Sie diesen Umstand als eine Entschuldigung Ihres Benehmens geltend machen wollten, sich mit einer schriftlichen Abbitte, wie ich sie Ihnen in die Feder diktiere, begnüge.«

»Eine schriftliche Abbitte?« wiederholte Herr Winkle mit dem nachdrücklichsten Tone des Staunens.

»Sie kennen natürlich die andere Wahl, die Ihnen übrigbleibt«, versetzte der Offizier ruhig.

»Wurde Ihnen dieser Auftrag auf meinen Namen an mich übergeben?« fragte Herr Winkle, dem ob dem Gehörten der Verstand stillstand.

»Ich war nicht anwesend,« entgegnete der Besuch, »und infolge Ihrer entschiedenen Weigerung, Doktor Slammer Ihre Karte zu geben, hat mich besagter Gentleman gebeten, mir über die Identität des Besitzers eines höchst ungewöhnlichen Rocks – eines blauen Fracks mit vergoldeten Knöpfen, auf denen sich ein Brustbild und die Buchstaben P.K. befinden – Gewißheit zu verschaffen,«

Herr Winkle wäre vor Entsetzen beinahe zur Erde gesunken, als er seine eigene Tracht so genau beschreiben hörte. Doktor Slammers Freund fuhr fort:

»Der im Gasthause eben angestellten Nachfrage zufolge bin ich überzeugt, daß der Eigentümer des fraglichen Kleidungsstücks gestern nachmittag mit drei Herren hier angekommen ist. Ich sandte sogleich zu dem Herrn, der mir als mutmaßliche Hauptperson dieser Gesellschaft beschrieben wurde, und dieser hat mich an Sie verwiesen.«

Wenn es dem Hauptturm von Rochester-Castle plötzlich eingefallen wäre, seinen festen Standpunkt zu verlassen und sich gerade dem Gasthofe gegenüber aufzupflanzen, so hätte Herrn Winkles Überraschung lange nicht die Höhe erreichen können, die die gegenwärtige Anrede in ihm veranlaßte. Sein erster Gedanke war, sein Frack möchte ihm gestohlen worden sein.

»Nur einen Augenblick Verzug, wenn ich bitten darf«, sagte er.

»Recht gerne«, versetzte der unwillkommene Besuch.

Herr Winkle eilte hastig die Treppe hinauf und öffnete mit zitternden Händen seinen Reisesack. Aber das Kleidungsstück lag an seinem gewohnten Platze! eine genauere Besichtigung zeigte jedoch deutliche Spuren, daß es in der letzten Nacht getragen worden war. »Es muß doch seine Richtigkeit haben«, sagte Herr Winkle, indem ihm der Frack aus den Händen glitt. »Ich habe nach dem Mittagessen zuviel Wein getrunken und entsinne mich noch halb und halb, daß ich nachher auf der Straße spazieren ging und eine Zigarre rauchte, 's ist schon so; ich war sehr betrunken – muß mich anders angekleidet – und jemand beleidigt haben, 's ist wohl keine Zweifel – und meinem Rausche habe ich diese schrecklichen Folgen zu danken.«

Herr Winkle lenkte nun wieder seine Schritte nach der Richtung des Gastzimmers, mit dem düsteren und schrecklichen Entschlusse, die Herausforderung des kampflustigen Doktors Slammer anzunehmen und das Schlimmste, was daraus folgen konnte, über sich ergehen zu lassen.

Verschiedene Rücksichten drängten Herrn Winkle zu diesem verzweifelten Entschlusse, unter denen sein Ansehen im Klub nicht die geringste war. Er hatte bei Angelegenheiten offensiver, defensiver und inoffensiver Art, wenn sich's dabei um Kraft und Gewandtheit handelte, stets als hohe Autorität gegolten: und wenn er bei dem ersten Anlasse, wo es galt, einen ritterlichen Sinn zu zeigen, unter den Augen seines Meisters scheu zurückbebte, so war sein Prestige für immer verloren. Außerdem erinnerte er sich, von Leuten, die in derlei Dingen Erfahrung hatten, gehört zu haben, daß vermöge eines geheimen Einverständnisses unter den Sekundanten die Pistolen selten mit Kugeln geladen würden; und dann zog er auch noch weiter in Betracht, daß Herr Snodgraß, wenn er denselben zum Sekundanten wählte und ihm die Gefahr in recht glühenden Farben schilderte, vielleicht Herrn Pickwick in Kenntnis setzen würde. Dieser würde dann ohne Zweifel keinen Augenblick säumen, den Beistand der Lokalbehörden aufzubieten, um auf diese Weise den Tod eines seiner Jünger zu verhindern.

Unter solchen Gedanken kehrte er in das Gastzimmer zurück und gab daselbst seine Absicht kund, die Herausforderung des Doktors anzunehmen.

»Wollen Sie mir einen Freund namhaft machen, mit dem ich Ort und Stunde der Zusammenkunft verabreden kann?« sagte der Offizier.

»Ganz unnötig«, versetzte Herr Winkle. »Sie können beides mir namhaft machen; für eine Begleitung werde ich sodann schon Sorge tragen.«

»Was meinen Sie – diesen Abend um Sonnenuntergang?« fragte der Offizier in gleichgültigem Tone.

»Sehr gut,« entgegnete Herr Winkle, meinte jedoch in seinem Innern, »sehr schlimm.«

»Sie kennen das Fort Pitt?«

»Ja, ich habe es gestern gesehen.«

»So nehmen Sie sich die Mühe, auf dem Felde, das den Laufgraben begrenzt, sobald Sie die Stelle erreichen, wo das Bollwerk einen Winkel bildet, den Fußpfad linker Hand einzuschlagen und geradeaus zu gehen, bis Sie meiner ansichtig werden. Ich will Sie dann nach einem verborgenen Plätzchen führen, wo die Angelegenheit abgemacht werden kann, ohne daß wir eine Unterbrechung zu befürchten haben.«

»Unterbrechung zu befürchten!« dachte Herr Winkle.

»Weiter wäre nichts mehr zu verabreden, denke ich«, sagte der Offizier.

»Ich wüßte gleichfalls nicht, was noch zu sagen wäre«, versetzte Herr Winkle.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen.«

Der Offizier pfiff eine lustige Arie und entfernte sich.

Beim Frühstück herrschte eine ziemlich trübselige Stimmung. Herr Tupman war nach der ungewohnten Nachtschwärmerei nicht in der Lage, aufstehen zu können; Herr Snodgraß schien mit einem Gedicht schwanger zu gehen, und selbst Herr Pickwick zeigte eine ungewöhnliche Vorliebe für Schweigen und Sodawasser. Herr Winkle paßte ängstlich auf eine günstige Gelegenheit, das, was sein Herz bedrückte, anzubringen. Sie blieb nicht lange aus. Herr Snodgraß machte den Vorschlag, das Schloß zu besuchen, und da Herr Winkle der einzige von der Gesellschaft war, der Lust zu einem Spaziergang bezeugte, so gingen sie.

»Snodgraß«, sagte Herr Winkle, als sie die besuchteren Straßen hinter sich hatten; »mein lieber Snodgraß, kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?« Als er so sprach, dachte er im innersten seiner Seele: »Ach, wäre es doch nicht der Fall«.

»Sie können es«, versetzte Herr Snodgraß. »Ich will es Ihnen bei allem –«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Winkle, erschreckt durch den Gedanken, Herr Snodgraß könnte sich unwillkürlich durch einen Eid die Zunge binden. »Schwören Sie nicht – schwören Sie nicht; es ist ganz und gar unnötig.«

 

Herr Snodgraß ließ auf diese Aufforderung die Hand, die er in poetischem Schwunge zu den Wolken erhoben hatte, wieder sinken und nahm die Haltung gespannter Aufmerksamkeit an.

»Ich bedarf Ihres Beistandes in einer Ehrensache, lieber Freund«, sagte Herr Winkle.

»Den sollen Sie haben«, versetzte Herr Snodgraß, die Hand seines Freundes drückend.

»Mit einem Doktor – Doktor Slammer beim siebenundneunzigsten Regiment«, sagte Herr Winkle, der die Sache so feierlich wie möglich machen wollte; »eine Ehrensache mit einem Offizier, dem ein anderer Offizier sekundiert – heute abend um Sonnenuntergang, auf einem abgelegenen Felde in der Nähe des Forts Pitt.«

»Ich werde Sie begleiten«, sagte Herr Snodgraß.

Er war zwar erstaunt, aber keineswegs erschrocken. Es ist außerordentlich, wie kaltblütig alle – die Beteiligten ausgenommen – eine solche Sache nehmen. Herr Winkle hatte das außer acht gelassen und die Gefühle seines Freundes nach den eigenen bemessen.

»Die Folgen können schrecklich sein«, sagte Herr Winkle.

»Ich hoffe nicht«, versetzte Herr Snodgraß.

»Der Doktor, glaube ich, ist ein sehr guter Schütze«, sagte Herr Winkle.

»Das sind die meisten beim Militär«, bemerkte Herr Snodgraß ruhig; »aber Sie sind es auch – nicht wahr?«

Herr Winkle bejahte, und da er seinen Gefährten nicht hinreichend bestürzt sah, so änderte er seinen Feldzugsplan.

»Snodgraß,« sagte er mit vor Erregung bebender Stimme, »wenn ich falle, so werden Sie in einem Paket, das ich in Ihre Hände zu geben gedenke, einen Brief finden – an meinen Vater.«

Auch dieser Angriff schlug fehl. Herr Snodgraß war zwar gerührt, aber er übernahm die Besorgung des Schreibens so bereitwillig wie ein Briefträger.

»Wenn ich falle«, fuhr Herr Winkle fort, »oder wenn der Doktor fällt, so werden wir, als bei der Sache beteiligt, vor Gericht gestellt. Soll ich meinen Freund der Gefahr der Strafverbannung – vielleicht gar der seines Lebens aussetzen!«

Herr Snodgraß kratzte sich jetzt zwar ein wenig am Kopfe, aber sein Heldenmut war unüberwindlich.

»In Sachen der Freundschaft«, rief er begeistert, »biete ich allen Gefahren Trotz.«

Wie verwünschte Herr Winkle in seinem Innern die aufopfernde Freundschaft seines Gefährten, als sie einige Minuten schweigend nebeneinandergingen und jeder sich in seinen eigenen Betrachtungen vertiefte. Der Morgen entschwand – und Herr Winkle geriet in Verzweiflung.

»Snodgraß,« sagte er plötzlich haltmachend, »damit aber ja keine Störung dazwischen kommt! Sie dürfen durchaus nicht den Lokalbehörden eine Anzeige machen – keine Polizeibeamte aufrufen, um durch meine oder durch die Verhaftung des Doktors Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment, einquartiert in der Chatamkaserne, diesem Duelle vorzubeugen. Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht

Herr Snodgraß ergriff die Hand seines Freundes mit Wärme und versetzte mit Begeisterung:

»Nein, nicht um die Welt!«

Ein Schauder überlief Herrn Winkles Körper, als er die schreckliche Überzeugung gewann, daß er von der Furcht seines Freundes nichts zu hoffen habe, und daß er bestimmt sei, das lebendige Ziel einer Feuerwaffe zu werden.

Nachdem die Lage der Dinge mit allen Umständen Herrn Snodgraß mitgeteilt worden war, verfügten sich die beiden Freunde nach einem Kaufladen, um sich mit Pistolen, Pulver, Blei und Zündhütchen zu versehen, und kehrten sodann nach ihrem Gasthofe zurück – Herr Winkle, um über den bevorstehenden Kampf nachzudenken, und Herr Snodgraß, um die Waffen für den augenblicklichen Gebrauch instandzusetzen.

Es war ein trüber, unfreundlicher Abend, als sich beide für das unangenehme Geschäft auf den Weg machten. Herr Winkle hatte sich, um der Beobachtung zu entgehen, in einen ungeheuren Mantel gehüllt, und Herr Snodgraß trug unter dem seinigen die Werkzeuge der Zerstörung.

»Haben Sie alles bei sich«, fragte Herr Winkle mit erstickter Stimme.

»Alles«, versetzte Herr Snodgraß. »Auch Munition die Fülle, wenn die ersten Schüsse kein Resultat liefern sollten. Ich habe ein viertel Pfund Pulver in der Schachtel und zwei Zeitungen12 zu Pfröpfen in der Tasche.«

Das waren Freundschaftsproben, für die sich jeder ungemein verpflichtet fühlen mußte. Wir vermuten daher, daß Herrn Winkles Dankesgefühle zu übermächtig waren, um sich in Worten ausdrücken zu lassen, denn er sagte nichts, sondern ging – freilich ziemlich langsam – weiter.

»Wir kommen ganz zur rechten Zeit«, sagte Herr Snodgraß, als sie über die Umzäunung des ersten Feldes wegkletterten. »Die Sonne ist eben im Untergehen begriffen.«

Herr Winkle blickte auf den sich senkenden Feuerball und dachte mit Schmerz an die Möglichkeit seines eigenen »Untergangs«, der ihn in so kurzer Frist treffen konnte.

»Dort ist der Offizier«, rief Herr Winkle, nachdem sie wieder einige Minuten gegangen waren.

»Wo?« fragte Herr Snodgraß.

»Dort! Der Herr im blauen Mantel.«

Herr Snodgraß blickte in die Richtung, die ihm der Finger seines Freundes anzeigte, und gewahrte eine in der beschriebenen Weise verhüllte Gestalt. Der Offizier gab durch ein Winken mit der Hand zu erkennen, daß er ihrer gleichfalls ansichtig geworden, und die Freunde folgten ihm in einiger Entfernung, während er auf den Ort des Stelldicheins losging.

Der Himmel wurde mit jedem Augenblick trüber, und ein melancholischer Wind heulte über die einsamen Felder, ähnlich einem fernen Reisenden, der nach seinem Hunde pfeift. Das Düstere der Umgebung versetzte Herrn Winkle in eine noch schwermütigere Stimmung. Er fuhr zusammen, als er an dem Winkel des Laufgrabens vorbeikam – der Graben sah aus wie ein ungeheures Grab.

Der Offizier bog plötzlich vom Fußpfade ab, klomm über ein Pfahlwerk, stieg über eine Hecke und gelangte auf ein abgeschlossenes Feld. Dort warteten zwei Herren, der eine ein kleiner wohlbeleibter Mann mit schwarzem Haar, der andere eine stattliche Gestalt in einem militärischen Überrock – letzterer mit vollkommenem Gleichmut auf einem Feldstuhle sitzend.

»Die Gegenpartei und ein Wundarzt, wie ich denke«, sagte Herr Snodgraß. »Nehmen Sie einen Tropfen Branntwein.«

Herr Winkle ergriff die Feldflasche, die ihm sein Freund hinreichte, und holte sich einen tiefen Schluck von der belebenden Flüssigkeit.

»Mein Freund, Herr Snodgraß, Sir«, sagte Herr Winkle, als der Offizier herantrat.

Doktor Slammers Freund verbeugte sich und brachte ein ähnliches Futteral, wie Herr Snodgraß eines bei sich führte, zum Vorschein.

»Ich denke, wir haben uns nichts weiteres zu sagen«, begann er kaltblütig, als er den Waffenbehälter öffnete, »da eine Abbitte entschieden abgelehnt wurde.«

»Nichts, Sir«, versetzte Herr Snodgraß, dem es jetzt bei der Sache etwas unwohl zu werden anfing.

»Wollen Sie vortreten?« sagte der Offizier.

»O ja«, entgegnete Herr Snodgraß.

Die Mensur wurde bestimmt und die weiteren Einleitungen getroffen.

»Sie werden diese besser als Ihre eigenen finden«, sagte der Sekundant der Gegenpartei, indem er seine Pistolen anbot. »Sie haben beim Laden zugesehen. Oder haben Sie etwas gegen deren Benutzung einzuwenden?«

»Nicht das mindeste«, entgegnete Herr Snodgraß.

Dieses Anerbieten wälzte ihm einen Stein vom Herzen, denn er hatte nur sehr unbestimmte und mangelhafte Begriffe vom Laden einer Pistole.

»So können wir, denke ich, jetzt unsere Duellanten aufstellen«, bemerkte der Offizier mit einer Gleichgültigkeit, als wären die beiden Gegner Schachfiguren und die Sekundanten die Spieler.

»Ich denke es auch«, erwiderte Herr Snodgraß, der, weil er nichts von der ganzen Sache verstand, zu jedem Vorschlage Ja gesagt haben würde.

Der Offizier verfügte sich zum Doktor Slammer, und Snodgraß trat an Herrn Winkles Seite.