daß die Trennung notwendig sei. Aber da mußte ich innehalten,
denn plötzlich sah ich die wohlbekannte zitternde Lippe, und
dieser Anblick rief mir die Vergangenheit so lebhaft wieder ins
Gedächtnis! Aber mit der Tapferkeit, die ihm eigen war, hatte er
sich bald gefaßt und sagte, durch seine Tränen hindurch ernsthaft
nickend:
»Ich verstehe, Großmutti – ich weiß, es muß sein – sprich
weiter, Großmutti, habe keine Angst vor mir.«
Und als ich alles gesagt hatte, was mir nur in den Sinn kam,
wandte er mir sein ruhiges, freundliches Gesicht zu und sagte,
wenn auch hier und da mit ein wenig gebrochener Stimme:
»Du sollst sehen, Großmutti, daß ich ein Mann sein kann und
daß ich alles tun kann, um dir meine Dankbarkeit und Liebe zu
beweisen – und wenn ich nicht das werde, was du von mir
erwartest, dann hoffe ich, es wird nur deshalb sein, weil –
weil ich sterben werde.«
Und damit setzte er sich neben mich hin, und ich erzählte ihm
weiter von der Schule, über die ich ausgezeichnete Empfehlungen
weiter von der Schule, über die ich ausgezeichnete Empfehlungen
hatte: wo sie wäre, wie viele Schüler sie hätte, was für Spiele sie
dort spielten, wie ich gehört hätte, und wie lang die Ferien
wären, was er alles mit hellem und fröhlichem Gesicht mit
anhörte.
Schließlich sagte er:
»Und nun, liebe Großmutti, laß mich hier, wo ich mein Gebet zu
sprechen pflegte, niederknien, laß mich mein Gesicht auf eine
Minute in deinem Rock verbergen und laß mich weinen, denn du
bist mehr als Vater, mehr als Mutter, mehr als Geschwister und
Freunde für mich gewesen sind!«
Und so weinte er und ich auch, und wir fühlten uns danach beide
viel besser.
Von dieser Zeit an hielt er getreulich Wort und war stets fröhlich
und munter, und selbst als ich und der Major ihn nach
Lincolnshire brachten, war er bei weitem der munterste von uns
dreien. Das war freilich nicht schwer, aber er heiterte auch uns
auf; und nur als es zum letzten Lebewohl kam, meinte er mit
einem ernsten Blick:
»Du möchtest doch nicht, daß es mir wirklich nicht naheginge,
Großmutti?«
Und als ich sagte: »Nein, mein Liebling, Gott behüte!« rief er:
»Das freut mich!«
»Das freut mich!«
und rannte ins Haus hinein.
Aber jetzt, als das Kind die Pension verlassen hatte, wurde der
Major ganz und gar trübsinnig. Alle Mieter merkten, daß er den
Kopf hängen ließ, und er sah nicht einmal mehr so stattlich aus
wie sonst. Selbst seine Stiefel wichste er nur noch mit einem
kleinen Schimmer von Interesse.
Eines Abends kam der Major in mein kleines Zimmer, um eine
Tasse Tee und eine gebutterte Röstschnitte zu genießen und
dabei Jemmys letzten Brief zu lesen, der an diesem Nachmittag
eingetroffen war. Er war von demselben Briefträger wie früher
gebracht worden, der, jetzt schon ein Mann in reiferem Alter,
noch immer diesen Bezirk hatte. Da der Brief den Major ein
wenig aufheiterte, sagte ich zu ihm:
»Major, Sie dürfen sich keinen trüben Stimmungen hingeben.«
53
Der Major schüttelte den Kopf.
»Jemmy Jackman, Madam«, sagte er mit einem schweren
Seufzer, »ist ein älterer Geselle, als ich dachte.«
»Trübsinn ist kein Mittel, um jünger zu werden, Major.«
»Meine teure Madam«, erwiderte er, »gibt es überhaupt ein
Mittel, um jünger zu werden?«
Da ich fühlte, daß der Major in diesem Punkt recht behalten
würde, lenkte ich auf einen anderen ab.
»Dreizehn Jahre! Drei-zehn Jahre! Viele Mieter sind in den
dreizehn Jahren, die Sie im ersten Stock wohnen, gekommen
und gegangen.«
»Ja!« sagte der Major, warm werdend. »Viele, Madam, viele.«
»Und Sie haben sich mit allen gutgestanden?«
»In der Regel (die, wie alle Regeln, ihre Außnahmen hat), meine
teure Madam«, sagte der Major, »haben sie mich mit ihrer
Bekanntschaft beehrt, häufig sogar mir ihr Vertrauen geschenkt.«
Ich beobachtete den Major, wie er sein weißes Haupt senkte,
seinen schwarzen Schnurrbart strich und wieder in Trübsinn
verfiel, und ein Gedanke, der, wie ich glaube, umherwanderte
und sich irgendwo nach einem Eigentümer umsah, fiel in meinen
alten Kopf, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen.
»Die Wände meiner Pension«, sagte ich beiläufig – denn, meine
Liebe, es ist zwecklos, mit einem Mann, der trübsinnig ist,
geradeheraus zu sprechen –, »könnten sicher etwas erzählen,
wenn sie dazu imstande wären.«
wenn sie dazu imstande wären.«
Der Major machte weder eine Bewegung noch sprach er ein
Wort, aber ich sah an seinen Schultern, daß er zuhörte, meine
Liebe – daß er mit seinen Schultern auf das achtete, was ich
sagte. Ich sah tatsächlich, wie es auf seine Schultern Eindruck
machte.
»Der liebe Junge hat stets gern Geschichten gelesen«, fuhr ich
fort, als spräche ich zu mir selbst; »und dieses Haus – sein eignes
Heim – könnte wahrlich einige Geschichten aufzeichnen, die er
später einmal lesen könnte.«
In den Schultern des Majors gab es einenRuck, und sein Kopf
kam in seinem Hemdkragen in die Höhe. Der Kopf des Majors
kam in seinem Hemdkragen in die Höhe, wie ich ihn, seit Jemmy
zur Schule fortging, nicht in die Höhe hatte kommen sehen.
»Es ist nicht zu bestreiten, daß ich in den Pausen eines
freundschaftlichen Cribbage-Spiels oder Rubbers, meine teure
Madam«, sagte der Major, »und auch über dem, was in meiner
Jugend – in den grünen Tagen Jemmy Jackmans – das volle Glas
genannt zu werden pflegte, manche Erinnerung mit Ihren Mietern
ausgetauscht habe.«
Meine Bemerkung darauf war – ich gestehe, daß ich sie mit der
verborgensten und hinterlistigsten aller Absichten machte:
»Ich wünschte, daß unser lieber Junge sie gehört hätte!«
»Ich wünschte, daß unser lieber Junge sie gehört hätte!«
»Ist das Ihr Ernst, Madam?« fragte mich der Major, in die Höhe
fahrend und sich mir zuwendend.
»Weshalb nicht, Major?«
54
»Madam«, sagte der Major, einen seiner Ärmel aufkrempelnd,
»sie sollen für ihn niedergeschrieben werden.«
»Ah! Das läßt sich hören«, meinte ich, indem ich vor Vergnügen
die Hände zusammenschlug. »Jetzt sind Sie auf dem besten Weg,
aus dem Trübsinn herauszukommen, Major!«
»In der Zeit von jetzt bis zu seinen Ferien – ich meine, denen des
lieben Jungen«, sagte der Major, seinen andern Ärmel
aufkrempelnd, »kann schon viel fertig werden.«
»Major, Sie sind ein kluger Mann, Sie haben vieles gesehen, und
Ihre Worte sind nicht zu bezweifeln.«
»Ich werde morgen anfangen«, sagte der Major, der auf einmal
so groß wie nur je aussah.
Meine Liebe, in drei Tagen war der Major ein anderer Mensch,
und in einer Woche war er wieder ganz der alte, und er schrieb
und schrieb und schrieb, indem er mit seiner Feder kratzte, wie
Ratten hinter dem Wandgetäfel. Ob alles, was er schrieb, auf
Ratten hinter dem Wandgetäfel. Ob alles, was er schrieb, auf
Wahrheit beruhte, oder ob er dabei ein bißchen aufschnitt, das
kann ich Ihnen nicht sagen, aber das Manuskript liegt hinter der
Glasscheibe des linken Seitenfachs in dem kleinen
Bücherschrank gerade hinter Ihnen.
55
Zweites Kapitel
Ein paar Worte, die der erste Stock selbst hinzufügte
Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist
Jackman. Ich halte es für ein stolzes Vorrecht, daß ich auf
Veranlassung meiner würdigen und im höchsten Grade
geachteten Freundin, Mrs. Lirriper, von Norfolk Street Nummer
einundachtzig, Strand, in der Grafschaft Middlessex im
Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland, und zur
Belehrung des bemerkenswertesten Jungen, der jemals lebte –
mit Namen Jemmy Jackman Lirriper –, auf die Nachwelt
komme.
Es kommt mir nicht zu, das Entzücken zu schildern, mit dem wir
diesen lieben und im höchsten Grade hervorragenden Jungen
während seiner ersten Weihnachtsferien empfingen. Nur soviel
soll bemerkt sein, daß, als er mit zwei prachtvollen Preisen (in
Arithmetik und ausgezeichnetem Betragen) ins Haus gestürmt
kam, Mrs. Lirriper und ich ihn mit Rührung umarmten und sofort
mit ihm ins Theater gingen, wo wir uns alle drei wunderbar
unterhielten.
Auch ist es nicht meine Absicht, den Tugenden der Besten ihres
guten und geehrten Geschlechts – die ich aus Rücksicht für ihre
Bescheidenheit hier nur mit den Anfangsbuchstaben E. L.
bezeichnen will – meine Huldigung dadurch zu bezeigen, daß ich
bezeichnen will – meine Huldigung dadurch zu bezeigen, daß ich
diesen Bericht zu dem Bündel von Manuskripten hinzufüge, über
die unser Junge sein Entzücken ausgedrückt hat, bevor ich dieses
Bündel wieder in das linke Seitenfach von Mrs. Lirripers kleinem
Bücherschrank lege.
Auch geschieht es nicht deshalb, um den Namen des alten,
originalen, ausgedienten, unbekannten Jemmy Jackman, früher
(zu seiner Herabwürdigung) bei Wozenham, jetzt seit langem (zu
seiner Erhebung) bei Lirriper, ungebührlich vorzudrängen. Wenn
ich mich mit Bewußtsein einer solchen geschmacklosen
Handlungsweise schuldig machen könnte, so wäre es wirklich ein
ganz überflüssiges Unterfangen, jetzt, wo der Name von Jemmy
Jackman Lirriper getragen wird.
Nein. Ich ergreife meine bescheidene Feder vielmehr, um einen
kleinen Bericht über unseren erstaunlich bemerkenswerten
Jungen zu verfassen, der, wie ich in meinem einfachen Verstand
glaube, ein hübsches kleines Bild von dem Geist des lieben
kleinen Jungen bietet. Das Bild wird vielleicht für ihn selbst
interessant sein, wenn er erwachsen ist.
Der erste Weihnachtstag, den wir nach unserer
Wiedervereinigung verbrachten, war der schönste, den wir je
miteinander verlebt haben. Jemmy war keine fünf Minuten still,
ausgenommen in der, Kirche. Er schwatzte, als wir am Kamin
saßen, er schwatzte, als wir spazierengingen, er schwatzte, als
wir wieder am Kamin saßen, er schwatzte ohne Unterlaß beim
Essen, obwohl er mit einem Appetit aß, der fast so
bemerkenswert war wie er selbst. Es war die Quelle des Glücks,
die in seinem frischen jungen Herzen unaufhörlich überströmte,
und sie befruchtete (wenn ich ein so kühnes Bild gebrauchen
darf) meine Freundin und J. J., den Schreiber dieser Zeilen.
Am Tisch saßen nur wir drei. Wir aßen in dem kleinen Zimmer
meiner geschätzten Freundin, und das Mahl war vollkommen.
Aber alles im Hause ist, was Sauberkeit, 56
Ordnung und Behaglichkeit angeht, stets vollkommen. Nach dem
Essen glitt unser Junge auf sein altes Stühlchen zu Füßen meiner
geschätzten Freundin, und dort saß er mit seinen gerösteten
Kastanien und seinem Glas braunen Sherry (wirklich, ein ganz
ausgezeichneter Wein!), während seine Wangen röter waren als
die Äpfel in der Schale.
die Äpfel in der Schale.
Wir sprachen von diesen meinen Schreibereien, die Jemmy
inzwischen gelesen und wieder gelesen hatte; und so fügte es
sich, daß meine geschätzte Freundin, während sie Jemmys
Locken streichelte, bemerkte:
»Und da du auch zum Hause gehörst, Jemmy – und zwar viel
mehr als die Mieter, da du doch darin geboren bist –, so bin ich
der Meinung, deine Geschichte sollte eines Tages zu den übrigen
hinzugefügt werden.«
Jemmys Augen leuchteten bei diesen Worten, und er sagte:
»Das denke ich auch, Großmutti.«
Dann saß er eine Weile da und blickte ins Feuer. Plötzlich
begann er zu lachen, als ob er dem Feuer etwas anvertrauen
wollte, und sagte dann, seine Arme auf dem Schoß meiner
geschätzten Freundin kreuzend und sein strahlendes Gesicht zu
dem ihrigen erhebend:
»Möchtest du die Geschichte eines Jungen hören, Großmutti?«
»Aber gern«, erwiderte meine geschätzte Freundin.
»Möchtest du es, Pate?«
»Natürlich, gern«, erwiderte ich.
»Gut denn«, sagte Jemmy, »ich will euch eine erzählen.«
»Gut denn«, sagte Jemmy, »ich will euch eine erzählen.«
Hier schloß unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge sich
selbst in die Arme und ließ wieder ein melodisches Lachen
ertönen bei dem Gedanken, daß er sich in dieser neuen
Eigenschaft als Erzähler zeigen sollte. Dann wandte er sich
wieder, wie zuvor, dem Feuer zu, als wollte er ihm etwas
vertraulich mitteilen, und begann:
»Einst in alter Zeit, als Ferkel Wein tranken und Affen Tabak
kauten, es war weder zu eurer noch zu meiner Zeit, doch darauf
kommt es nicht an ...«
»Lieber Himmel, bewahre das Kind!« rief meine geschätzte
Freundin. »Was geht in seinem Kopf vor?«
»Es ist ein Gedicht, Großmutti«, erwiderte Jemmy, sich vor
Lachen schüttelnd. An der Schule fangen wir unsere Geschichten
immer damit an.«
»Hat mir einen richtigen Ruck gegeben, Major«, sagte meine
geschätzte Freundin, sich mit einem Tellerchen fächelnd. »Ich
glaubte, er wäre wirr im Kopf!«
»In jenen bemerkenswerten Zeiten, Großmutti und Pate, gab es
einstmals einen Jungen – nicht mich, müßt ihr verstehen.«
57
»Nein, nein«, sagte meine geehrte Freundin, »nicht du. Er nicht,
»Nein, nein«, sagte meine geehrte Freundin, »nicht du. Er nicht,
Major, verstehen Sie?«
»Nein, nein«, sagte ich.
»Und er ging zur Schule in Rutlandshire ...«
»Weshalb nicht Lincolnshire?« fragte meine geehrte Freundin.
»Weshalb nicht, du liebe alte Großmutti? Weil ich in Lincolnshire
zur Schule gehe, nicht wahr?«
»Oh, natürlich!« sagte meine geehrte Freundin. »Und es ist nicht
Jemmy, Sie verstehen, Major?«
»Freilich, freilich«, meinte ich.
»Nun also!« fuhr unser Junge fort, indem er sich behaglich selbst
in die Arme schloß und fröhlich lachte (wobei er sich wieder
vertraulich ans Feuer wandte), bevor er aufs neue zu Mrs.
Lirripers Gesicht aufblickte. »Und er war fürchterlich in die
Tochter seines Schulmeisters verliebt. Sie war nämlich das
schönste Mädchen, das man je gesehen hatte. Sie hatte braune
Augen und braunes Haar, das wunderschön gelockt war, und
eine liebliche Stimme. Sie war ganz und gar lieblich, und ihr
Name war Seraphina.«
»Wie heißt die Tochter deines Schulmeisters, Jemmy?« fragte
meine geehrte Freundin.
»Polly!« erwiderte Jemmy, mit dem Zeigefinger auf sie weisend.
»Polly!« erwiderte Jemmy, mit dem Zeigefinger auf sie weisend.
»Reingefallen!
Ha, ha, ha!«
Meine geehrte Freundin und er lachten zusammen und umarmten
sich, und dann fuhr unser unbestreitbar bemerkenswerter Junge
mit großem Behagen fort:
»Nun gut. Er war also in sie verliebt. Er dachte stets an sie,
träumte von ihr, schenkte ihr Orangen und Nüsse und hätte ihr
gern Perlen und Diamanten geschenkt, wenn er es von seinem
Taschengeld hätte erschwingen können, aber das konnte er
nicht. Und ihr Vater – oh, der war ein Tatare. Er hielt die Jungen
streng in Zucht, veranstaltete einmal im Monat ein Examen, hielt
Vorträge über alle möglichen Gegenstände zu allen möglichen
Zeiten und wußte alles auf der Welt aus Büchern.
Und dieser Junge nun ...«
»Hatte er einen Namen?« fragte meine geehrte Freundin.
»Nein, er hatte keinen, Großmutti. Ha, ha! Wieder reingefallen!«
Darauf lachten sie und umarmten sich wie vorher, und dann fuhr
unser Junge fort:
»Nun, dieser Junge hatte einen Freund, ungefähr im gleichen
Alter, der auf dieselbe Schule ging und der (denn der hatte nun
einen Namen) – laßt mich nachdenken –
einen Namen) – laßt mich nachdenken –
Bobbo hieß.«
»Nicht Bob«, sagte meine geehrte Freundin.
»Natürlich nicht«, sagte Jemmy. »Wie kamst du darauf,
Großmutti? Und dieser Freund war der gescheiteste und bravste
und hübscheste und edelmütigste Freund, den es je gegeben hat;
er war in Seraphinas Schwester verliebt, und Seraphinas
Schwester war in ihn verliebt, und so wurden sie alle zusammen
groß.«
»Gott behüte!« meinte meine geehrte Freundin. »Das ging aber
schnell bei Ihnen.«
»Sie wurden alle zusammen groß«, wiederholte unser Junge, aus
vollem Halse lachend, »und Bobbo und dieser Junge ritten
davon, um ihr Glück zu suchen. Sie 58
hatten ihre Pferde halb geschenkt und halb verkauft bekommen.
Sie hatten nämlich sieben Schilling und vier Pence gemeinsam
gespart, aber da die beiden Pferde, echte Araber, mehr wert
waren, hatte der Mann gesagt, er wolle sich, weil sie es wären,
damit zufriedengeben. Nun, sie machten also ihr Glück und
kamen zur Schule zurückgaloppiert, die Taschen so voller Gold,
daß es für immer reichte. Sie läuteten an der Glocke für die
Eltern und Besucher (nicht am hinteren Tor), und als jemand
kam, verkündeten sie: ›Genauso wie bei Scharlach! Jeder Junge
geht auf unbestimmte Zeit nach Hause‹ Und da gab es ein großes
geht auf unbestimmte Zeit nach Hause‹ Und da gab es ein großes
Hurrageschrei, und dann küßten sie Seraphina und ihre
Schwester – jeder sein eigenes Liebchen und auf keinen Fall das
des anderen –, und dann ließen sie den Tataren augenblicklich
einsperren.«
»Armer Mann!« sagte meine geehrte Freundin.
»Augenblicklich einsperren, Großmutti«, wiederholte Jemmy,
indem er sich bemühte, streng auszusehen, und sich dabei doch
vor Lachen schütteln mußte, »und er durfte nichts zu essen
bekommen als das Essen der Jungen und mußte täglich ein
halbes Fäßchen von ihrem Bier trinken. So traf man denn
Anstalten für die beiden Hochzeiten, und es gab Eingemachtes
und Süßigkeiten und Nüsse und Briefmarken und alles mögliche
sonst. Und sie waren so fröhlich, daß sie den Tataren
herausließen, und er war fröhlich mit ihnen.«
»Es freut mich, daß sie ihn herausließen«, meinte meine geehrte
Freundin, »weil er nur seine Pflicht getan hatte.«
»Oh, aber er hatte auch ein bißchen zuviel getan!« rief Jemmy.
»Und darauf bestieg dieser Junge sein Pferd, mit seiner Braut in
den Armen, und galoppierte davon und galoppierte weiter und
weiter, bis er an einen gewissen Ort kam, wo er eine gewisse
Großmutti und einen gewissen Paten hatte – nicht ihr beide, müßt
ihr verstehen.«
»Nein, nein«, sagten wir beide einstimmig.
»Und dort wurden sie mit großen Freuden empfangen, und er
füllte das Küchenbüfett und den Bücherschrank mit Gold, und er
ließ es auf seine Großmutti und seinen Paten herabregnen, weil
sie die beiden liebsten und besten Menschen waren, die je auf
dieser Welt lebten. Und während sie bis zu den Knien in Gold
dasaßen, vernahm man ein Klopfen an der Haustür, und wer
sollte es anders sein als Bobbo, der sich ebenfalls zu Pferde mit
seiner Braut in den Armen einstellte, und er war um nichts
anderes gekommen, als um zu sagen, daß er (für doppelte
Miete) alle Zimmer für immer nehme, die dieser Junge und diese
Großmutti und dieser Pate nicht für sich brauchten, und daß sie
alle zusammen leben und alle glücklich sein wollten. Und das
waren sie auch, und ihr Glück nahm nie ein Ende!«
»Und gab es keinen Zank?« fragte meine geehrte Freundin,
während sich Jemmy auf ihren Schoß setzte und sie umarmte.
»Nein! Niemand gab jemals Anlaß zu Zank.«
»Und wurde das Geld niemals alle?«
»Nein! Niemand konnte es jemals ganz ausgeben.«
»Und wurde keiner von ihnen jemals älter?«
»Nein! Nach dem wurde keiner mehr älter.«
»Und ist keiner von ihnen jemals gestorben?«
59
»O nein, nein, nein, Großmutti!« rief unser lieber Junge, seine
Wange auf ihre Brust legend und sie fester an sich drückend.
»Niemand ist jemals gestorben.«
»Ah, Major, Major!« sagte meine geehrte Freundin, mir gütig
zulächelnd, »das ist besser als unsere Geschichten. Wir wollen
mit der Geschichte des Jungen schließen, Major, denn die
Geschichte des Jungen ist die beste, die je erzählt wurde!«
Diesem Wunsch von seiten der besten aller Frauen folgend, habe
ich die Geschichte hier so getreu aufgezeichnet, wie es meine
besten Fähigkeiten, unterstützt von meinen besten Absichten,
zuließen, und unterschreibe sie mit meinem Namen.
J. Jackman
Mrs. Lirripers Pension.
Im ersten Stock.
60
Mrs. Lirripers Vermächtnis
In zwei Kapiteln
61
Erstes Kapitel
Mrs. Lirriper berichtet, wie es weiterging und wie sie über
den Kanal fuhr Ah! Es ist eine Wohltat, wenn ich mich in
meinen Lehnstuhl niederfallen lassen kann, meine Liebe, obwohl
ich von dem Hinundherlaufen treppauf, treppab ein wenig
Herzklopfen habe. Warum Küchentreppen ganz und gar aus
Wendelstufen bestehen sollen, das müssen die Architekten
verantworten, obwohl ich glaube, sie verstehen ihr Handwerk
nicht gründlich, und haben es nie verstanden. Denn woher
kommt sonst die langweilige Gleichförmigkeit, und weshalb gibt
es nicht mehr Bequemlichkeit und weniger Zugluft, und weshalb
legen sie den Gips zu dick auf, wodurch nach meiner festen
Überzeugung bloß die Nässe angezogen wird, und warum setzen
sie die Kaminklappen aufs Geratewohl auf, wie Hüte bei einer
Abendgesellschaft, ohne sich mehr darüber klar zu sein als ich
selbst, wie sie auf den Rauch wirken werden, ausgenommen,
daß sie Ihnen meistenteils den Rauch, entweder als geraden
Streifen oder als gekräuselte Wolke, in die Kehle schicken
werden. Und was die neuen Metallklappen betrifft, die man in
ganz verschiedenen Gestalten auf den Häusern sieht (auf Miß
Wozenhams Dach weiter unten auf der anderen Seite der Straße
steht eine ganze Reihe davon), so bringen sie bloß den Rauch in
künstliche Formen, bevor Sie ihn hinunterschlucken. Mir ist es
ebenso recht, den meinigen einfach zu schlucken, da der
ebenso recht, den meinigen einfach zu schlucken, da der
Geschmack der gleiche ist, ganz abgesehen davon, daß es ein
närrischer Einfall ist, auf Ihrem Hausdach Zeichen anzubringen,
an denen man erkennen kann, in welcher Form Sie Ihren Rauch
drinnen in sich einsaugen.
Hier sitze ich also vor Ihren Augen, meine Liebe, im Lehnstuhl
meines stillen Zimmers in meiner Pension Norfolk Street
Nummer einundachtzig, Strand, London, auf halbem Weg
zwischen der City und dem St.-James-Park gelegen - wenn man
behaupten kann, daß irgend etwas noch an seiner alten Stelle ist,
wo doch diese Hotels, die sich selbst mit beschränkter Haftung
nennen, von denen Major Jackman aber behauptet, daß sie über
alle Schranken hinausgingen, überall aus dem Boden schießen
und dort, wo sie schon gar nicht mehr höher hinauf können,
wenigstens noch eine Fahnenstange anbringen. Aber meine
Meinung über diese Ungeheuer ist, daß ich das gesunde Gesicht
eines Wirts oder einer Wirtin vor mir sehen will, wenn ich von
einer Reise komme, aber kein Messingschild, aus dem eine
elektrische Nummer herausklappt, denn es liegt nicht in der
Natur der Dinge, daß diese erfreut sein kann, mich zu sehen.
Nein, es ist gar nicht nach meinem Geschmack, bis zu dieser
Nummer wie ein Sack im Hafen in die Höhe gehoben zu werden,
um dann oben mit den sinnreichsten Instrumenten, aber ganz
vergeblich, um Hilfe telegraphieren zu müssen. Da ich also, wie
schon gesagt, hier sitze, meine Liebe, brauche ich wohl nicht erst
zu betonen, daß ich noch im Pensionsgeschäft bin; ich hoffe
auch, darin zu sterben, und wenn die Geistlichkeit nichts dagegen
auch, darin zu sterben, und wenn die Geistlichkeit nichts dagegen
hat, soll die Einsegnung zum Teil in der Saint-Clement's Danes-
Kirche stattfinden und darauf auf dem Friedhof von Hatfield
vollendet werden, wenn ich wieder an der Seite meines armen
Lirriper liege, Asche zu Asche und Staub zu Staub.
62
Auch werde ich Ihnen wohl nichts Neues damit sagen, meine
Liebe, daß der Major immer noch ebenso zum Haus gehört wie
das Dach, das darauf sitzt, daß Jemmy der beste und klügste
aller Jungen ist und daß ihm für immer die grausame Geschichte
seiner armen hübschen jungen Mutter, Mrs. Edson,
verschwiegen wurde, die im zweiten Stock verlassen zurückblieb
und in meinen Armen starb. Er glaubt vielmehr steif und fest
daran, daß ich seine leibliche Großmutter bin und er ein
Waisenkind ist.
Dabei ist es wunderbar, was er alles anstellt, seit er sich auf das
Ingenieurwesen geworfen hat, und was für Lokomotiven er und
der Major aus Sonnenschirmen, zerbrochenen eisernen Töpfen
und Garnröllchen bauen, Lokomotiven, die immer aus der Bahn
geraten und über den Tischrand hinunterfallen und den
Passagieren, beinahe ebenso wie die richtigen, Schaden zufügen.
Und als ich zu dem Major sage:
»Major, können Sie nicht auf irgendeine Weise eine Verbindung
mit dem Schaffner herstellen?« da antwortet der Major ganz von
oben herab: »Nein, Madam, das geht nicht«, und als ich frage:
oben herab: »Nein, Madam, das geht nicht«, und als ich frage:
»Weshalb nicht?« da sagt er: »Das ist ein Geschäftsgeheimnis
zwischen uns, die wir an der Eisenbahn beteiligt sind, Madam,
und unserem Freund, dem ehrenwerten Vizepräsidenten des
Aufsichtsrats.« Und wenn Sie es glauben wollen, meine Liebe,
der Major schrieb sogar an Jemmy in die Schule und befragte ihn
wegen der Antwort, die er mir geben sollte, bevor ich diese doch
ganz unbefriedigende Auskunft von dem Mann bekam. Freilich
hatte die Sache ihren besonderen Grund. Als wir nämlich zuerst
mit dem kleinen Modell und den wunderbaren Signalen
begannen (in der Regel zeigten sie so falsch an wie die richtigen)
und ich lachend fragte: »Welche Stellung soll ich in diesem
Unternehmen haben, Gentlemen?« da schlang Jemmy die Arme
um meinen Hals und sagte zu mir, hin und her tanzend: »Du sollst
das Publikum sein, Großmutti.« Und dementsprechend machen
sie mit mir alles, was ihnen in den Sinn kommt, und ich sitze
brummend in meinem Lehnstuhl.
Meine Liebe, ob es sich so verhält, daß ein erwachsener Mann,
der so gescheit ist wie der Major, sein Herz und seinen Sinn
einer Sache - sogar einer Spielsache - nicht bloß halb geben
kann, sondern sich ihr im vollen Ernst ganz und gar widmen muß
-
ob sich das so verhält oder nicht, das kann ich nicht entscheiden.
Tatsache ist aber, daß Jemmy weit übertroffen wird durch die
ernsthafte und gläubige Art, in der der Major die »Vereinigte
Lirriper und Jackman Große Norfolk SalonwagenLirriper
und Jackman Große Norfolk Salonwagen-
Eisenbahnlinie« verwaltet. »Denn«, meinte mein Jemmy mit den
blitzenden Augen, als sie getauft wurde, »wir müssen einen
ganzen Mundvoll Namen haben, Großmutti, sonst wird unser
liebes altes Publikum«, und dabei küßte mich der junge Schelm,
»nicht herbeigelaufen kommen.«
So nahm das Publikum also die Aktien - zehn Stück zu neun
Pence, und gleich darauf, als sie ausgegeben waren, zwölf
Vorzugsaktien zu anderthalb Schilling. Sie wurden alle von
Jemmy gezeichnet und vom Major gegengezeichnet, und unter
uns gesagt, sie waren ihr Geld viel eher wert als einige Aktien,
die ich zu meiner Zeit gekauft habe. Noch in denselben Ferien
wurde die Bahn hergestellt und der Betrieb eröffnet. Ausflüge
wurden veranstaltet, es fanden Zusammenstöße statt, es gab
Kesselexplosionen und alle möglichen Unfälle und
Schwierigkeiten, die alle ganz naturgetreu waren. Es machte dem
Major Ehre, welches Verantwortungsgefühl er als 63
eine Art militärischer Stationsvorstand entwickelte, wenn er, den
Provinzzug zu spät abfertigend, eine von den kleinen Glocken
läutete, die man zusammen mit den kleinen Kohlenkästen bei den
Straßenhändlern kaufen kann. Schrieb der Major aber abends
an Jemmy in der Schule seinen Monatsbericht über den Zustand
des rollenden Materials, des Schienenwegs und alles Sonstigen
(das Ganze stand auf dem Büfett des Majors, und er staubte es
jeden Morgen mit eigner Hand ab, bevor er seine Stiefel
jeden Morgen mit eigner Hand ab, bevor er seine Stiefel
wichste), so machte er das ernsthafteste Gesicht von der Welt
und zog in geradezu furchterregender Weise die Augenbrauen
zusammen. Aber der Major tut eben nichts halb. Das beweist
auch seine große Freude, wenn er mit Jemmy ausgeht, um »das
Terrain aufzunehmen«. Dann nimmt er eine Kette und ein
Meßband mit, bringt irgendwelche Verbesserungen mitten durch
die Westminster Abtei an und glaubt tatsächlich, daß er kraft
einer Parlamentsakte alles auf der Straße auf den Kopf stellt.
Und der Himmel möge geben, daß es in Wirklichkeit so sein
wird, wenn Jemmy diesen Beruf ergreift!
Die Erwähnung meines armen Lirriper bringt mir seinen jüngsten
Bruder, den Doktor, in Erinnerung. Freilich wäre es schwer zu
sagen, was für ein Doktor er ist, höchstens etwa ein Doktor der
Trinkkunst, denn Joshua Lirriper versteht weder von Physik
noch von Musik noch von Gerichtssachen das mindeste,
ausgenommen, daß er ständig vor das Grafschaftsgericht geladen
wird und Haftbefehle gegen ihn ausgestellt werden, vor denen er
davonläuft. Einmal wurde er im Flur dieses meines Hauses mit
aufgespanntem Schirm und dem Hut des Majors auf dem Kopf
erwischt, wie er, die Türmatte um seinen Leib geschlungen, sich
als Sir Johnson Jones, Ritter des Bath-Ordens mit einer Brille,
wohnhaft in der Gardekavallerie-Kaserne, ausgab.
Dabei war er kaum eine Minute zuvor ins Haus gekommen, und
das Mädchen hatte ihn auf der Türmatte warten lassen. Er hatte
sie mit einem Stück Papier zu mir hergeschickt, das wie ein
Fidibus zusammengedreht war und auf dem er mir die Wahl ließ
zwischen dreißig Schillingen, sofort in bar ausgezahlt, und seinem
Gehirn auf dem Fußboden; darunter stand: dringend und auf
Antwort wird gewartet. Meine Liebe, es gab mir einen
furchtbaren Ruck, wenn ich mir vorstellte, wie das Gehirn meines
armen Lirriper Fleisch und Blut auf dem neuen Linoleum
umherfliegen würde. Deshalb verließ ich, wie unwürdig er auch
solcher Unterstützung sein mochte, mein Zimmer, um ihn zu
fragen, was er ein für allemal haben wollte, um es im ganzen
Leben nicht zu versuchen, und wie ich heraustrat, fand ich ihn in
der Obhut von zwei Gentlemen. Wären nicht ihre
Polizeiuniformen gewesen, so hätte ich geglaubt, sie wären
Angehörige des Federbetthandels, so flaumig sahen sie aus.
»Bringen Sie Ihre Ketten, Sir«, sagt Joshua zu dem kleineren von
ihnen, der den größeren Hut aufhatte, »schmieden Sie mir
Fesseln an!«
Malen Sie sich meine Gefühle aus, als ich mir vorstellte, er würde
die Norfolk Street mit eisernen Fesseln entlangklirren und Miß
Wozenham sähe dabei zum Fenster heraus!
»Gentlemen«, sage ich, am ganzen Leibe zitternd und einer
Ohnmacht nahe,
»bringen Sie ihn bitte auf Major Jackmans Zimmer.«
So brachten sie ihn in den ersten Stock, und als der Major
seinen Hut mit der runden Krempe, den Joshua Lirriper im
Korridor vom Pflock heruntergerissen hatte, 64
um eine militärische Verkleidung zu haben, auf seinem Kopf sah,
geriet er in eine solch rasende Wut, daß er ihm den Hut mit der
Hand vom Kopf schlug und ihn mit dem Fuß an die Decke
schleuderte, wo noch lange nachher eine Schramme zu sehen
war.
»Major«, sage ich, »beruhigen Sie sich und raten Sie mir, was ich
mit Joshua, dem jüngsten Bruder meines verstorbenen und
dahingegangenen Lirriper, anfangen soll.«
»Madam«, erwidert der Major, »ich rate Ihnen, ihn in einer
Pulvermühle in Kost und Pension und ihrem Besitzer eine
hübsche Belohnung zu geben, wenn sie explodiert ist.«
»Major«, sage ich, »als Christ kann das doch nicht Ihr Ernst
sein.«
»Doch, Madam«, antwortet der Major, »bei Gott, es ist mein
Ernst!«
Und tatsächlich hatte der Major, ein bei all seinen guten
Eigenschaften für seine Statur sehr jähzorniger Mann, eine sehr