Papa und die Motorradrocker

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Familienbande

Ich stieg aus und ließ einen verdutzt dreinblickenden Assistenten zurück. In der Wohnung fiel mir dann wieder meine verstorbene Mutter ein. Ob sie wohl immer noch in der Besenkammer stand? Jupp, ein kurzer Blick in die Kammer bestätigte meine Befürchtung. Das Delirium-Klemens (oder so ähnlich) dauerte also anscheinend nach wie vor an. Ich nahm mir für den nächsten Tag vor, meinen Bruder Gerd-Dieter zu kontaktieren, der war Arzt. Zwar Facharzt für Urologie, aber mit dem Delirium-Dingens konnte er bestimmt auch was anfangen – mehr als ich zumindest.

Da ich die Sache nicht mehr aufschieben wollte, meldete ich mich schon am frühen Morgen – vielleicht etwas zu früh – bei meinem noch recht verschlafen klingenden Bruder.

„Warum, zum Teufel, rufst du hier um kurz nach sieben an, wer ist gestorben?“, reagierte er zunächst etwas ungehalten.

Ich erklärte ihm, dass eher das Gegenteil der Fall war: „Wir haben es mit einer Wiederauferstehung zu tun. Mama steht bei mir in der Besenkammer, und das ist jetzt echt kein Joke.“

Mein Bruder stöhnte genervt auf. „Mein Gott, was hast du asoziales Stück Scheiße dir denn jetzt schon wieder reingepfiffen?“

Asoziales Stück Scheiße? Diese Verbalattacke gefiel mir überhaupt nicht. Ich entschied mich, ihm für diesen Ausspruch gelegentlich mal die Fresse zu polieren. Aber erst sollte er mir ja helfen.

„Ich hab nur ein paar Bier getrunken, von den Drogen bin ich schon lange runter.“

Wieder war ein lang gezogenes Stöhnen zu vernehmen.

„Nun gut, einschlafen kann ich jetzt eh nicht wieder. Ich sammle ein paar Medikamente zusammen, die dir helfen werden, und komme gleich mal auf einen Sprung vorbei.“

Das war es, was ich hören wollte. Gerd-Dieter stand dann auch nach ca. einer Stunde bei mir auf der Matte. Nach einer kurzen – nicht besonders herzlichen – Begrüßung führte ich ihn zur Besenkammer, in der Mutter nach wie vor unveränderter Position herumstand.

„Also, ich zumindest sehe Mutter …“, sagte ich zu meinem Bruder, der neben mir stand und leichenblass geworden war. Die Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„I-ich se-ehe s-sie auch …“, stammelte er.

Ich führte den zitternden Gerd-Dieter behutsam zu meiner Sitzgruppe, in die er sich kraftlos fallen ließ.

„Ich denke, trotz der frühen Uhrzeit können wir beide einen halbtrockenen Rotwein vertragen, oder?“, schlug ich vor. Gerd-Dieter legte keinen Einspruch ein, vielleicht fehlte ihm dafür aber auch einfach nur die Energie. Der Kerl sah aus wie ein Kranker auf dem Sterbebett.

Nach dem Glas Rotwein ging es ihm schon gleich viel besser, ein zweites lehnte er unter Verweis auf seine dadurch gefährdete Fahrtüchtigkeit indes ab. Er war immer schon der Vernünftigere von uns beiden gewesen.

„Okay, Mutter steht also bei dir in der Besenkammer. Das ist natürlich merkwürdig und für mich im Moment auch noch nicht rational nachvollziehbar. Was ich aber absolut nachvollziehen kann, ist, dass Mama bei dir in der Besenkammer steht. Du wurdest immer schon von ihr bevorzugt, dir wurde alles in den Arsch geblasen, während ich mir alles hart erarbeiten musste! Eine gerechte Mutter würde das alles ganz anders machen, die würde montags bei dir in der Besenkammer stehen, dienstags dann in meiner, mittwochs wieder in deiner und so weiter und so fort. Aber das ist mal wieder typisch für sie – und das sage ich ihr jetzt auch!“

Daraufhin ging er zügig entschlossenen Schrittes zur Besenkammer und faltete Mutter zusammen, wie sie es wohl zu Lebzeiten nie erdulden musste. Gerd-Dieter war mit seiner Gardinenpredigt nach etwa zwei Minuten fertig und stolzierte mit mittlerweile hochrot gewordenem Kopf, den er triumphierend in die Höhe reckte, zur Sitzgruppe zurück.

„Ich nehme dann doch noch ein kleines Gläschen, wenn es keine großen Umstände bereitet …“

Ich schenkte ihm wunschgemäß nach und guckte dann nach Mutter. Eine Träne lief ihre linke Wange herunter, Gerd-Dieters Ansprache hatte ihre Wirkung also nicht verfehlt. Ich wischte ihr mit einem sauberen Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht, was sie mit einem dankbaren Lächeln quittierte.

„Möchtest du nicht doch lieber rauskommen, Mutter? Wir können uns doch dann über alles unterhalten, Gerd-Dieter hat da vielleicht auch in dem einen oder anderen Punkt etwas übertrieben.“

„Ich bleibe hier im Schrank stehen – wann kapierst du das endlich?“

Ich schloss die Tür recht unsanft und ging wieder zu meinem Bruder.

„Was machen wir mit ihr? Sie weigert sich, aus der Kammer herauszukommen.“

„Keine Ahnung … Muss sie denn nicht mal was essen oder auf die Toilette gehen?“

Gute Frage … Ob sie wohl gelegentlich ihr Kämmerchen verließ? Ich war ja schließlich nicht den ganzen Tag in Reichweite, um das überwachen zu können. Mein Bruder trank sein Glas aus und blickte auf das Display seines Smartphones.

„Ich muss jetzt jedenfalls los, wir sind um elf Uhr zum Brunch verabredet. Ich denke, Mutter ist vorerst bei dir gut aufgehoben. Du hast ja auch den besseren Draht zu ihr und außerdem deutlich mehr Zeit als ich.“

Interessant – woher wollte er das mit der Zeit überhaupt wissen? Gerd-Dieter erhob sich schwungvoll und verabschiedete sich von mir mit einem festen Händedruck.

„Halt die Ohren steif und melde dich, wenn sich mit Mutter irgendwas Besonderes ereignet.“

Im Flur blieb er dann abrupt stehen, offenbar war ihm noch etwas eingefallen, denn er schlug sich mit der flachen Hand an seine Denkerstirn und kehrte raschen Schrittes in meine Wohnung zurück.

„Ich Trottel habe doch glatt die medizinische Untersuchung vergessen! Wann hat man denn sonst schon mal die Gelegenheit, eine quicklebendige Leiche vor die Flinte zu bekommen?“

Als ich dazukam, war er gerade dabei, an Mutters rechtem Arm die Gummimanschette aufzupumpen, um ihren Blutdruck zu messen. Sie verdrehte genervt die Augen, ließ die Prozedur aber ohne Gegenwehr über sich ergehen. Mein Bruder zog das Standardprogramm durch: Blutdruck, Puls, Abhören der Lunge.

„Machst du mal bitte den Mund ganz weit auf und sagst ‚Aaaaaa‘, Mutter?“

Er knipste seine Minitaschenlampe an und guckte ihr in den Hals. „Nun“, führte er aus, „du hast weder Puls noch Blutdruck, dafür aber einen geröteten Rachen. Das könnte auf eine beginnende Sommergrippe hindeuten. Du solltest viel trinken, am besten ungesüßte Tees, Wasser oder Säfte. Wenn du Kopfschmerzen bekommst, lass dir von meinem Bruder eine Ibuprofen oder Paracetamol geben. Ansonsten kann man da nicht viel machen, du solltest dich schonen, dann wird das schon wieder.“

„Ja, nicht das sie uns noch wegen einer verschleppten Erkältung wegstirbt“, merkte ich sarkastisch an.

Gerd-Dieter ignorierte meine Bemerkung und räumte seine Utensilien wieder zurück in seine Arzttasche, dann gab er mir zum Abschied noch einmal die Hand und machte sich – diesmal aber wirklich – auf den Nachhauseweg.

Ich litt also nicht an irgendwelchen Wahnvorstellungen, das war immerhin schon mal positiv. Aber was machte ich nur mit Mutter? Konnte ich sie einfach so in der Besenkammer stehen lassen oder war das menschenunwürdig? War sie als Tote überhaupt noch ein Mensch? Und gab es überhaupt jemanden, der mir diese Fragen beantworten konnte? Ich legte mich erst mal noch ein Stündchen hin und schlief wie ein Baby, diesmal ohne Albträume.

Der Tod eines Senioren

„Papa hier am Smartphone“, meldete ich mich freudig. Die zusätzliche Dosis Schlaf hatte mir gutgetan, und ich war jetzt bereit, mein Tagwerk mit voller schöpferischer Kraft zu absolvieren.

„Hallo Papa, hier Manfred. Ich hoffe, ich hab dich nicht aus den Federn geholt …?“

„Nein, keine Bange, ich bin hellwach. Für unseren aktuellen Auftrag hab ich mir auch schon was überlegt: Nimm du dir doch bitte mal diesen Road-Captain von denen vor, Stone oder wie die den nennen. Name und Anschrift sollten sich recht easy über das Kennzeichen seines Hobels herausfinden lassen, da hast du ja deine Quellen. M-HD-66 hat er auf dem Nummernschild stehen. Beobachte den mal ein wenig, vielleicht kommt dabei ja was rum.“

So, damit war mein Assistent schon mal beschäftigt. Auf mich wartete jetzt erst mal ein leckeres Frühstück in meinem Stammcafé. Dort konnte man bis vier Uhr nachmittags frühstücken, für Langschläfer also ideal. Euphorisch (woher kam bloß diese gute Laune?) machte ich mich auf zur U-Bahn-Station, die nur ca. hundert Meter von meiner Wohnung entfernt war. Die gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel war für mich bei der Wohnungssuche, die mittlerweile drei Jahre zurücklag, ein entscheidendes Kriterium gewesen. Giselastraße, das war meine Heimatstation mit Anbindung zur U3 und zur U6, und bis zum Marienplatz, also dem Zentrum der Stadt, waren es nur zwei Stationen, insofern konnte man meine Wohnlage mit Fug und Recht als zentrumsnah bezeichnen.

Vor der Rolltreppe, die zur U-Bahn hinabführte, standen zwei Zeugen Jehovas, die aktuelle Ausgaben des Wachturms feilboten. Was für Spinner! Mein bisweilen recht loses Mundwerk musste das dann auch prompt kommentieren: „Na, ihr frommen Brüder, wartet ihr hier bei sechsunddreißig Grad auf die Apokalypse?“

Der jüngere der beiden Zeugen guckte peinlich berührt zu Boden, während der ältere und auch besser angezogene Mann (schwarzer Anzug, schneeweißes Hemd ohne Schlips, insgesamt eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Quentin Tarantino gespielten Figur des Richard Gecko aus dem Film From Dusk Till Dawn) über deutlich mehr Selbstbewusstsein beziehungsweise mehr Erfahrung mit solchen ungläubigen Ketzern wie mir verfügte: „Sie sind da voller Vorurteile, darüber können wir uns gern unterhalten. Haben Sie vielleicht einen kleinen Moment Zeit?“

 

Dies verneinte ich barsch und stellte mich auf die Rolltreppe. Schließlich wartete ein leckeres Frühstück auf mich, und das war mir im Moment wichtiger als die Apokalypse. Als ich ein Viertelstündchen später das reichhaltige Frühstück von einer etwas muffeligen Kellnerin (war anscheinend neu, hatte ich dort noch nie gesehen) serviert bekam, ahnte ich noch nicht, dass uns zwar keine Zerstörung der Welt, keine richtige Apokalypse, aber zumindest etwas Ungewöhnliches bevorstand, das schon seine ersten Fühler ausgestreckt hatte.

Das Auftauchen des Skeletts war ja schon merkwürdig, und meine schon vor Jahren an Lungenkrebs dahingeschiedene Mutter in der Besenkammer war sogar noch dubioser, aber es sollte alles noch viel, viel skurriler kommen.

„Entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht die Morgenzeitung haben?“, sprach mich ein älterer Herr an, der am Nebentisch Platz genommen hatte. Er mochte etwa Mitte siebzig sein, gepflegte Erscheinung.

„Den Sportteil wollte ich gleich noch lesen, den Rest können Sie gern haben.“

Ich sortierte die Sportseiten aus und gab den Rest an den Opi weiter, der sich dafür auch höflich bedankte. Heiß war es in dem Café, obwohl direkt über meinem Platz ein Deckenventilator seiner Arbeit nachging.

„Alles Lügen in dieser Zeitung“, bemerkte der Alte. Beifall heischend schaute er mich an.

„Nun ja, das ist halt ein Boulevardblatt und nicht die Frankfurter Allgemeine. Aber dass die Redaktion aus notorischen Gewohnheitslügnern besteht, glaube ich dann doch nicht“, wandte ich zur Ehrenrettung der Gazette ein. Das schien den Opa nicht umzustimmen.

„Alles Lügen in dieser Zeitung“, wiederholte er, allerdings deutlich lauter und bestimmter als zuvor.

„Jetzt brüllen Sie hier mal nicht rum, Opa. Das können Sie ja vielleicht in Ihrem Heim machen, aber nicht in meinem Lieblingscafé“, wies ich ihn unfreundlich zurecht. Hatte das jetzt gesessen? Opa schaute einen Augenblick lang pikiert aus der Wäsche und nestelte dann in seiner rechten Hosentasche herum. Er zog zunächst ein zerknülltes Papiertaschentuch heraus, das er auf den Tisch legte, danach zauberte er ein Schweizer Offiziersmesser hervor, das ich sofort – mit fachmännischem Blick – aufgrund des Schweizer Kreuzes identifizieren konnte (gab es da überhaupt noch Konkurrenzprodukte oder hatten die mittlerweile einen Marktanteil von einhundert Prozent?). Opa probierte nun verschiedene Varianten aus, brachte mal den Korkenzieher ans Tageslicht, mal die Schere.

„ALLES NUR LÜGEN!“, brüllte er in maximaler Lautstärke. Mittlerweile war sämtliches Leben im Café zum Erliegen gekommen, alle starrten nur noch auf den durchgeknallten Rentner, der sich mittlerweile für die längere der beiden Klingen seines Messers entschieden hatte, mit deren Spitze er beim aufstehen auf mich zeigte.

„Alles nur Lügen – und du Schwanzlutscher bist der größte Lügner von allen!“

Ich erhob mich ebenfalls und ging einen Schritt zurück, um zunächst einmal aus der Reichweite des Messers zu gelangen.

Opa hatte mittlerweile ein irres Funkeln in den Augen. Der war wirklich völlig außer Kontrolle geraten und war daher – trotz seines hohen Alters – durchaus als gefährlich einzuschätzen.

„Leg das Messer hin, Kukident-Kasper, oder ich hau dich so windelweich, dass man dich hier liegend raustransportieren muss!“

Doch Opa war von meiner Drohung nicht sonderlich beeindruckt, sondern schaltete augenblicklich hoch in den Kampfmodus, und wie ein wild gewordener Stier stürmte er auf mich zu. Mit einer für meine Körperfülle sehr wendigen und athletischen Drehung ließ ich ihn allerdings ins Leere laufen, und nun war es an mir, einen entsprechenden Gegenangriff zu fahren. Das tat ich auch, indem ich Opa kräftig in seinen Allerwertesten kickte, woraufhin er schmerzerfüllt aufschrie und mit der oberen Hälfte seines Körpers auf einem Cafétisch landete, der glücklicherweise gerade nicht besetzt war. Ich zog Opa hoch und drehte ihn unsanft um. Das Taschenmesser hielt er nicht mehr in seinen Händen, und das war auch gut, denn somit stellte er keine direkte Bedrohung mehr dar. Unsere Gesichter waren jetzt fast auf Tuchfühlung. Ich erschnupperte einen ekelhaften Geruch, der aus seinem Mund strömte – eine Mischung aus Knoblauch und übelster Verwesung, dazu noch mit etwas Fäulnis angereichert. Unerträglich!

„Hat schon jemand die Polizei gerufen?“, erkundigte ich mich bei den anderen Anwesenden, die neugierig das Schauspiel verfolgt hatten. Ein Kellner outete sich: „Ich habe angerufen, aber die können frühestens in zwei Stunden einen Wagen herschicken, bei denen muss gerade komplett Land unter sein.“

Zwei Stunden wollte ich hier allerdings nicht noch rumsitzen, denn ich hatte ja auch noch einige wichtige Dinge zu erledigen.

„Dann lassen wir Opa halt laufen. Aber ich sag dir eins, Alter: Kreuz nie wieder meinen Weg. Wenn ich deine hässliche Fresse hier noch mal sehe, gibt’s Dresche!“

Der Alte ging in die Knie, um nach seinem Taschenmesser zu suchen, das er unter einem Stuhl fand. Behutsam klappte er es wieder zusammen und schenkte mir einen unterwürfigen Blick.

„Äh … i-ich habe keine Ahnung, was da in mich gefahren ist. Ich bitte um Entschuldigung, so was mache ich sonst nicht. Ich habe das Messer, um mir auf einer Parkbank ein Stück von einer Salami abzuschneiden oder die Schere zu nutzen … oder den Korkenzieher … Aber … äh … halt alles nur zur zivilen Nutzung, verstehen Sie?“

Er war jetzt wieder friedlich, und der Angriff auf mich war ihm sichtlich peinlich.

Ich verfügte nicht über hinreichende psychologische Grundkenntnisse, nahm aber an, dass es sich bei ihm um eine gespaltene Persönlichkeit handeln musste: netter Opi von nebenan und abartiger Offiziersmesserstecher in einer Person. Der Victorinox-Killer geht wieder um. Jetzt hatte aber anscheinend die gute Seite wieder die Oberhand zurückerlangt. Er bot mir sogar eine seiner Zigaretten an, die in einem silbernen Etui untergebracht waren, und bat mich, Platz nehmen zu dürfen. Die körperliche Auseinandersetzung mit mir hätte ihn schon etwas geschwächt, und er sei ja auch nicht mehr der Jüngste. In Richtung des Kellners, der den Notruf abgesetzt hatte, zeigte er sein allerbestes Sonntagslächeln.

„Könnte ich vielleicht noch einen schwarzen Tee bekommen?“, bat er höflich.

Der Kellner blickte mich unsicher und Hilfe suchend an, also übernahm ich die Initiative: „Ich glaube nicht, dass Rentner, die mit Messern auf andere Gäste losgehen, die primäre Zielgruppe dieses Lokals bilden. Oder mit anderen Worten gesagt: Verpiss dich, Alter, und mach künftig einen ganz weiten Bogen um dieses Café!“

Das hatte gesessen. Opa kramte einen Fünfeuroschein aus seinem Portemonnaie, legte diesen unter seine leere Tasse und verließ mit gesenktem Blick das Lokal. Ein paar Minuten später vernahm ich einen lauten Knall, der von draußen kam.

„Oh Gott, da hat sich jemand vor die Tram geworfen!“, rief ein Gast mit strategisch günstigem Fensterplatz.

Ein anderer Gast, ein etwa zwanzigjähriger Schönling mit gegelten Haaren (unsympathische Erscheinung), hatte die Sache noch etwas genauer beobachtet.

„Das war der Opa von eben, der da gesprungen ist. Ich habe das von hier genau gesehen“, verkündete er mit einem gewissen Stolz in der Stimme.

So schnell konnte das im Leben gehen: eben noch ein Messer in der Hand und wohlauf, jetzt zermatscht und mausetot.

Manni auf der Jagd

Manni lag auf der Lauer. Von einem guten Freund bei der Feuerwehr hatte er relativ unkompliziert und zügig Name und Anschrift des Road-Captains erhalten und wartete nun vor dem unscheinbaren Mietshaus in Englschalking auf dessen Erscheinen. Natürlich hatte er zunächst einmal bei dem Appartement mit der Nummer 65 geklingelt, aber da meldete sich niemand. Vielleicht war Alexander von Dornroth (so der bürgerliche oder halt auch nicht ganz so bürgerliche Name) – das schöne Wetter ausnutzend – ja mit seinem Motorrad unterwegs oder saß irgendwo in einem schattigen Biergarten. Der Detektivjob brachte immer sehr viel Warterei mit sich, das war halt so, und Manni hatte sich im Laufe der Jahre auch damit abgefunden. Auf Obse (so die interne Bezeichnung der Detektei Papa & Kollegen) gab es keine Daueraction, da war manchmal auch stumpfes Sich-den-Arsch-platt-Sitzen angesagt, vergleichbar in etwa mit dem Besuch einer Kfz-Zulassungsstelle. Im Auto war es trotz schattenspendender Bäume sehr drückend, viel Trinken war also angesagt. Der Detektiv aus Sachsen nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Wasserflasche. Den Hauseingang ließ er dabei nicht aus den Augen, ab und zu gab es dort auch etwas Betrieb, aber von der auffälligen Erscheinung des Motorradrockers war bisher noch nichts zu sehen gewesen.

Einige Kinder spielten unweit von dem Haus mit einem gammelig aussehenden Lederfußball. Zum Teil waren die gar nicht mal so ganz talentfrei, dachte Manni, der Kleine mit dem Ronaldo-Shirt konnte verdammt gut mit dem Ball umgehen! Sicher noch nicht so gut wie sein offenkundiges Vorbild, aber immerhin. Das Supertalent bekam jetzt eine halbhohe Flanke und zog volley ab. Nur knapp rauschte das runde Leder am selbst gebastelten Tor, das aus zwei Pylonen bestand, vorbei. Seine Kameraden klatschten dennoch eifrig Beifall, was dem Schützen sichtlich Spaß bereitete. Triumphierend guckte er auch in Mannis Richtung, der spontan den Daumen seiner rechten Hand hochreckte. Super, Bursche!

Irgendwann kam der Nachwuchs-Ronaldo dann auch angedackelt, schaute selbstbewusst ins offene Fenster des VW Passat und grinste: „Bist du ein Talentscout von den Bayern?“

Bayern München? Mit der Vermutung lag er bei Manfred völlig daneben.

„Mit den Bayern habe ich nix am Hut, aber kennst du Dynamo?“

„Klar, der macht das Licht bei meinem Fahrrad.“

Hatte der Junge wirklich noch nie was vom legendären Fußballverein Dynamo Dresden gehört, dem achtmaligen DDR-Meister, oder wollte er den Detektiv einfach nur auf die Schippe nehmen? Manni tendierte zur zweiten Variante, wollte dem Jungen aber noch eine zweite Chance geben.

„Was du meinst, Junge, das ist so ein Generator, der Strom erzeugt. Ich spreche von Dynamo Dresden. Das sagt dir doch was, oder? Dy-na-mo!“

Der Junge überlegte einen Moment und schüttelte dann seinen Kopf: „Ist das auch ein Fußballverein?“, erkundigte er sich. Enttäuscht nickte der Detektiv und fuhr die Fensterscheibe hoch. Im Grunde genommen konnte er dem Jungen ja auch keinen Vorwurf machen: Der Verein dümpelte seit geraumer Zeit rum, hatte sich zwar mit Hängen und Würgen in der zweiten Liga gehalten, aber das war halt eben doch nur zweite Liga. Na ja, immerhin gab es den Verein wenigstens noch, So viele andere Dinge, mit denen Manni in der DDR aufgewachsen war und bis zum Mauerfall im Großen und Ganzen auch recht zufrieden lebte, waren hingegen komplett verschwunden …

Dem Jungen war anscheinend noch was eingefallen, denn er klopfte ans Wagenfenster. Als Manni erneut den elektrischen Fensterheber betätigte, schaute der Junge, er mochte etwa zehn Jahre alt sein, zu ihm ins Auto: „Ich glaube, jetzt weiß ich’s wieder. Das sind Ossis, oder?“

Das war zu viel! Der Detektiv öffnete blitzschnell die Fahrertür und baute sich vor dem nun ängstlich dreinblickenden Nachwuchskicker auf.

„Mach dä Flieche, du Bäddnässr!“, brüllte Manni ihn zornig an. Der Junge verstand zwar nicht wirklich, was das bedeuten sollte, begriff aber natürlich, dass es sich nicht um wohlgemeinte Komplimente handelte, und machte wirklich die Fliege, und das auch ziemlich flott.

„Eirgobb!“, gab Manfred ihm noch mit auf den Weg. Als Choleriker alter Schule brauste er zuweilen mit rasender Geschwindigkeit auf, kam aber auch genauso schnell wieder runter. So war er schon wieder locker und geschmeidig, als der Road-Captain mit seiner Harley um die Ecke bog. Endlich! Auf dem Soziussitz hatte er noch eine schmächtige Gestalt hocken, die ihn umklammert hielt – ein kleines Klammeräffchen, sozusagen. Stone stellte sein sicherlich kostspieliges Motorrad direkt auf dem Bürgersteig in der Nähe der Haustür ab, was sicher nur eine Interimslösung für wenige Stunden sein sollte, denn so einen Hobel lässt keiner, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, einfach draußen stehen.

Der oder auch die Beifahrer(in) hatte offenbar Schwierigkeiten, den Verschluss des Integralhelms zu öffnen, das schien eine verfluchte Fummelei zu sein. Der Road-Captain grinste amüsiert, schritt dann aber doch noch helfend ein:

 

„Warte, ich mach es dir, ungeschicktes Püppchen.“

Fachmännisch öffnete er den Verschluss. Der/die Beifahrer(in) konnte sich endlich vom Helm befreien, der dank Hoch Ulrich auch nicht gerade angenehm zu tragen war.

Aha, das Nesthäkchen! Manfred erkannte das Gymnasiasten-Milchbubigesicht sofort.

„Das mit dem Helm auf und ab üben wir noch, Sven. Du solltest dir eh mal so einen richtigen Chopperhelm besorgen, da schwitzt man dann auch nicht so stark.“

In der Tat, das Nesthäkchen wirkte deutlich verschwitzter als der Fahrer, der allerdings auch mehr vom kühlenden Fahrtwind abbekommen haben dürfte.

„Ja klar, wir können da ja gleich mal im Internet nach einem anderen Helm gucken.“

„Für gleich habe ich eigentlich schon was anderes geplant“, erwiderte Stone und gab seinem Sozius einen Klaps auf den Hintern, bevor sie im Haus verschwanden.

Daher wehte also der Wind – der warme Wind, um genau zu sein. Die beiden waren stockschwul und hatten eine heiße Affäre.

„Da laust mich doch der Affe“, entfuhr es Manni. Er überlegte, wie er an ein paar eindeutige Fotos gelangen konnte, am besten in voller Aktion beim nachmittäglichen Poposex. Eine Überwachungskamera im Schlafzimmer wäre vielleicht nicht schlecht, aber das sollte Papa entscheiden, illegale Maßnahmen waren generell im Vorfeld erst mal mit dem Chef zu besprechen. Das war eiserne Firmenphilosophie.

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