Papa und die Motorradrocker

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Türkische Spezialitäten

Die Dönerbude, in der ich höchstwahrscheinlich auf Ü treffen würde, befand sich in der Nähe des Hauptbahnhofs, einer Gegend, die von vielen Migranten bevölkert wurde. Zahllose Import-Export-Geschäfte, türkische Reisebüros und eben auch Dönerschuppen fanden sich dort. Ich betrat den Imbiss und sah in der hintersten Ecke auch bereits Ü an seinem Stammplatz neben dem Gauselmann-Spielautomaten, der nervige Pieplaute und komische Melodien von sich gab, sitzen.

Die Luft war fast unerträglich, und Mustafa, der aktuelle Dompteur am Dönerkegel, hatte sein Feinrippunterhemd bereits nahezu komplett durchgeschwitzt. Was für eine Affenhitze! Ich nickte Mustafa kurz zu und bewegte mich schnurstracks auf Ü zu.

„Na, du alter Kameltreiber. Wie ist die Lage?“

„Papa, mein deutscher, fast immer nach Alkohol und billigem Parfüm duftender Freund! Nimm Platz und lass dich von Mustafa bedienen“, begrüßte mich Ü freundlich. Er stand auf und gab mir seine zittrige Hand.

Ü war zwar erst Anfang fünfzig, litt aber bereits seit Jahren an Parkinson. Noch mehr litt er aber an seiner kleinen Statur: Er war nur etwa einssechzig groß und trug daher fast immer Plateauschuhe, die ihn schlappe zehn Zentimeter in die Höhe gehen ließen. Als Gangsterboss musste man schließlich auch auf sein Äußeres achten. Immerhin ging in unserer Stadt – Schätzungen zufolge – jeder vierte gerauchte Joint und jeder fünfte Fick mit einer Prostituierten auf sein Konto.

Ich bestellte bei Mustafa einen Döner ohne Zwiebeln, eine Portion Pommes weiß und ein Helles. Ich fühlte mich wohl, nahm einen kräftigen Schluck aus der Halbliterflasche Bier und streckte meine Beine bequem aus. Eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber und genossen unsere Getränke (Ü hatte sich einen heißen Apfeltee bringen lassen).

„Hast du auch schon das Skelett auf dem Motorrad gesehen?“, unterbrach er die Stille irgendwann. „Das ist hier heute schon drei bis vier Mal vorbeigefahren – mit einem Affenzahn, die scheiß Bullen kommen da gar nicht hinterher. Es wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, dann errichten sie Straßensperren.“

Üs wirklichen Namen kannte ich nicht, und ich hatte ihn auch nie danach gefragt. Für mich war er immer nur Ü. Den Spitznamen hatte man ihm angeblich deshalb verpasst, weil sowohl sein Vor- als auch sein Nachname nur so vor „Üs“ wimmelten, förmlich überquollen.

Ein junges Mädchen betrat den Laden, das nach einer Bratwurst in der Semmel verlangte, ansonsten war nicht gerade viel los. Bei der Hitze neigten die meisten dazu, ihre Essenszeiten nach hinten zu verschieben.

„Hast du eigentlich schon mal was von den Pasing-Devils gehört?“, erkundigte ich mich bei Ü. Der zog für einige Momente die Stirn kraus und schüttelte dann bedächtig den Kopf: „Nie gehört, ist das ein Eishockeyverein?“

„So ähnlich …“

Ich orderte noch ein weiteres Helles und näherte mich somit meiner abendlichen Mindestdosis, die bei drei halben Litern Gerstensaft lag. Von irgendwoher erklang wieder ein lautes Dröhnen, Brummen, Klappern, Rasseln oder was auch immer (regelmäßiger Alkoholkonsum wirkt sich negativ auf den Wortschatz aus), das mir bekannt vorkam. Ü und ich guckten uns mit großen Augen an. War das unheimliche Skelett etwa schon wieder unterwegs?

Es war – und hielt sogar in Höhe der Dönerbude an, ohne den überlauten Motor auszustellen. Die hautlose rechte Hand des Skeletts formte diesmal allerdings kein Victory-Zeichen, sondern streckte uns provokativ den emporgereckten Mittelfinger entgegen.

„Du blödes deutsches Rassistengerippe!“, hörte ich Mustafa fluchen. Das Skelett legte mit einem lauten Klacken des Getriebes den ersten Gang ein und machte sich mit kurzzeitig abhebendem Vorderrad wieder vom Acker. Gestreckter Mittelfinger? Das machte mich wütend.

„Das Skelett ist ein Arschloch!“, entfuhr es mir aus voller Kehle. Eine Halbe später hatte ich mich wieder beruhigt und war zumindest entspannt genug, um Moreno anzurufen. Das hatte ich ihm schließlich versprochen, und immerhin gab es ja auch schon etwas zu berichten. Ich zog seine Visitenkarte aus dem Portemonnaie und wählte die Mobilfunknummer, die er mit Kugelschreiber eingekreist hatte.

„Papa hier am Smartphone, ich habe eine gute Nachricht für Sie: Die Pasing-Devils gelten als harmlos, haben bürgerliche Jobs und sind daher überhaupt nicht mit den bekannteren Motorradclubs zu vergleichen.“

Am anderen Ende der Leitung hörte ich Moreno erleichtert durchschnaufen.

„Morgen werde ich bei denen aber auch noch persönlich im Clubhaus vorstellig werden und Ihnen im Anschluss davon berichten. Dann können wir gemeinsam beratschlagen, wie wir weiter vorgehen.“

Mutter ?

Als ich gegen Mitternacht meine Wohnung betrat, war ich voll wie ein Pisspott. Bei Ü gab es noch ein paar Halbe (die hätte ich aber locker weggesteckt) und einige Gläser Raki (die gaben wohl den Ausschlag). Einen kleinen Absacker und eine Gutenachtzigarette wollte ich mir aber noch gönnen, denn der beschwerliche Rückweg (ich musste immerhin zweimal die U-Bahn wechseln) hatte meinen Bierdurst wieder neu entfacht.

Zunächst schaffte ich es aber erst mal, mit einer ungeschickten Handbewegung den übervollen Camel-Aschenbecher aus Glas vom Couchtisch zu bugsieren. Ich beglückwünschte mich einmal mehr, auch für den Wohnzimmerbereich pflegeleichte Fliesen angeschafft und selbst (mit ordentlicher Hilfe von meinem Assistenten Manfred) verlegt zu haben. Handfeger und Kehrblech sollten also für die Beseitigung der Asche und der abgebrannten Stummel schon vollkommen ausreichen.

In der Besenkammer stand dann allerdings meine Mutter rum, die bereits vor mehr als zehn Jahren verstorben war. Sie trug eine klassische hellblaue Kittelschürze und starrte geistesabwesend vor sich hin, von mir nahm sie überhaupt keine Notiz. Ich beschloss, direkt ins Bett zu gehen, um die Asche würde ich mich am nächsten Morgen kümmern, und verabschiedete mich noch kurz von meiner Mutter. Dann schloss ich die Tür zur Besenkammer und ließ mich auf meine bequeme Tempur-Matratze fallen. Halluzinationen hatte ich bisher vom Saufen noch nie bekommen – war das etwa schon Delirium-Demenz (oder wie auch immer sich das schimpfte) oder gab es das nur beim Alkoholentzug? Ich nahm mir vor, dieses Fragenkonvolut gelegentlich abzuklären …

Am nächsten Morgen wurde ich von meinem Kater Charley geweckt, der vor der Schlafzimmertür stand und jämmerlich miaute. Der andere Kater, also der namenlose und vom Alkohol verursachte, hielt sich hingegen noch im Hintergrund, lediglich ein leichter Kopfschmerz war zu bemerken, magenmäßig hatte ich aber alles unter Kontrolle. Der Asche- und Kippendreck auf dem Wohnzimmerboden hatte sich leider noch nicht selbst weggeräumt. Ich stellte mich jedoch zunächst einmal unter die Dusche, die meine Lebensgeister wiedererweckte. Das tat gut! Kleidungstechnisch entschied ich mich für Bermudashorts in Grau und ein rotes T-Shirt. Der heutige Tag sollte schließlich ähnlich heiß werden wie der gestrige, da war sommerliche Kleidung mehr als ratsam.

Aufgrund meiner leichten Adipositas neigte ich zudem zu starkem Schwitzen. Als ich dann die Tür zur Besenkammer öffnete, stand dort dubioserweise immer noch meine Mutter in unveränderter lauernder Position. Ich erschrak etwas und gab meiner Überraschung auch verbal Ausdruck: „Mutter, was machst du da im Schrank? Ich bin doch wieder nüchtern …“

„Was hat das denn damit zu tun, ob du nüchtern bist oder nicht, mein Junge? Ich stehe nun mal hier im Schrank – was dagegen?“, erwiderte sie bestimmt.

Ich kratzte mich am Kopf, der auch schon mal mehr Haare beherbergte, und geriet ins Grübeln. Meine Mutter stand also bei mir in der Besenkammer, was allerdings nicht gerade ein angemessener Ort für eine Verstorbene war.

„Möchtest du nicht vielleicht rauskommen? Ich kann einen Kaffee aufsetzen und ein paar belegte Semmeln vom Bäcker holen.“

Keine Reaktion, Mutter zog nur für einen winzigen Augenblick ihre Augenbrauen hoch.

„Es gibt ja auch viel zu erzählen, wir haben uns ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie lange bist du jetzt tot … elf Jahre?“

Mutter schüttelte entschieden ihren Kopf: „Ich bleibe hier im Schrank, basta, also laber mich jetzt nicht voll.“

Ich schnappte mir den Handfeger und das Kehrblech und schloss die Tür schwungvoll. Das Malheur auf dem Wohnzimmerboden war fast beseitigt, als mein Telefon klingelte. Aha, Manfred wurde im Display angekündigt, anscheinend hatte er endlich seine Mailbox abgehört. Ich war gespannt, in welcher Verfassung er sich befand, denn Manfred war bekennender Quartalssäufer. Wenn er in einer Trunkenheitsperiode steckte, war er praktisch zu überhaupt nichts zu gebrauchen, dann war er dermaßen dauervoll und unansprechbar, dass er sich kaum seine Straßenschuhe zubinden konnte.

„Papa hier am Smartphone“, meldete ich mich erwartungsvoll.

„Manfred hier“, erwiderte mein Assistent mit klarer und fester Stimme. Das klang gut, er war offenkundig einsatzbereit.

„Manni, alte Stasi-Zipfe, ich habe einen Auftrag für dich: Du darfst mich heute Abend zu einer Rockerparty begleiten. Zieh dich entsprechend an. 19 Uhr hier bei mir. Du fährst, ich trinke. Noch Fragen?“

„Nein, Chef.“

Das war gut gelaufen. Ich machte mir einen Latte macchiato und setzte mich vor die Glotze. Ob auf den Nachrichtensendern wohl Berichte über das Skelett liefen? Auf n-tv war die Bundeskanzlerin zu sehen, die eine Ansprache vor dem Bundestag hielt, während N24 mit der Wettervorhersage (Hoch Ulrich) glänzte. Ich zappte noch gelangweilt durch die Kanäle, blieb aber nirgendwo hängen, keine Sendung drängte sich so wirklich auf. Nach einiger Zeit schlief ich dann auch auf dem Sofa ein und geriet in einen heftigen Albtraum.

 

Vater ?

Ich befand mich einer Fußgängerzone, irgendwo in einer deutschen Großstadt. Die Geschäfte hatten geschlossen, aber es war noch taghell. Andere Fußgänger konnte ich nicht erblicken, dafür sah ich – etwa fünfzehn Meter von mir entfernt – ein Rudel Hunde, das sich an einigen umgestürzten Abfalleimern sammelte und über dort verstreut umherliegende Lebensmittelreste hermachte. Ich ging näher an die Meute heran. Die Hunde wurden auf mich aufmerksam und wandten sich von den Mülltonnen ab. Das Rudel war recht heterogen zusammengesetzt, ich erblickte Dackel, Golden Retriever, Collies und einige Mischlinge, die jedoch alle eine Gemeinsamkeit hatten: Sie kamen auf mich zu, knurrten bedrohlich und fletschten die Zähne. Mein rechtes Bein wurde warm. Das kam vom Urin, der meine Bluejeans mit einem großen dunklen Fleck einfärbte. So was wäre mir außerhalb eines Traumes natürlich nie passiert, doch Träume sind dann halt doch manchmal etwas unrealistisch …

Auch mein weiteres Verhalten wäre so im wahren Leben niemals aufgetreten: Ich blieb wie festgenagelt stehen und wartete auf die Hundemeute, die sich bereits bis auf wenige Meter genähert hatte. Warum rannte ich nicht weg? Mein passives Traumverhalten machte mich sauer. An der Spitze der Hundemeute befand sich ein kleiner Dackel, der schien der Chef im Ring zu sein. Seine Schnauze war blutverschmiert.

„Kannst du Pfeife es noch nicht mal mit ein paar wild gewordenen Straßenkötern aufnehmen?“, hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme. Sie gehörte zu meinem Vater, aber ich traute mich nicht, mich umzudrehen.

„Das sind keine gewöhnlichen Straßenköter, sondern reißende Bestien“, verteidigte ich mich.

Meinen Vater schien dies Argument nur wenig zu beeindrucken: „Klar, du findest ja auch für alles eine Ausrede. Bei der Prüfung zum Freischwimmer hattest du zu viel Wasser geschluckt, beim Abi war es die verflixte Prüfungsangst, und die paar Schoßhündchen zeigen dir gleich, was eine Harke ist, weil es sich nicht um gewöhnliche Hunde, sondern um reißende Bestien handelt. Du bist ein Verlierer, stell dich doch einfach dieser unumstößlichen Tatsache!“

Dieser Arsch versaute mir den ganzen Albtraum! Im realen Leben hatte ich ihn seit der Beerdigung meiner Mutter nicht mehr gesehen (es gab auch keine Telefonate, Postkarten, E-Mails, SMS oder Telefaxe), aber anstatt mir die Möglichkeit zu geben, ihn komplett zu verdrängen, drang er in regelmäßigen Abständen in meine Traumwelt ein und demotivierte mich dort mit seinen zynischen Kommentaren. Vielleicht hätte ich ja ohne seine schlauen Sprüche noch irgendwie die Kurve bekommen, hätte eine Waffe aus der Tasche gezogen und die Hunde, einen nach dem anderen, mit Grandezza abgeknallt. Oder ich wäre mit fast übermenschlicher Geschwindigkeit davongelaufen, so schnell, das selbst die Hunde keine Chance gehabt hätten, an mir dranzubleiben. Doch auch in Träumen haben wir kein Hätte-wäre-Land, und so verwunderte mich das Finale nicht besonders: Einem der Hunde gelang es, mich zu Boden zu werfen, und nahezu zeitgleich stürzte sich die Meute auf mich. Überall wurden rasiermesserscharfe Zähne in meinen Körper gerammt, die Schmerzen waren unerträglich. Ich erwachte klitschnass – was allerdings auch von der immensen Hitze, die an diesem Juli-Tag herrschte, herrühren konnte.

Die Pasing Devils

Manfred kam pünktlich, um mich abzuholen. „Da bin ich, Chef – zu allen Schandtaten bereit“, begrüßte er mich freudig.

Er hatte sich ähnlich aufgestylt wie ich: Bluejeans, halbhohe Lederstiefel und ein weißes T-Shirt, und eine abgewetzte Lederjacke hielt er noch in den Händen. Wir sahen nicht einmal ansatzweise aus wie Motorradrocker, aber das war egal.

So machten wir uns auf zu Mannis VW Passat, der vorausschauend unter einer großen Eiche geparkt war. Im Inneren war es angenehm kühl, und die Klimaanlage sollte diesen Zustand auch während der gesamten Fahrt aufrechterhalten. Ich instruierte meinen Assistenten, worum es bei dem Auftrag im Groben ging.

„Ich habe das zwar so noch nicht mit Moreno abgesprochen, aber mein Plan geht in die Richtung, dass wir dem Filius den Spaß an den neuen Freunden verderben. Wenn wir das Bild, das er von den Pasing-Devils hat, über den Haufen werfen, wird er sich enttäuscht von ihnen abwenden. So ähnlich wie damals bei der Achtzehnjährigen, die sich dieser komischen Sekte in Frankreich angeschlossen hatte. Du erinnerst dich noch, oder?“

Manfred bejahte und merkte an: „Wenn man vielleicht rausfinden würde, dass einer von den Rockerchefs ein Homo ist, würde das doch vielleicht schon reichen, oder?“

Ich guckte auf die Uhr. Manfred war jetzt nach circa dreizehn Minuten auf sein Lieblingsthema Homosexualität zu sprechen gekommen – ein eher durchschnittlicher Wert, den ich dennoch in der Notizen-App meines Smartphones eintrug.

Ich war schon auf die nächste Monatsauswertung, die für den Juli, gespannt, die sollte dann auch endlich wieder ein repräsentatives Bild ergeben. Der Juni hatte ja aufgrund einer zweiwöchigen Urlaubsabwesenheit von Manfred (Thüringer Wald, viel gewandert) nur sehr wenige Zahlen mit geringer empirischer Aussagekraft geliefert.

„Von hinten kommt das Skelett angedonnert, Chef!“

Ich schaute in den fleckigen Rückspiegel. Wir standen an einer roten Ampel, die Geschwindigkeit des heranbrausenden Skeletts nahm jedoch nicht ab, eher noch zu. Die rote Ampel geflissentlich ignorierend, überholte uns das Skelett links und durchquerte mit mehr Glück als Verstand den kreuzenden Verkehr. Das war knapp!

„Was hatte das Skelett denn da auf den Rücken geschnallt?“, fragte ich. Vielleicht hatte Manfred das ja vom Fahrersitz aus besser erkennen können.

„Das sah aus wie eine Schrotflinte oder so was in der Richtung …“

Mich überkam ein leichter Schauer. Was hatte das Skelett bloß vor? Woher kam es, was wollte es mit der Waffe und warum, zum Teufel noch mal, lief bzw. fuhr es mir ständig über den Weg?

„Laut Navi sind es jetzt noch etwa zwei Kilometer, dann haben wir unser Ziel erreicht, Chef.“

Manni sprach trotz seiner sächsischen Herkunft ein astreines Hochdeutsch. Nur bei Wutanfällen – und die gab es bei ihm allerdings häufiger, meistens waren dann „Homos“ involviert – verfiel er in seinen Ursprungsdialekt. Das Navigationssystem vermeldete, dass wir unseren Zielort erreicht hatten. Der Club hatte sich ein altes Tankstellengebäude zurechtgemacht – das hatte schon was. Auf einem davor stehenden Schwenkgrill brutzelten einige Fleischwaren, die verführerische Düfte absonderten. Das Schönste am Sommer ist halt doch die Grillerei, da gibt es nichts!

Manni katapultierte seine hagere, drahtige Gestalt aus dem Auto und zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

„Schon ein paar Homos entdeckt?“, erkundigte ich mich fürsorglich.

„Der da vorne, der neben dem grünen Motorrad steht, der sieht mir nicht ganz koscher aus, das könnte eine Schwuchtel sein“, erwiderte mein Assistent todernst in einem konspirativen Tonfall.

Viel war noch nicht los. Ich erblickte circa sechs bis sieben Biker, einer davon näherte sich uns mit raschen Schritten.

„Nicht so schüchtern, die Herren, immer hereinspaziert!“, rief uns ein hochgewachsener Rocker mit beachtlicher Bierplauze freundlich entgegen. „Ich bin Heinz Siekmann, aber ihr könnt mich Heinzi nennen. Ich bin der Präsident von diesen wilden Kerlen.“

So wild kamen die mir zum Teil zwar nicht gerade vor, aber nun gut. Heinzi führte uns ins Innere des Clubhauses, wo uns eine imposante Theke und mehrere gemütlich wirkende Sitzecken empfingen. Natürlich war alles – das hatte ich nicht anders erwartet – auf Amiland gemacht: Die Wand hinter der Theke war mit einem überdimensional großen Bild der New Yorker Skyline bedeckt, es gab einen knallroten Kühlschrank, der nicht mit Coca-Cola-Schriftzügen geizte, und das Motorrad, das in der Mitte des etwa zehn mal sieben Meter großen Raumes stand, besaß einen als Star-Spangled Banner geairbrushten Tank. Heinzi fiel sofort auf, dass meine Blicke auf das Motorrad fielen.

„Das ist ein geiles Teil, oder? Wir hatten das auch mal mit einem Skelett in Cowboystiefeln geschmückt, aber das ist seit einigen Tagen verschwunden, das muss irgendein Scherzkeks geklaut haben …“

Er zog seine etwas zu weit sitzende Hose hoch und grinste uns an: „Aber nicht das ihr jetzt auf falsche Gedanken kommt: Unser Skelett saß hier immer nur friedlich und apathisch rum, das konnte nicht Motorrad fahren wie das Ding da auf YouTube.“

Manni und ich versorgten uns an der Theke mit kalten Getränken und gingen dann wieder nach draußen. Heinzi hatte sich dort zwischenzeitlich anderen Neuankömmlingen zugewandt, die er ebenso herzlich wie uns begrüßte. Moreno junior konnte ich noch nicht entdecken. Sein Vater hatte mir noch einige Bilder gemailt, die einen etwas grobschlächtig aussehenden Bodybuildertypen mit fettigen Haaren zeigten.

Heinzi kam jetzt wieder zu uns: „Leute, ihr steht da ja am Hintern der Welt. Los, kommt mit, ich zeig euch jetzt mal ein paar echt coole Zeitgenossen.“

Wir dackelten hinter dem Präsi her und wurden zwei weiteren Devils vorgestellt. Shakehands. Der von Manni schon aus zwanzig Metern Entfernung als potenziell schwul eingestufte Biker, der auf den bürgerlichen Namen Sven hörte, hatte einen etwas schlappen Händedruck, und im Vergleich zu seinen meist imposant gebauten Kameraden (entweder sehr groß oder sehr dick oder beides zusammen) sah er auch etwas mickrig aus: dünne Ärmchen, dünne Beinchen, dazu ein Brillengesicht wie ein Gymnasiast mit den Leistungskursen Mathematik und Physik.

„Sven ist Probationary und unser Nesthäkchen“, stellte Heinzi dann auch gleich klar. Sven errötete daraufhin merklich.

„Der Moreno ist zwar noch jünger, sieht aber älter aus, nicht wahr, Nesthäkchen?“ Von einem dreckigen Lachen begleitet, klopfte Heinzi ihm auf die Schulter. Der zweite Biker, der uns vorgestellt wurde, sah schon eher aus wie ein klassischer Motorradrocker: lange schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, Vollbart, stämmige Erscheinung. Bei dem drehte sich vielleicht schon noch die eine oder andere Oma aus der Provinz skeptisch um.

„Stone ist unser Road-Captain“, fügte Heinzi stolz an. „Der plant die Touren, kümmert sich um Unterkünfte und Verpflegung und so. Ein ganz wichtiger Mann für unseren MC. Seid ihr eigentlich auch Biker?“

Als guter Präsi war er naturgemäß ständig auf der Suche nach neuen Mitgliedern.

„Ich fahre Motorrad, allerdings keinen Chopper, sondern eine Yamaha R6“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Mein Assistent gab zum Besten, dass er als Jugendlicher mal eine MZ-125er, die angeblich „locker an die 150 Klamotten“ schaffte, besaß, seitdem aber nicht mehr zweirädrig unterwegs war. Heinzi guckte etwas enttäuscht aus der Wäsche, blieb aber dennoch an uns dran.

„Das mit der Yamaha müssen wir noch mal auf die Tagesordnung setzen. Wäre eine Harley denn nichts für dich? Was meinst du, was du damit für einen Erfolg bei den Weibern hättest …“

Ich guckte mich um und sondierte die wenigen Frauen, die bereits anwesend waren. Das war bisher – mit sehr viel Wohlwollen betrachtet – bestenfalls Münchener Durchschnittsware. Das behielt ich allerdings für mich, denn ich war ja schließlich im Dienst und nicht auf privatem Konfrontationskurs.

„Das glaub ich dir gern, Heinzi. Du, sag mal, ich habe da eben aufgeschnappt, dass du in Versicherungen machst. Hast du da vielleicht mal ein Kärtchen für mich?“

Er nickte eifrig und versprach mir, im Laufe des Abends eine aus seinem Auto (Auto???) zu holen. So langsam füllte sich die Veranstaltung, und ich erblickte jetzt auch Moreno junior, der mit Kartoffelsalat gefüllte Eimer ranschleppte. Er trug noch keine „Colors“ des Clubs, lediglich sein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Devils-Supporter“ zeigte die Verbindung zum Bikerverein. Er war halt noch kein Vollmitglied, sondern Prospect, also Anwärter. Umso besser standen natürlich auch unsere Chancen bei der ganzen Geschichte, denn als Neuling war er dem Club wohl noch nicht allzu stark verbunden. Ansonsten galt: wie der Vater so der Sohn. Rein optisch verband die beiden zwar eher wenig, aber das selbstbewusste und einnehmende Wesen hatte sich offenbar vererbt. Es waren diese gewissen Leute: Sobald sie auftauchten, strömten sie in den Mittelpunkt wie Motten ins Licht und gaben mit jeder Geste, jedem Ausspruch zu erkennen, dass sie dort auch zweifelsohne hingehörten. Sie waren lauter als andere, aufdringlicher als andere, egoistischer als andere – und mit diesen Verhaltensmustern häufig auch durchaus erfolgreicher als andere.

 

Nimm einen Einmannhandwerksbetrieb, liebe Maus, zum Beispiel einen Heizungsinstallateur. Der ehrliche, fleißige Mann bekommt fast zeitgleich zwei Meldungen über nicht richtig funktionierende Heizungsanlagen. Der erste Kunde ist einer von der netten Sorte: viel „bitte“, noch mehr „danke“ und „entschuldigen Sie die Störung“. Der zweite Kunde verfügt über eine qualifizierte Ellbogenmentalität, er mault rum, drängelt und droht (die Reihenfolge kann variieren). Was glaubst Du wohl, welcher der beiden zuerst bedient wird? Genau, richtig geraten! Der Querulant sitzt schnell wieder in seiner angenehm temperierten Wohnung, und der nette Kerl von nebenan, den alle sooooooooooo gern mögen, holt sich eine Lungenentzündung und krepiert jämmerlich in einem Schwabinger Krankenhaus. So sieht das aus, ob es einem gefällt oder nicht.

Moreno hob plötzlich beide Arme und winkte wüst wie ein Fluglotse. „Hey, alle mal herhören, ich habe eben was Interessantes gehört: Das Skelett soll einen Biker abgeknallt haben, hat ihm mit einer Schrotflinte den halben Schädel weggeballert!“

Ein Raunen setzte ein – damit hatte wohl niemand gerechnet, das konnte nun wirklich kein Werbegag mehr sein, nicht mal Benetton hätte sich so etwas getraut.

„Kommt mit rein“, rief einer der Rocker, „das schauen wir uns in der Glotze an!“

In Scharen strömten die Gäste ins Clubhaus, sodass einiger Freiraum am Grill geschaffen wurde, was meinem hungrigen Magen sehr gelegen kam. Manni und ich versorgten uns mit ein paar saftigen Steaks, die hervorragend schmeckten. Der Kartoffelsalat aus dem Zehnlitereimer war allerdings weniger gut, es gibt einfach keine guten „fertigen“ Kartoffelsalate.

„Was hältst du von dem Haufen?“, erkundigte sich Manni bei mir. Ich überlegte. Im Großen und Ganzen entsprach mein erster Eindruck den Erwartungen, die sich nach meinem Gespräch mit Gero gebildet hatten: harmlose Feierabendrocker, in den Augen vieler Anhänger der Bandidos oder Angels (darf man die eigentlich überhaupt in einem Satz unterbringen?) vermutlich ziemliche Poser. Der Abend verlief dann zunächst jedenfalls noch ganz nett. Wir konnten zwar keine bahnbrechenden Informationen recherchieren, sammelten dafür aber einiges an E-Mail-Adressen, Visitenkarten und Namen, die wir den Rockern mithilfe unterschiedlichster Argumente aus den Rippen leiern konnten.

Kurz nach Mitternacht schlug dann jedoch eine Schreckensmeldung ein, die jegliche positive Stimmung zerstörte: Der vom Skelett getötete Motorradfahrer war ein Pasing-Devil gewesen! Eines der Member hatte sich Sorgen gemacht, weil sein Brother Klaus-Otto (Clubname Brandy) trotz der Zusage, ab neun Uhr den Grill zu übernehmen, nicht aufgetaucht war. Er versuchte daraufhin, seinen Kumpel telefonisch zu erreichen, und bekam dann erst nach diversen Anläufen dessen Ehefrau an die Leitung, die ihm unter Tränen von dem feigen Attentat auf ihren Gatten berichtete. An die Möglichkeit, dass es einen von ihnen getroffen haben könnte, hatten die Pasing-Devils nie gedacht. Es war zwar die Rede von einem vierzigjährigen Motorradfahrer aus München, der vom Skelett förmlich hingerichtet wurde – aber konnte es sich bei dem toten Biker um einen Devil handeln? Nein, das konnte und wollte man sich nicht vorstellen. Nachdem der Biker von seinem Telefonat mit der Witwe berichtete, war der Abend natürlich gelaufen, und wir fuhren nach Hause. Im Auto nickte ich dann kurz ein und musste vor meiner Haustür von Manni wachgerüttelt werden.

„Wir sind da, Chef. Telefonieren wir morgen früh?“

Ich streckte mich und gähnte herzhaft.

„Machen wir. Und großes Kompliment, Manni. Das hat mir heute gut gefallen, wie du heldenhaft jedem alkoholischen Getränk aus dem Weg gegangen bist. Zieh doch mal in Erwägung, das dauerhaft so durchzuziehen.“