Seewölfe Paket 8

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10.

Hasard kauerte auf der Fensterbank und hatte die Hände links und rechts von sich an den hölzernen Rahmen gelegt. Er wartete noch, bis der zornige Herbergswirt seinen Standort geringfügig verändert hatte – dann ließ er sich vornüberkippen und hechtete sich auf den Mann. Die zweieinhalb oder drei Yards freier Fall waren in einem Atemzug überbrückt. Brancate registrierte noch, daß über ihm etwas war, aber ehe er sich darauf einstellen konnte, hatte der Seewolf ihn erreicht.

Schwer landete Hasard auf Brancates Gestalt und riß ihn mit sich zu Boden. Es gab einen klatschenden Laut, als sie im Matsch aufschlugen. Brancate brachte es mit einem mörderischen Fluch noch fertig, das Tromblon hochzureißen. Hasard rang mit ihm, Shane und Ferris duckten sich instinktiv, dann ging die Flinte los und entließ ihre höllische Ladung in den Nachthimmel.

Hasard und der bärtige Portugiese wälzten sich im Schlamm. Über und über waren sie mit dem schwärzlichen Morast besudelt, als der Seewolf es endlich fertigbrachte, dem Kerl die Faust unters Kinn zu rammen. Brancate gab einen gurgelnden Laut von sich, schien aber immer noch nicht genug zu haben.

Hasard schlug wieder und wieder zu, während der Wirt versuchte, seine mächtigen Hände um den Hals des Gegners zu schließen. Brancate schaffte dies noch, aber dann verließ ihn unter dem Einfluß eines neuen Kinnhakens jegliche Kraft. Schlaff sank er in den Morast zurück.

Der Seewolf richtete sich auf. Er keuchte, wischte sich Schlamm aus dem Gesicht und drehte sich zu seinen heraneilenden Männern um.

„Shane und Ferris“, sagte er. „Fesselt diesen Mörder und schafft ihn ins Haus. Mit Iporá verfahrt ihr genauso. Ferris, du hast ihn doch wohl hoffentlich nicht zu heftig traktiert?“

„Der Bursche lebt, ich habe eben an seiner Brust gehorcht“, erwiderte der rothaarige Zimmermann grimmig. „Wir sollten auch nach weiteren versteckten Waffen Ausschau halten.“

„Ja, tut das.“ Hasard wollte sich dem Haus zuwenden, aber in diesem Augenblick öffnete sich schon die Tür, und Ben Brighton trat mit Emilia ins Freie.

Die kräftige Frau wehrte sich nach Leibeskräften, aber gegen Ben konnte sie sich nicht behaupten. Als sie das einsah, verlegte sie sich darauf, den wakkeren Ben mit den wohl unflätigsten und gemeinsten Verwünschungen zu überschütten, die die portugiesische Sprache kannte.

„Was ist mit Charutao?“ wollte Hasard von Ben wissen.

„Der liegt im Keller, außer Gefecht gesetzt. Der Profos hat mitgeholfen, den Lümmel zu überwältigen.“

„Und die Abuela?“

„Die hat uns geholfen, wenn ich Ed richtig verstanden habe.“

„Aha“, sagte Hasard. „Dann hätten wir sie ja alle zur Räson gebracht. Übrigens, unsere drei jungen Amazonen liegen sorgfältig verpackt in einer der Kammern des oberen Stockwerks. Ich gehe jetzt rauf und sehe nach, ob sie schon versuchen, ihre Stricke durchzunagen.“ Er trat an den Brunnen und hievte den hölzernen Kübel hoch, der natürlich nie irgendwo hängengeblieben war. Er goß sich einen Schwall Wasser ins Gesicht, ließ das Naß an sich herablaufen und befand sich somit in einem leidlich sauberen Zustand.

„Das Wasser scheint in Ordnung zu sein“, stellte er nüchtern fest. „Wir können die Fässer also tatsächlich damit füllen, sobald wir mit der Familie Brancate fertig sind. Ben, Shane, Ferris, erledigt das bitte. Ich gehe jetzt nach oben. Übrigens, wußtet ihr, daß sich außer uns noch weitere fünf ‚Gäste‘ in diesem aufnahmebereiten Haus aufhalten?“

Sie sahen ihm verblüfft nach, als er jetzt zum Eingang schritt und das Kaminzimmer durchquerte.

Hasard verhielt auf halbem Weg, denn soeben erschien Carberry mit dem bewußtlosen Charutao auf der Bildfläche. Grinsend ließ der Profos den Burschen auf die Holzbohlen des Fußbodens sinken. Er vergewisserte sich, daß er immer noch im Reich der Träume lag, trat dann an den Tisch und goß Riojo-Wein in einen unbenutzten Becher.

„Melde mich zum Dienst zurück, Sir“, sagte er. „Das mit dem Wein war ein Mißgeschick, das mir so schnell nicht wieder passiert.“

„Ich hatte dich nicht rechtzeitig warnen können, Ed.“

„Ich hätte selbst aufpassen müssen. Verdammt, ich war wohl geistig weggetreten. So ein Pech aber auch …“

„Schwamm drüber, Ed.“

„Aye, Sir.“ Carberry griff sich den Becher, marschierte bis vor die Tür der Abuela-Kammer, drückte den Riegel zur Seite und sagte: „Du kannst rauskommen, Oma, das Gefecht ist vorbei.“ Ihm fiel ein, daß er englisch gesprochen hatte, darum wiederholte er das Gesagte in seinem grauenvollen spanischen Kauderwelsch. Erstaunlicherweise schien die Abuela verstanden zu haben.

Sie verließ ihr Zimmer, blieb vor dem häßlichen Riesen stehen und fragte: „Ist das Boot kaputt, Fremder?“

„Si, Rose von Portugal. Du kannst es im Kamin verfeuern, dazu taugt es vielleicht noch.“

„Das werde ich tun“, entgegnete sie mit Würde. „Und nun laßt uns auf den Sieg anstoßen.“ Sie nahm den Becher aus des Profos’ schwieliger Hand entgegen, trank ihn in einem Zug leer und wandte sich an den überraschten Seewolf.

„Kapitän, ich schwöre dir, daß die drei Mädchen nicht wußten, was sie taten. Pinho, dieser Bastard von einem Vater, hatte ihnen immer vorgelogen, daß er und seine Söhne die Ausgeplünderten mit dem Maultierkarren fortbrachten und irgendwo in der Einöde aussetzten. Das ist nicht wahr. Sie haben sie von den Klippen gestürzt oder anders beseitigt. Nie hätten Josea, Segura und Franca dabei als Komplicen mitgemacht.“

„Ich glaube Ihnen“, antwortete Hasard. „Vielen Dank, Senora.“

Er stieg die Stufen zum Obergeschoß hoch und suchte die miteinander verbundenen Zimmer auf, in denen er die fünf gefesselten und geknebelten Männer entdeckt hatte. Er befreite sie, aber sie schliefen immer noch – aussichtslos, sie wachrütteln zu wollen.

Hasard begab sich in die angrenzenden Räume und befreite Josea, Segura und Franca, die immer noch nebeneinander auf der Bettstatt lagen, von ihren Knebeln.

„Wenn ich wüßte, daß ihr keine Dummheiten anstellt, würde ich euch auch eure Fesseln abnehmen“, sagte er.

„So töricht sind wir nicht“, erwiderte Josea mit vibrierender Stimme. „Nicht mehr. Der Padre hat sich selbst verraten und des mehrfachen Mordes überführt. Wir wußten nicht, daß er ein solcher Verbrecher ist, aber wir wollen mit ihm und allen anderen, die bei dem schrecklichen Komplott als Mitwisser dabeiwaren, nichts mehr zu tun haben.“

„Ist das jetzt ehrlich?“ fragte Hasard. Er sah Josea in die großen, dunklen, traurigen Augen.

„Ja“, flüsterte sie. „Und ich bin bereit, für diese meine Worte zu sterben.“

„Ich sorge dafür, daß ihr drei nicht belangt werdet“, entgegnete der Seewolf. Er begann, ihre Fesseln zu lösen, wurde aber kurz darauf durch Schritte unterbrochen, die die Treppe herauf polterten.

Hasard stand auf und trat auf den Flur. Zu seinem Erstaunen erkannte er in der Gestalt, die soeben die letzten Stufen hinter sich brachte, Dan O’Flynn.

Der junge Mann schritt auf ihn zu und sagte: „Da staunst du, was? Nun, die vier Glasen, die Matt, mir, Batuti, Gary, Sam und Bob noch an der Wachablösung fehlten, waren um. Wir wollten gerade an Bord der ‚Isabella‘ zurückkehren, da vernahmen wir alle den Schuß, der hier fiel. Mein Vater ordnete an, ein Trupp Freiwilliger solle sofort losziehen und nach dem Rechten sehen.“

„Du und die anderen fünf?“

„Ja, Sir.“

Hasard lächelte. „Danke für euren schnellen Einsatz, aber hier ist bereits alles geregelt. Los, hilf mir, die Mädchen loszubinden, sie haben eben den Schock ihres Lebens erfahren. Da man gerade dabei ist, Wahrheiten auszuplaudern, halte ich es auch für angebracht, unsere wahre Identität preiszugeben. Wir werden ihnen eben ganz einfach beibringen, daß nicht alle Engländer Teufel sind.“

„Ja, ich finde auch, das wird langsam Zeit“, meinte Dan. Er erblickte in dem offenen Baum hinter Hasard die drei Mädchen und grinste Segura, die ihn fast flehend anschaute, aufmunternd zu.

Nach Mitternacht drehte der Wind. Es blies jetzt nicht mehr aus Westsüdwest, sondern aus Nordwesten. Der Sturm hatte sich gelegt, nur eine mäßige Dünung bewegte die See, und Lucio do Velho konnte die Manntaue entfernen lassen und die normale Besegelung gegen die Sturmsegel seiner Viermast-Galeone „Candia“ austauschen. Unter den letzten zum Land strebenden Wolkenfetzen kletterte er auf das Achterdeck seines nur leicht lädierten Schiffes und hielt eine kurze Ansprache an die Offiziere und das Schiffsvolk.

„Wir haben es geschafft“, sagte er. „Dem Himmel sei Dank, aber bitte vergessen Sie auch nicht, daß es meiner vorbildlichen Schiffsführung zu verdanken ist, wenn wir im Sturm kein größeres Unheil erlitten haben. Der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Manövrierkunst ist die Tatsache, daß wir die anderen Schiffe unseres Verbandes aus den Augen verloren haben, Senores. Die Kapitäne der ‚Sao Sirio‘, der ‚Sao Joao‘, der ‚Extremadura‘ und der ‚Santa Angela‘ waren meiner großen Strategie, gegen den Wetterfeind ins Feld zu ziehen, nun einmal nicht gewachsen.“

„Wir wollen nicht hoffen, daß sie alle gesunken sind, Senor Comandante“, erwiderte der erste Offizier. „Beten wir zum Himmel, daß sie nur den Kontakt zu uns verloren haben und uns bald wieder einholen.“

Do Velho blickte mißbilligend zu dem Ersten. Wie konnte dieser Gimpel es wagen, ihn einfach zu unterbrechen? Do Velho wollte ihm eine geharnischte Antwort geben, doch dann überlegte er es sich doch anders. Bei aller Überheblichkeit erschien es auch ihm nicht angebracht, den abgekämpften, physisch und nervlich ausgelaugten Männern Standpauken bezüglich ihres Benehmens zu halten.

 

„Bei den derzeitigen Windverhältnissen können wir darauf nicht hoffen“, erwiderte Lucio do Velho nur. „Die Schiffe müssen kreuzen, um den Nordkurs halten zu können.“

„Das dauert eine halbe Ewigkeit“, sagte Ignazio, der Mann aus Porto. „Senor, ich glaube, soviel Zeit können wir nicht verlieren.“

Do Velho musterte seinen Bootsmann unter hochgezogenen Augenbrauen. „Wie? Ja, richtig, Ignazio. Ich würde den Seewolf allein jagen, wenn ich könnte, aber ich kann auf die Unterstützung der beiden Galeonen und der Karavellen nicht verzichten. Wir müssen klug vorgehen, klug und taktisch.“

„Wie ist also Ihre Order, Senor Comandante?“ erkundigte sich Ignazio.

„Wir halsen und segeln mit raumem Kurs an der Küste entlang“, sagte do Velho bissig. „Liegt das denn nicht auf der Hand, Bootsmann?“

„Nein – ich meine, selbstverständlich, Senor.“

„Wir müssen in diesen sauren Apfel beißen“, sagte do Velho. „Je eher wir die Segler unseres Verbandes wiedergefunden haben, desto besser. Ich brauche einen vollständigen, schlagkräftigen Verband, bevor ich meine Mission weiterführen kann.“

Die Offiziere – ausgenommen Ignazio – blickten sich untereinander an. Sie fragten sich im stillen, ob es nicht genauso klug, nein, intelligenter gewesen wäre, das Toben des Sturmes an einem geschützten Ort abzuwarten. In diesem Fall wäre der Verband komplett geblieben, und er hätte jetzt, gegen Morgen, ohne weiteren Verzug wieder nordwärts segeln können.

Aber es lohnte sich nicht, mit dem eingebildeten Kommandanten darüber zu diskutieren. Auf Kriegsschiffen wurde nicht debattiert, auf Schiffen der Armada wurden die Befehle der höchsten Vorgesetzten ausgeführt – und damit basta.

Im Morgengrauen richtete Alvaro Monforte sich endlich von seiner Bettstatt auf und vernahm den Bericht des „Captains Philip Drummond“. Josea, Segura und Franca hatte der Seewolf reinen Wein einschenken können, was seine Herkunft betraf — dem Kapitän eines portugiesischen Kriegsschiffes gegenüber durfte er das aber weiß der Himmel nicht tun.

So hatte Hasard die Mädchen zum absoluten Stillschweigen verpflichtet, nachdem er von ihnen erfahren hatte, um wen es sich bei den fünf schlafenden Männern handelte.

Monforte nickte verdrossen, als Hasard geendet hatte.

„So“, sagte er. „Das war also die großartige ‚Hilfe für Schiffbrüchige‘. Por Dios, in was für ein Räuber- und Mördernest sind wir doch geraten. Erst der Untergang unserer Galeone – und dann dies. Wenn Sie und Ihre Männer nicht gewesen wären, Capitán Drummond, hätten der Erste, der Decksälteste, der Soldado, der Decksmann und ich jetzt am Fuß der Klippfelsen neben den Leichen unserer Kameraden gelegen.“

Dan war eingetreten und meinte: „Ich habe mich also doch nicht verhört, als ich Matt von dem Krachen und Schreien erzählte. Himmel, wenn wir gleich die Felsen hinuntergeklettert wären, hätten wir vielleicht noch etwas für Ihre Mannschaft tun können, Capitán Monforte.“

„Nein, sicherlich nicht. Da war absolut nichts mehr zu machen – wir waren alle unserem Verhängnis ausgeliefert, niemand konnte seinem Schicksal entgehen. Senor Dummond, helfen Sie uns, unsere Toten mit seemännischen Ehren zu bestatten?“

„Darauf können Sie sich verlassen. Darf auch ich Sie um einen Gefallen bitten?“

„Das ist doch selbstverständlich.“

„Schaffen Sie die Brancates mit dem Maultierkarren in die nächste Stadt, wenn wir in See gehen“, sagte der Seewolf. „Sie werden verstehen, daß wir keine Zeit damit verlieren können und es außerdem viel mehr Gewicht hat, wenn Sie die Verbrecher an die Gerichtsbarkeit ausliefern und vortragen, was geschehen ist und welche Schuld Pinho, Emilia, Charutao und Iporá Brancate auf sich geladen haben.“

„Ja, das sehe ich ein. Aber was ist mit der alten Frau und den drei Mädchen, Capitán?“

„Sie haben sich einer gewissen Komplicenschaft schuldig gemacht“, entgegnete Hasard ernst. „Aber sie wußten nicht, daß es Beihilfe zum Mord war. Die Abuela hat mitgeholfen, die vier Oberhalunken festzunehmen, und Josea, Segura und Franca sind bereit, gegen ihre Eltern und Brüder auszusagen. Ich finde, das hat Gewicht genug.“

„Wir könnten sie also vor einer Gefängnisstrafe bewahren, wenn ich mich dafür einsetze“, sagte Monforte.

„Tun Sie es?“

„Ja. Da dieser Vorschlag von einem Mann wie Ihnen erfolgt, Capitán Drummond, kann ich nur einwilligen. Sicherlich täuschen Sie sich nicht, wenn Sie mir zu verstehen geben, daß die Abuela und die Mädchen keine neuen Schandtaten aushekken.“

„Sie tun es ganz sicher nicht.“

Monforte stand auf, trat ans Fenster und blickte zur See, die man in der Ferne unter milchigen Schleiern mehr ahnen als sehen konnte. „Sie gehen also wieder in See – mit welchem Kurs?“

„Nordwärts“, antwortete Hasard. „Heim nach Irland. Dublin ist unser Heimathafen.“

„Sollten Sie unterwegs meinem Comandante begegnen, dann grüßen Sie ihn von mir“, sagte Monforte bitter. „Richten Sie ihm aus, daß ich ein Disziplinarverfahren gegen ihn anstrengen werde – weil er meine Männer auf dem Gewissen hat.“

„Hat er sich so verantwortungslos verhalten?“

„Ja. Ich kenne keinen Verbandsführer, der so rücksichtslos ist wie er.“

„Kann man seinen Namen erfahren?“ fragte Dan O’Flynn.

„Lucio do Velho“, erwiderte Alvaro Monforte freimütig.

Hasard und Dan blickten sich an. Sie standen da wie vom Donner gerührt und waren heilfroh, daß der portugiesische Kapitän sie in diesem Augenblick nicht beobachtete.

„Man nennt ihn den ‚Milagrolado‘“, fuhr Monforte wie im Selbstgespräch fort. „Ja, er scheint in Südafrika wie durch ein Wunder dem sicheren Tod entgangen zu sein. Ich kenne nicht die ganze Geschchte, aber ich lege auch keinen Wert darauf, sie zu erfahren. Mir geht es nur um eins: daß man do Velho zur Ordnung ruft – ja, daß man ihn degradiert.“

„Capitán“, sagte der Seewolf, der sich jetzt wieder gefaßt hatte. „Erzählen Sie mir mehr über diesen Lucio do Velho. Vielleicht bin ich ihm irgendwo schon einmal begegnet. Und vielleicht treffe ich ihn wirklich schon bald wieder und kann ihm tatsächlich sagen, was Sie mir mit auf den Weg geben.“

Monforte wandte sich um und musterte Hasard. „Auch das würden Sie allen Ernstes für mich tun?“

„Dies und noch einiges mehr würde ich do Velho auseinandersetzen“, erklärte der Seewolf.

Nur Dan O’Flynn verstand, wie das gemeint war, denn Monforte konnte ja nicht ahnen, daß Hasard die Spur seines Erzfeindes wiedergefunden hatte …


1.

Es waren erbarmungswürdige Gestalten, die der Ausguck im Großmars der Viermast-Galeone „Candia“ an diesem milden, sonnigen Junimorgen 1587 in einem Boot an der südlichen Kimm erblickte. Eben erst waren sie aufgetaucht, so unvermittelt, als hätte es sie vorher nie gegeben, aber schon vermochte der Ausguck auf seinem luftigen Posten die Einzelheiten ihrer Gesichter auseinanderzuhalten. Die Luft war klar, der Wind aus Nordwesten hatte die milchigen Schleier fortgekehrt, die im Morgengrauen über den Atlantik gezogen waren.

Deutlich hoben sich die Männer in der Jolle durch die kreisrunde Optik des Spektivs vom Hintergrund ab. Sie hockten zusammengesunken auf den Duchten und schienen von den Seglern, die sich auf sie zubewegten, überhaupt keine Notiz zu nehmen.

Und doch mußten sie sie bemerkt haben, denn wenn der Ausguck der „Candia“ das kleine Boot gesichtet hatte, dann mußten die Schiffbrüchigen die Galeone und die Karavelle des einst so stolzen Verbandes allemal entdeckt haben – auch ohne Fernrohr. Die Sonne stand noch als glutiger Feuerball im Osten über dem Festland und konnte keinen Mann, der nach Norden Ausschau hielt, blenden. Ja, auf diese Distanz mußten die Bänner im Boot ihre Retter mit bloßem Auge sehen können.

„Senor Comandante!“ schrie der Ausguck der „Candia“ aufs Deck hinab. „Treibendes Boot voraus! Wir segeln genau darauf zu!“

Im selben Augenblick ließ auch der Ausguck der spanischen Kriegskaravelle „Santa Angela“ einen Ruf vernehmen. Auf beiden Schiffen liefen Offiziere, Decksleute und Soldaten nach vorn und erklommen das Vorkastell, um die Entdeckung ebenfalls in Augenschein zu nehmen.

Erst jetzt hoben einige der entkräfteten, zerlumpten Gestalten in dem Boot die Hände und winkten den beiden Schiffen träge zu. Sie fanden augenscheinlich nur noch einen winzigen Rest Energie, um Zeichen zu geben und heisere Schreie auszustoßen – das Pullen hatten sie längst aufgegeben. Das Segel, das nur noch in Fetzen an dem niedrigen Mast des Bootes hing, konnte ihr Fahrzeug auch nicht mehr voranbewegen, so daß sie den Meeresströmungen ausgeliefert waren und mit unbestimmtem Kurs an der portugiesischen Küste entlangtrieben.

Die Erschöpfung und die Verzweiflung hatten diese Männer zu willenlosen Marionetten in der unendlich wirkenden Weite der Wasserwüste werden lassen.

Sie waren nervlich zerrüttet und körperlich nahezu zugrunde gerichtet. Die Geschehnisse der Sturmnacht hatten sie nachhaltig gezeichnet, Hunger und Durst hatten ein Weiteres bewirkt. Sie hatten sich hingesetzt, hatten vor sich hingestarrt, kein Wort mehr gesprochen und auf den Tod gewartet.

Lucio do Velho stand jetzt an der vorderen Schmuckbalustrade der Back der „Candia“ und spähte durch sein Spektiv zu den Schiffbrüchigen hinüber. Zu seinen Füßen erstreckte sich die Galionsplattform der großen Galeone, darunter rauschte die Bugsee. Der frische raume Wind blähte die Blinde unter dem Bugspriet, wie er die gesamte Besegelung der „Candia“ wölbte und dem Schiff beachtliche Fahrt verlieh. Sie war kein altes Schiff, diese Viermast-Galeone, sie war vielmehr erst knapp mehr als zwei Jahre alt und in ihrer Bauweise, Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit einer der modernsten Kriegssegler, den die Armada zu bieten hatte.

Respektvollen Abstand hielten die Offiziere der „Candia“ von ihrem Kommandanten – ganz zu schweigen von dem „gemeinen Schiffsvolk“, das auf diesem wie allen anderen Kriegsschiffen des Vereinten Königreiches Spanien-Portugal aus Seeleuten und Soldaten bestand. Keiner traute sich zu nah an diesen äußerlich nicht sonderlich auffälligen, seinen Charaktereigenschaften nach jedoch zu fürchtenden Mann heran.

Keiner, außer Ignazio. Der bullige Mann aus Porto war auch diesmal vom Achterdeck aus seinem Kapitän nachgeeilt und verharrte nun neben ihm, um ihm mit „Rat und Tat“ zur Seite zu sein. Keiner ertrug den beißenden Spott und die Ungerechtigkeiten des Lucio do Velho so geduldig wie dieser Ignazio, keiner verfügte über ein so dickes Fell wie er. Wie Ignazio es fertigbrachte, unter do Velhos Fuchtel zu existieren, da doch unzählige gestandene Kerle an der Unberechenbarkeit des Kommandanten zerbrochen waren – dies war sein Geheimnis.

Wahrscheinlich wußte er es selbst nicht genau, warum er do Velho in solcher Treue verbunden war, warum er noch nicht desertiert oder wegen Insubordination bestraft war. Mit Leichtigkeit hätte do Velho diesem recht einfältigen Bootsmann der „Candia“ etwas anhängen können, wie es seiner überheblichen, unduldsamen Wesensart entsprach. Do Velho drohte es auch immer wieder an, daß er Ignazio degradieren und von seinem Schiff weisen würde, aber letztlich setzte er es dann doch nicht in die Tat um. Im Gegensatz zu dem Bootsmann war er sich dabei über die Gründe seines Handelns voll bewußt.

Ignazio hatte ihm, do Velho, schon zweimal das Leben gerettet. Einmal bei Formosa und einmal in Südafrika, im Land der Buschmänner. So absurd es klang: Solange Ignazio an do Velhos Seite weilte, schien der Tod immer wieder an ihnen vorbeizuschlüpfen und der Höllenfürst sie zu verachten.

Dies war ausschlaggebend für Lucio do Velho, sonst hätte er sich des geistig ganz und gar nicht beschlagenen Mannes längst entledigt.

Do Velhos Gesicht war ausdruckslos und undurchdringlich. Ohne sichtliche Gemütsregung betrachtete er die Männer im Boot.

„Senor!“ rief der Ausguck. „Es sind die Männer der ‚Extremadura‘, ich habe sie erkannt!“

„Ja“, sagte do Velho. „Ungefähr ein Drittel der Besatzung, und der Kapitän ist nicht mit dabei.“

„Vielleicht stoßen wir noch auf das zweite Boot der Karavelle“, erwiderte Ignazio.

„Das glaubst du wirklich?“

„Ich hoffe es, Senor.“

Do Velho würdigte seinen Bootsmann nicht einmal eines Seitenblicks, er schaute weiter durch sein Spektiv voraus.

 

„Ich habe das untrügliche Gefühl, daß wir die einzigen Überlebenden des Untergangs der ‚Extremadura‘ vor uns haben“, sagte er. „Gäbe es auch das zweite Beiboot noch, dann hätten die Insassen versucht, den Kontakt mit den Kameraden nicht zu verlieren. Aber dir, Ignazio, fehlt natürlich der Scharfsinn, um eine solche Feststellung zu treffen.“

Der Mann aus Porto entgegnete diesmal nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Daß er nur versuchte, die Situation zu beschönigen, da doch offensichtlich war, daß sie einen Fehler begangen hatten, als sie dem Sturm getrotzt hatten, statt sich unter Land oder in einer Bucht vor dem Toben des Wetters zu schützen? Ein paar ehrliche Worte hätten in diesem Fall garantiert bewirkt, daß do Velho die Beherrschung verloren hätte. Den Kommandanten durfte keiner kritisieren, auch wenn er seine Untergebenen mal nach ihrer Meinung fragte.

„Sieh sie dir an“, sagte do Velho. „Eigentlich sollten sie hocherfreut sein, daß wir umgekehrt sind und sie gefunden haben. Aber sie können nicht einmal richtig winken, und ihre Gesichter gleichen Totenmasken. Ein undankbares Volk ist das.“

„Ja“, antwortete Ignazio. „Eigentlich sind sie es gar nicht wert, daß man sie auffischt, Senor.“

„Ach? Sollen wir also an ihnen vorbeisegeln und sie ihrem Schicksal überlassen?“ fragte der Kommandant lauernd.

„Aber nein, Senor!“

„Siehst du“, sagte do Velho voll Verachtung. „Du solltest es dir wirklich abgewöhnen, mir nach dem Mund zu reden. Ich kriege es ja doch heraus, daß du gegen deine Überzeugung sprichst. Du bedauerst diese traurigen Figuren doch noch, gib es ruhig zu.“

„Sie haben viel durchstehen müssen.“

„Und wir? Haben wir nicht genauso die Zähne zusammenbeißen und gegen das Wüten der Natur kämpfen müssen?“

„Sicher, Senor Comandante.“

Lucio do Velho ließ das Spektiv sinken und sah seinem Bootsmann in die Augen. Sein Blick war bohrend, vernichtend, und insgeheim wünschte sich der Kommandant, Ignazio möge darunter zusammenzukken und vor Respekt zerfließen.

Aber das tat der Mann aus Porto nicht. Seine Verhaltensweisen waren phlegmatischer Natur, außerdem kannte er seinen Vorgesetzten ja nun lange genug, um sich nicht durch jede Geste, jeden Blick einschüchtern zu lassen. Er schob nur seine Unterlippe ein wenig vor und hielt dem tödlichen Ausdruck in do Velhos Augen stand.

„Aber wir haben das bessere Schiff, wolltest du doch sagen“, fuhr do Velho seinen Bootsmann an. „Gib es zu. Wir waren im Vorteil, weil die ‚Candia‘ jeden Sturm abreiten kann, nicht aber die vier Schiffe, die sich in unserer Begleitung befanden.“

„Wir haben den besseren Schiffsführer, Senor Comandante.“

„Du bist ein elender Stiefellecker, Ignazio.“

„Danke, Senor.“

Ohne eine Miene zu Verziehen, fuhr do Velho fort: „Aber es stimmt. Ob man den Tücken der See trotzt, hängt in erster Linie vom Kapitän, nicht von seinem Schiff ab. Auch der Kapitän der ‚Santa Angela‘ ist ein Könner, dieses Lob muß ich ihm erteilen, denn im Gegensatz zum Kapitän der ‚Extremadura‘ hat er es verstanden, seine Karavelle einigermaßen glimpflich durch den Sturm zu bringen.“

„Senor, si.“

„Wir drehen bei und nehmen die Schiffbrüchigen über. Ein Teil entert bei der ‚Santa Angela‘ auf, einen Teil nehmen wir an Bord. Ich habe unter den Männern im Boot den ersten Offizier der ‚Extremadura‘ erkannt. Mit diesem Mann will ich reden. Er wird also bei uns auf der ‚Candia‘ untergebracht.“

„Verstanden, Senor.“

Ignazio wandte sich um und gab den Befehl weiter. Rufe hallten über Deck. Auch drüben auf der „Santa Angela“ wurde auf ein Zeichen von Bord des Flaggschiffes hin die Order zum Beidrehen gegeben. Fast gleichzeitig richteten die Viermast-Galeone und die Zweimast-Karavelle ihr Vorschiff in den Wind, nahmen Zeug weg und glitten mit verringerter Fahrt auf das Boot zu.

Wirklich, die Schiffbrüchigen zeigten keine Begeisterungsstürme, sondern sahen dem Ende ihres unglücklichen Abenteuers eher apathisch entgegen. Sie hatten zuviel erlitten und waren zu abgekämpft, um lachen, weinen, gestikulieren oder lärmen zu können. Aber ihre Teilnahmslosigkeit lag zum Teil auch darin begründet, daß sie alles andere als ein Wiedersehen mit dem Kommandanten Lucio do Velho herbeigesehnt hatten.

Do Velho hatte in Lissabon durch seine Hartnäckigkeit einen neuen Verband zusammenstellen können, mit dem er den Seewolf jagte, aber niemand hatte sich darum gerissen, sich ihm anzuschließen, denn do Velho galt als einer der ungnädigsten, unmenschlichsten Geschwaderführer. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt, er war als „El Milagrolado“, einer, der vom Wunder heimgesucht worden war, berühmt und berüchtigt geworden. In der Tat erschien es wie ein Wunder, daß Ignazio und er nach allem, was ihnen im Land der Buschmänner zugestoßen war, noch am Leben waren. Aber die meisten seiner Untergebenen wünschten sich inständig, jenes Wunder wäre nie geschehen.

Auch jetzt, als die „Candia“ zunächst alle Schiffbrüchigen in Lee übernahm, zeigte der Kommandant nicht den Anflug von Humanität. Der Anblick der Gestalten, die mehr tot als lebendig wirkten, rührte ihn nicht.

Im Gegenteil, er empfand es eher noch als richtig, mit dem ersten Offizier der „Extremadura“ im barschen Tonfall zu verfahren.

„Senor, wo steckt Ihr Kapitän?“

Der Erste der Karavelle nahm vor do Velho Haltung an. Er räusperte sich, um seiner Stimme etwas von ihrer Heiserkeit zu nehmen, aber er hatte Mühe, nicht auf die gleiche rüde Art zu antworten.

„Mit Sicherheit noch an Bord der ‚Extremadura‘, Senor Comandante“, erwiderte er.

„Das heißt, das Schiff ist nicht gesunken?“

„Das heißt, unser Capitán hat mit der ‚Extremadura‘ den ewigen Frieden gefunden, und zwar auf dem Grund der See, Senor.“

„Und da wagen Sie es noch, Witze zu reißen?“ Do Velho brüllte es fast.

„Ich antworte nur auf Ihre Fragen, Senor“, entgegnete der erste Offizier mit bewundernswerter Ruhe.

„Sie werden sich wegen Ihrer dreisten Art noch zu verantworten haben“, sagte do Velho eisig unterkühlt. „Und nicht nur deswegen. Sie werden noch sehen, was Sie sich eingehandelt haben, als Sie Ihr Schiff und Ihre Kameraden im Stich gelassen haben.“

„Mehr als die Hälfte der Besatzung war bereits vor die Hunde gegangen, als der Capitán uns den Befehl gab, von Bord zu springen“, verteidigte sich der Erste. „Die ‚Extremadura‘ sank wie ein Stein, es gab keine Hoffnung mehr. Wir nahmen an, der Capitán würde uns folgen, Senor Comandante, deswegen gingen wir außenbords und griffen uns das Boot, das irgend jemand noch abgefiert hatte.“

„Sie haben ja ein erstaunliches Geschick, Tatsachen zu verdrehen“, meinte do Velho in seiner unvergleichlich ätzenden Art. „Aber damit kommen Sie bei mir nicht durch. Bei mir nicht! Ich weiß, daß die ‚Extremadura‘ hätte gerettet werden können!“

„Ich schwöre, daß ich die Wahrheit gesprochen habe!“ rief der entsetzte erste Offizier. „Meine Leute können es bestätigen. Gott ist unser Zeuge, daß die Dinge sich so abgespielt haben, wie ich es gesagt habe!“

Lucio do Velho winkte ab. Ignazio ließ die übrigen Schiffbrüchigen, die jetzt aufbegehren wollten, zur Ordnung rufen. Stille trat ein, nur unterbrochen durch das Knarren der Rahen und Blöcke.

„Lassen wir das jetzt“, sagte der Kommandant schließlich. „Wir vergeuden nur unsere Zeit. Die ‚Santa Angela‘ haben wir wiedergefunden. Von der ‚Extremadura‘ wissen wir, daß sie nicht mehr existiert. Was aber ist aus den beiden portugiesischen Galeonen ‚Sao Sirio‘ und ‚Sao Joao‘ geworden?“

„Wir wissen es nicht, Senor“, erwiderte der Erste der gesunkenen Karavelle, als sich alle Blicke auf ihn richteten. „Im Sturm verloren wir jeden Kontakt zu den anderen Schiffen.“

„Welches Schiff haben sie als letztes gesehen?“ fragte der Kommandant ungehalten.

„Die ‚Sao Joao‘.“

„In was für einem Zustand befand sie sich?“

„In einem besseren als unsere Karavelle.“

„Und die ‚Sao Sirio‘?“

„Wir verloren sie sehr früh aus den Augen“, sagte der erschöpfte Mann. „Ich sah sie achteraus in Regen und Dunkelheit verschwinden. Sie schien ein Spielball der Wellen geworden zu sein.“