Seewölfe Paket 8

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7.

Der Seewolf blieb vor dem Haus der Brancates stehen. Sein Blick wanderte über die breite Fassade, taxierte die Maße, blieb an Fenstern und Türen hängen und verharrte schließlich auf der Eingangstür, auf die Segura und Franca jetzt zustrebten.

Rechnete man das Kellergeschoß mit, das halb ins Erdreioch eingelassen war, verfügte das Gebäude über drei Stockwerke. Es handelte sich nicht um die üblichen Fischer- oder Bauernhütten, nein, dies war ein solider Bau, der Jahrhunderte überdauern konnte und nicht nur den acht Brancates, sondern nach Hasards Schätzungen auch einer größeren Familie genügend Platz bieten könnte.

Das war sie also, die Herberge. Hasard blickte weiter nach rechts und stellte fest, daß auch der Ziehbrunnen vorhanden war, von dem die Mädchen gesprochen hatten. Soweit schien alles zu stimmen, die Frage war nur, ob das Haus auch tatsächlich so gastlich war, wie Segura und Franca behaupteten.

Hasard schaute sich zu seinen Begleitern um und gab ihnen ein Zeichen. Mit gemischten Gefühlen folgten sie ihm zum Eingang. Ben Brighton blickte sich lauernd nach allen Seiten um und hatte schon die Hand auf den Griff seiner Radschloßpistole gelegt – für den Fall, daß sie jemand aus dem Hinterhalt zu überraschen trachtete.

Jeder hatte sich ein kleines, leeres Faß unter den linken Arm geklemmt, aber die rechte Hand blieb frei. Hasard hatte es seinen vier Männern nicht einzuschärfen brauchen, ständig auf der Hut zu sein. Sie paßten von sich aus auf, denn ihre Erfahrung sagte ihnen, daß nichts, aber auch gar nichts unmöglich war und die ganze Welt voller böser Zufälle war.

Hasard trug zusätzlich zu seinem leeren Wasserfäßchen eine Ledertasche an einem Schulterriemen bei sich. Doch sie behinderte ihn keineswegs so sehr, daß er nicht mehr in der Lage war, rasch eine doppelläufige sächsische Reiterpistole zu ziehen, falls es notwendig wurde.

Shane und Ferris schritten dicht nebeneinander her. Der graubärtige Riese malte sich schon aus, wie es war, wenn gleich die Tür des Hauses aufschwang und ein Trupp wilder Kerle ins Freie stürmte. Ferris Tukker fragte sich immer wieder, wie, zum Teufel, sie eigentlich in diese verzwickte Situation hatten hineinschliddern können.

Das alles wegen dieser vorlauten zwei Mädels, sagte sich der Profos, der ganz hinten in der Gruppe stapfte. Na wartet, wenn ihr was gegen uns ausgeheckt habt, ihr Satansbraten, dann haue ich euch den Hintern voll, soviel ist sicher!

Er packte sein Fäßchen fester — bereit, es jedem Angreifer mit aller Kraft auf den Schädel zu wuchten.

Mit einemmal entdeckte er Sir John. Der Papagei zog seine Kreise über dem mächtigen Profos-Schädel, gurrte und ließ sich zielsicher auf Carberrys Schulter nieder. Zärtlich zupfte er seinem Herrn am Ohrläppchen herum.

„Sir John, du Mißgeburt“, grollte der Profos. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst an Bord bei Old O’Flynn bleiben? Warum bist du mir wieder nachgeflogen, was, wie?“

Hätte Sir John den Inhalt dieser Worte verstanden und wäre er in der Lage gewesen, Sinnvolles in der Sprache der Menschen auszudrükken, so hätte er jetzt geantwortet, daß er den alten O’Flynn nun mal nicht leiden konnte.

So aber krächzte er nur: „Beidrehen! Mann über Bord!“

Carberry verspürte Lust, sich den Vogel von der Schulter zu pflücken und ihm den Hals umzudrehen, aber er beherrschte sich. Er blickte sich statt dessen um und prüfte, ob ihnen etwa auch die Zwillinge nachgelaufen waren. Zuzutrauen war es Philip und Hasard, aber Gott sei Dank, sie tauchten nirgendwo auf.

Segura hatte versucht, die Tür zu öffnen, aber von innen schien ein Riegel vorgeschoben zu sein.

„Padre! Madre!“ rief sie.

Daraufhin schlurften von innen Schritte heran. Jemand hantierte an der Tür, ein Balken schien zur Seite gezogen zu werden – die Tür öffnete sich.

Der Bärtige, der das Rechteck der Tür mit seiner Gestalt ausfüllte, war das Betrachten wirklich wert. Ein echter Koloß war er. Was den Umfang seines Bartgestrüpps sowie seine Körpermaße betraf, konnte er es mit Big Old Shane durchaus aufnehmen. Shane war um ein paar Zoll breiter und größer als Hasard, Ferris und Carberry. Er blickte Pinho Brancate denn auch ziemlich mißbilligend an. War es nicht eine Zumutung, daß jemand es wagte, ihm ähnlich zu sehen?

Brancate breitete die Arme aus und setzte eine Miene auf, als sei er von einer wunderbaren Erscheinung überwäligt.

„Segura, Franca, meine Töchter – por Dios, wen bringt ihr denn da nur mit?“

Segura setzte es ihm auseinander, während sie alle eintraten. Der Vollbärtige schüttelte „Captain Philip Drummond!“ und dessen Begleitern spontan und hocherfreut die Hände.

Segura und Franca berichteten abwechselnd, was sich auf den Klippfelsen abgespielt hatte. Pinho Brancate hörte zu, nickte hin und wieder, schaute zu seinen fünf Besuchern und lud sie durch Gesten ein, doch an dem großen Zypressenholztisch Platz zu nehmen.

Auf dem Tisch zeugte inzwischen nichts mehr davon, daß hier kurz zuvor fünf Schiffbrüchige beköstigt worden waren. Und auch die übrigen Spuren im Kaminzimmer, die einen Verdacht hätten wachrufen können, hatte die flinke Emilia beseitigt, nachdem sie Josea, Charutao und Iporá im Obergeschoß ihre Anweisungen gegeben hatte.

Nur die Korbflasche Wein, Schinken, Wurst und Brot waren auf der wuchtigen Tischplatte zurückgeblieben – als Zeichen, daß die Familie hier über kurz oder lang ihre Abendmahlzeit einzunehmen gedachte.

Als die Mädchen ihre Schilderung beendet hatten, lächelte Pinho seinen neuen Gästen wohlwollend zu. Dann drehte er sich um und rief: „Emilia! Emilia, wo in aller Welt steckst du wieder?“

Emilia trat ein, umarmte kurz und heftig ihre Töchter, begrüßte die Seewölfe und begann auf eine Gebärde ihres Mannes hin, Becher auszuteilen.

„Ja, ja, die Piraten“, sagte Pinho Brancate in einer Mischung aus Portugiesisch und Spanisch. „Sie haben ja gehört, welchen Ärger wir mit diesem Lumpenpack haben, Capitán Drummond. Zweimal haben wir in kopfloser Flucht unser Haus verlassen. Zweimal! Wir haben uns wie die Tiere im Wald verstekken müssen – und als wir nach dem Verschwinden dieser Kerle zurückkehrten, wissen Sie, wie wir da unser Heim vorfanden?“

„Ich kann es mir vorstellen“, entgegnete Hasard. „Alles in allem müssen wohl auch wir, meine Männer und ich, froh darüber sein, bislang an der portugiesischen Küste keinen Seeräubern in die Hände gefallen zu sein.“

Emilia bejahte aufgeregt. „Das müssen Sie, Senor Drummond. Herrje, was hätte Ihnen alles passieren können!“

Hasard wechselte einen kurzen Blick mit seinen Männern. Er wandte sich wieder den Gastgebern zu und zog die Ledertasche auf seine Knie.

Die Seewölfe hatten die Fäßchen in der Nähe der Tür abgesetzt und dann an der klobigen Tafel Platz genommen. Carberry, Shane und Ferris mit dem Rücken zum Kamin, Hasard und Ben ihnen gegenüber an der anderen Seite des Tisches.

„Seltsam“, sagte der Seewolf. „Dabei dachte ich, man hätte allenfalls an den afrikanischen Küsten noch die Seeräuber zu fürchten. In Lissabon, wo ich Holz für den Schiffsbau löschte und Getreide für Irlands Kornspeicher übernahm, wurde mir außerdem versichert, daß die Küsten Iberiens ausgezeichnet bewacht seien – durch die Armada.“

Pinho räusperte sich. Emilia griff zur Korbflasche und schenkte Carberrys Glas als erstes voll.

„Im Prinzip ist das wahr“, erklärte der bärtige Portugiese. „Aber unsere glorreiche Armada wird immer wieder abgelenkt und anderswo gebraucht – was man meistens geflissentlich verschweigt, damit ja keiner glaubt, die Zahl der Schiffe, die Spanien-Portugal zur Verfügung stehen, sei begrenzt.“

„Aha“, erwiderte Hasard, ohne überzeugt zu wirken. „Aber unter uns könnten wir doch ruhig ehrlich sein. Welche Routen segeln die Galeonen Philipps II. denn gerade? Sind sie in die Neue Welt unterwegs? Oder kämpfen sie gegen die dreisten Barbaresken, die vielleicht einen neuen Schlag gegen die christliche Welt planen?“

„Es braut sich was zusammen“, sagte Brancate mit Verschwörermiene. „Ich habe vernommen, daß ein Angriff auf Cadiz stattgefunden hat.“

„Durch die Muselmanen?“

„Nein, durch die Engländer.“

Ben Brighton hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Brancates zusammenfuhren.

„Die englischen Bastarde“, sagte Hasards Erster und Bootsman in täuschend echt gespielter Wut. „Sie begnügen sich nicht mehr damit, gegen uns zu kämpfen, sie fallen jetzt auch über unsere Verbündeten her. Der Teufel soll sie holen!“

Carberrys Augen weiteten sich. Fast hätte er Ben angebrüllt, was ihm denn eigentlich einfalle, das eigene Nest zu beschmutzen, aber rechtzeitig besann er sich darauf, daß sie ja „Iren“ waren. Trotzdem, er mußte seinen Ärger über Bens Äußerung herunterspülen, mit einem kräftigen Schluck Wein.

Er setzte seinen Becher an, ehe Hasard ihn daran hindern konnte. Mit einem tiefen Zug leerte ihn der Profos. Er leckte sich die Lippen, stieß einen wohligen Laut aus, und Emilia schickte sich an, sofort von der dunkelroten Flüssigkeit nachzugießen.

Hasard hatte jetzt eine bauchige Flasche aus seiner Ledertasche gezogen und setzte sie auf dem Tisch ab.

„Aber nein, nein“, sagte er. „Den Begrüßungstrunk liefere ich, das lasse ich mir nicht nehmen. Ben, entkorke die Flasche und schenke die Becher voll. Senor Brancate, beleidigen Sie mich nicht, indem Sie diesen edlen Tropfen ablehnen. Sie wollen doch wohl nicht ihren eigenen Wein trinken, während ich Ihnen einen Riojo kredenze, den mir ein spanischer Freund von der Hafenkommandantur in Lissabon mit auf die Reise gegeben hat?“

„O nein, natürlich nicht“, entgegnete Pinho, der sich ausgezeichnet in der Gewalt hatte. „Hierzulande weiß man, was es heißt, das Geschenk eines Gastes abzulehnen.“ Er schob seinen leeren Becher zu Ben, und Ben kippte ihn lächelnd voll.

 

Carberry wollte Emilia auffordern, ihm doch noch etwas von dem „vorzüglichen portugiesischen Landwein“ einzuschenken, aber der Seewolf schoß einen derart drohenden Blick auf ihn ab, daß er es sein ließ.

Allmählich dämmerte es dem Profos. Er lehnte sich zurück, starrte ausdruckslos auf einen imaginären fixen Punkt und schob seinen Becher gleichfalls zu Ben Brighton hinüber. Ben bediente den Profos, wie es sich gehörte, und der Profos hob seinen Becher, prostete dem Seewolf zu und sagte nicht sonderlich laut: „Auf unser aller Wohl, Sir. Auf daß alle Piraten und Hundesöhne krepieren, Sir.“

Er stürzte den kostbaren Riojo in einem Zug hinunter.

Ben musterte Edwin Carberry besorgt. Wenn der Profos leise sprach, war Holland in Not. Dann konnte es passieren, daß er den Großmast aus dem Kielschwein hob und sich mit dem Großsegel die Nase putzte, dann verschlang er vielleicht auch Sir John samt seinen bunten Federn und derben Sprüchen. Während sich draußen das Wetter zusehends beruhigte, standen hier alle Zeichen auf Sturm, denn Ed hatte begriffen, warum sein Kapitän auf keinen Fall von dem Wein der Brancates kosten wollte.

Pinho Brancate hob seinen Becher. „Auf die Freundschaft zwischen Spanien, Portugal und Irland, Senores!“

„Ja“, sagten die Seewölfe. „Auf gute Freundschaft!“

Sie tranken den Riojo, dann lehnte sich Brancate zu Hasard hinüber und sagte jovial: „Sagen Sie, Capitán Drummond, haben Sie denn tatsächlich Getreide geladen? Keine Waffen, wie?“

„Waffen für Irland? Nein, die geraten auf anderem Weg in unser Land“, erwiderte Hasard. „Außerdem haben wir Korn genauso dringend nötig wie Flinten und Schwarzpulver, das dürfen Sie mir glauben, mein Freund. Ich meine, der Hunger ist Irlands ärgster Feind.“

„Ja, Hunger ist schlimm“, murmelte Emilia.

Hasard packte aus, was er außer dem Wein in seiner Ledertasche mitgebracht hatte – Speckseiten, Mehl, Zucker, Salz und ein frisches Huhn aus der Vorratskammer des Kutschers. Seit der letzten Proviantübernahme waren die Seewölfe mit Eßwaren recht gut eingedeckt. Sie konnten diese Kleinigkeiten erübrigen. Hasard wollte das Spiel auf die Spitze treiben und die Brancates menschlich herausfordern. Er wollte einfach sehen, wie weit das Spiel ging.

„Segura und Franca haben mir erzählt, daß Ihre Familie früher einmal großen Hunger gelitten hat“, sagte er. „Das hat mich zutiefst beeindruckt, und ich wollte auf meine Art zur Besiegelung dieser Freundschaft beitragen.“ Er schob die Lebensmittel auf Emilia zu, aber die lehnte es sofort gestenreich ab, anzunehmen.

„Das können wir nicht akzeptieren!“ rief nun auch Pinho Brancate. „Auf gar keinen Fall! Sie beschämen uns, Capitán Drummond!“

„Ach wo“, antwortete der Seewolf. „Nun nehmen Sie schon hin, Senor. Sie können sich dafür mit etwas Trinkwasser revanchieren, das wir gern in unsere mitgebrachten Fässer füllen würden.“

„Gut“, sagte Brancate. „Aber Sie kriegen noch mehr von uns, nicht nur Wasser.“

„Ja, das glaube ich“, brummte der Profos schläfrig. Er wollte noch etwas hinzufügen, bevor Hasard, Ben, Shane oder Ferris ihn daran hindern konnten, aber dann verschlug es ihm doch die Sprache, denn die restlichen Mitglieder der Brancate-Familie waren eingetreten.

Charutao, Iporá – und Josea.

Den Söhnen des Herbergswirts schenkten die Seewölfe kaum Beachtung, wohl aber der schönen Josea. Sie grüßte freundlich, wechselte ein paar Worte mit ihren Schwestern und half dann der Mutter, Schinken und Wurst zu schneiden und den Besuchern das einfache Mahl auf Tellern vorzusetzen.

Segura stellte eifersüchtig fest, daß ihre ältere Schwester dem Seewolf immer wieder Blicke zuwarf. Hasard merkte das auch, und ein belustigter Ausdruck spielte um seine Mundwinkel. Er stand plötzlich auf.

„Danke, Senor Brancate“, sagte er. „Aber bevor wir etwas zu uns nehmen, erledigen wir die Sache mit dem Wasser. Sie wissen schon: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“

„Wirklich?“ Brancate zuckte mit den Schultern, dann grinste er breit und zufrieden. „Also schön, wie Sie meinen, Capitán Drummond. Aber ich möchte Ihnen einen dieser wirklich vorzüglichen Schinken schenken, die wir in Eigenproduktion herstellen. Josea kann Sie nach oben in den Speicher begleiten, wo die Schinken und Würste aufgehängt sind, während einer meiner Söhne und ich Ihren Kameraden dabei helfen, Wasser aus dem Brunnen heraufzuziehen.“

„Eine gute Idee“, erwiderte Hasard. „Ich schlage Ihr Angebot nicht ab, Senor, weil ich weiß, daß Sie dann wirklich gekränkt wären.“

„So ist es.“

„Senor“, sagte Emilia zu Ben Brighton. „Gehen Sie mit Charutao in den Keller hinunter. Ich möchte, daß Sie etwas von unserer vorzüglichen Kuhmilich in eins Ihrer Fäßchen abzapfen. Die Männer an Bord Ihres Schiffes werden dankbar für diese Abwechslung sein.“

„Ben, das geht in Ordnung“, sagte Hasard.

Carberry gähnte und erinnerte sich zu spät daran, daß man in der Gegenwart von Ladys am besten die Hand vor den Mund hielt.

„Sir, ich komme natürlich mit“, sagte er in seiner Muttersprache, weil Spanisch jetzt viel zu anstrengend war. „Ich mache mich auch nützlich, aye, Sir, so wahr ich hier stehe.“

„Sitze“, brummte Ferris Tucker. „Ed, es wäre besser, wenn du dich irgendwo hinlegen könntest. Du bist ja völlig fertig. Vierundzwanzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen – das setzt einem früher oder später eben doch zu.“

„Was, ich? Vierundzwanzig Stunden?“ Carberry verstand die Welt nicht mehr. Nach seiner Rechnung waren höchstens fünfzehn oder sechzehn Stunden vergangen, seit er seinen Achtersteven aus der Koje im Logis der „Isabella“ gewuchtet hatte – und warum waren die anderen auf einmal so besorgt um ihn?

„Im Nebenzimmer steht eine Liege, Senor“, sagte Pinho Brancate, „dort können Sie sich ausruhen. Bitte keine falsche Bescheidenheit. Segura und Franca, ihr begleitet unseren Freund in das Hinterzimmer hinüber, anschließend geht ihr nach oben und zieht euch trockenes Zeug an. Es nutzt doch nichts, daß ihr vor dem Kamin hockt, ihr holt euch ja noch den Tod nach dem vielen Regen, den ihr abgekriegt habt.“

„Ja, das meine ich auch“, entgegnete Hasard. „Aber jetzt brauchen die Mädchen ja nicht mehr Wache bei der Bucht zu halten. Meine Männer besorgen das. Falls irgend jemand Ungebetenes mit hinterhältigen Absichten auftaucht, geben sie uns Bescheid.“

Segura und Franca verließen mit dem wankenden Carberry den Raum – nicht, ohne noch einen mißgünstigen Blick auf Josea abgeschossen zu haben.

Der Profos seinerseits sandte der schönen Josea einen sehnsüchtigen Blick nach. Er wünschte sich, jetzt an Hasards Stelle sein zu können und mit dem bezaubernden Mädchen die Treppe hinaufzusteigen.

Statt dessen ließ er sich im Nebenraum auf einer Art Pritsche nieder und schlief sofort ein.

8.

Es stimmte: Vom Obergeschoß des Hauses führte eine kurze Stiege bis unter das Dach, und dort baumelten von dicken Balken die Schinken und Würste, von denen Pinho Brancate so schwärmerisch gesprochen hatte. Hasard kletterte hinter Josea die Sprossen der Stiege hinauf und hatte Gelegenheit, ihre schwingenden Hüften zu bewundern. Er hätte einigermaßen beruhigt sein können, als sie jetzt auf dem Dachboden-Speicher verharrte und im Schein eines Talglichtes, das das Mädchen hielt, zu der Pracht schauten, die da aufgehängt worden war. Aber er wurde das dumpfe Gefühl nicht los, daß man sie überwältigen wollte.

„Suchen Sie sich den schönsten aus“, sagte Josea, als sie auf die Schinken zutraten. „Mein Vater will, daß Sie aufs beste bedient werden.“

„Und Sie, Senorita?“

Ihr Blick traf seine eisblauen Augen. Ihre Züge waren weich, unbeschreiblich weich und ebenmäßig – und voller Verheißung. „Ich tue, was der Padre sagt.“

„Dann beraten Sie mich.“

„Man muß ein Geschenk kosten, um zu wissen, wie es schmeckt“, erwiderte sie leise. „Ist Ihnen das nicht bekannt – Capitán?“

„Ich heiße Philip mit Vornamen.“

Sie blieb dicht vor ihm stehen und wandte sich ganz zu ihm um. „Vater würde mich schlagen, wenn er wüßte, daß Sie Josea zu mir sagen.“

„Noch habe ich es nicht getan.“

„Sind alle Iren so – so zurückhaltend?“

Verdammte Koketterie, dachte Hasard, raffiniertes Biest, aber ich lasse mich von dir nicht einwickeln.

„Iren sind Hitzköpfe voller Temperament“, antwortete er verhalten. „Hat dir noch keiner gesagt, daß sie den Portugiesen ähneln, Josea?“

„Nein. Von dir könnte ich viel lernen, oder?“

„Das kommt ganz darauf an.“

„Du bist ein kluger Mann, Philip.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „Es spricht aus deinen Worten, aus deiner Art, dich zu bewegen, daß du weit herumgereist bist und viele Erfahrungen gesammelt hast.‘“

„Ein Narr wird höchst selten Schiffskapitän.“

„Ich mag kluge Männer, und wenn sie zudem noch so gut aussehen wie du, verliere ich den Verstand“, wisperte sie. Sie schloß die Augen. Ihre Hände schoben sich um seine Schultern herum, glitten tiefer, ihr Mund näherte sich seinen Lippen. Stille umgab sie. Man konnte nicht hören, was unten im Haus gesprochen und getan wurde. Sie schienen sich jetzt in einer völlig anderen Welt zu befinden. Hasard erwiderte den Kuß des Mädchens. Weich, warm und verlangend waren diese Lippen – und für einen Augenblick ließ er sich doch von ihren Reizen und Liebkosungen gefangennehmen.

Die Rechnung für seine Leichtfertigkeit kriegte er sofort präsentiert.

Joseas rechte Hand fuhr an seinen Gurt. Sie tat aber nicht, was die meisten Mädchen in dieser Situation nun zweifellos getan hätten – sie verhielt sich völlig anders. Plötzlich hatte sie seine doppelläufige Reiterpistole gezückt, entschlüpfte seiner Umarmung und wich zwei Schritte zurück.

O ja, sie konnte mit der Waffe umgehen. Schnell spannte sie beide Hähne des Radschlosses und zielte auf Hasards Brust.

„Philip Drummond“, zischte sie. „Zwinge mich nicht, auf dich zu schießen. Glaub mir, ich tue es, falls du Widerstand leistest.“

Der Seewolf hatte sich in der Gewalt. Hatte er nicht die ganze Zeit über fest damit gerechnet, daß die Brancates hinter dem Mantel der Herzensgüte und Hilfsbereitschaft ganz bestimmte Absichten verbargen? War dies nicht endlich der Beweis dafür? Die Schleier der Scheinheiligkeit waren gefallen, aber trotzdem erschütterte es ihn, daß ein Mädchen wie Josea an diesem Komplott teilnahm. Er mußte doch um seine Fassung kämpfen.

„Wenn das deine persönliche Art zu scherzen ist, dann hör sofort damit auf“, sagte er leise. „Gib die Pistole her.“

„Nein. Wir gehen jetzt zu Segura und Franca. Sie werden dich fesseln und knebeln, und ich rate dir, nicht zu schreien, um deine Leute zu warnen. Ich will dich nicht töten, aber in dem Fall wäre ich dazu gezwungen, wie gesagt.“

„So ist das also.“ Hasard lächelte hart. „Ich hatte also wirklich recht mit meinen Ahnungen.“

„Versuche nicht, mich zu überlisten“, wisperte sie drohend. „Gehen wir jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Drei hübsche Mädchen, eins davon noch ein Kind, spielen die Lockvögel“, sagte der Seewolf unbeirrt. „Das habt ihr euch fein ausgedacht. Normalerweise gebt ihr den Gästen, die ihr ausplündern wollt, wohl von eurem Wein zu trinken, nicht wahr? Nur, damit habe ich insgeheim gerechnet …“

„Womit?“

„Daß ein Schlafmittel darin ist. Als ich vor einigen Jahren von einer Preßgang an Bord eines Schiffes verschleppt wurde, hatte man vorher auch versucht, mir einen Schlaftrunk einzutrichtern. Es klingt absurd, aber in gewisser Weise kann man von Nathaniel Plymson, diesem Schlitzohr, doch auch was lernen. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, Josea. Mein Profos ist leider darauf hereingefallen und schlummert nun selig. Warum gebt ihr euren ‚lieben Freunden‘, die euch besuchen, nicht gleich Gift zu trinken?“

„Schweig“, raunte sie mit wütend verzerrter Miene. „Wir sind keine Mörder. Die Abuela bereitet den Schlaftrunk zu, wir betäuben die Leute, denen wir etwas von ihrem Besitz abnehmen, und setzen sie später einige Meilen von hier entfernt aus, damit sie nie zurückfinden.“

„Wer das glaubt, wird selig.“

Josea rückte unwillkürlich näher auf ihn zu. „Nie würde ich einen Menschen umbringen, nie, hörst du?“ sagte sie leidenschaftlich. „Und das gleiche gilt für meine Eltern, Schwestern und Brüder. Im übrigen handeln wir aus Notwendigkeit, wenn wir hin und wieder jemanden um sein Hab und Gut erleichtern. Wir wollen nie wieder Hunger leiden, nie wieder. Du weißt nicht, wie grausam das ist.“

 

„Jeder rechtfertigt sich auf seine Weise“, erwiderte er so ruhig wie möglich. „Aber der wirkliche Schurke ist euer Vater, der euch zu Dieben und Strandräubern erzogen hat.“

„Schweig!“

„Woher willst du eigentlich wissen, daß es bei uns etwas zu holen gibt?“

„Segura und Franca haben uns bei Tisch Zeichen gegeben. Wir haben eine geheime Gestensprache.“

„Ziemlich ausgekocht.“

„An Bord eures Schiffes müssen Segura und Franca Wertvolles gesehen haben. Gold, Silber und Juwelen.“

„In meiner Kammer. Dachte ich es mir doch, daß sie diese Entdeckung so schnell wie möglich weiterverraten würden.“

„Ich wette, daß ihr kein Getreide befördert, Capitán“, flüsterte sie. „Ihr habt etwas ganz anderes an Bord.“

„Und wenn es so wäre?“

„Wir werden eure Kameraden dazu zwingen, uns das Schiff zu überlassen. Sie werden es nicht wagen, das Leben ihres Kapitäns und vier seiner besten Seeleute aufs Spiel zu setzen. Während sie sich in den Beibooten aus der Bucht entfernen, werden wir die Galeone von oben bis unten durchsuchen und uns nehmen, was uns gefällt. Später könnt ihr euer Schiff wiederhaben, aber dich, Philip, und deine vier Kameraden lassen wir natürlich an einem anderen Platz wieder frei …“

Es war weniger der Gedanke an den Schatz in den Frachträumen der „Isabella“, der Hasard zum Handeln trieb. Vielmehr bangte er um das Leben seiner Männer, denn Josea konnte ihm viel über ihre „Diebesehre“ erzählen, er glaubte einfach nicht daran, daß Pinho, Charutao und Iporá Ben Brighton, Ferris Tucker, Shane und den Profos mit Samthandschuhen anfaßten.

Unvermittelt tat er einen Schritt auf das Mädchen zu. Ehe sie es sich versah, hatte er ihren Arm mit der Reiterpistole gepackt und halb herumgedreht. Er entriß ihr die Waffe, die Gott sei Dank nicht losging, packte Josea grob mit der freien Hand und zerrte sie zu sich heran.

Die Pistole, deren Hähne immer noch gespannt waren, stopfte er sich in den Gurt zurück. Dann hielt er Josea die rechte Hand vor den Mund und preßte ihn zu, bevor sie einen Schrei von sich geben konnte.

„Du hast dich selbst verraten“, raunte er ihr ins Ohr. „Und eigentlich bin ich froh, daß du es nicht fertigbringst, wirklich auf jemanden zu feuern und ihn zu töten. Vorwärts, gehen wir jetzt zu Segura und Franca. Sie warten auf uns.“

Er drängte sie zur Stiege, verhielt aber, bevor er mit ihr nach unten stieg.

„Wo halten die Mädchen sich auf?“ fragte er sie leise. „Im Obergeschoß? Rede!“ Er riß ihren Kopf ein Stück weiter in den Nacken zurück. Sie wertete es als offene, brutale Drohung und nickte ängstlich.

„Führe mich zu der Kammer, in der sie stecken“, befahl Hasard.

Segura und Franca hatten in einer der Kammern bereits Stricke und einen Knebel zurechtgelegt, mit denen sie den Seewolf in ein „kunstgerechtes Paket“ verwandeln wollten. Franca hielt überdies einen hölzernen Hammer in der rechten Faust – auf Anweisung ihres Vaters hin sollte sie das Opfer damit ins Reich der Träume schicken. Da der Trick mit dem gepanschten Wein ja nur bei dem einen Kerl halbwegs funktioniert hatte, mußte man sich eben einer drastischeren Methode bedienen, um die Männer des Schiffes außer Gefecht zu setzen.

Jemand drückte die Türklinke herunter, und Segura sagte: „Tritt ein, Josea, es ist alles soweit fertig.“

Keine Sekunde zweifelten Segura und Franca daran, daß Josea Erfolg gehabt hatte. Die List mit dem Speicher, der voller Schinken und Würste hing, hatten die Brancates schon oft ausgeführt, und Joseas Reizen war dabei noch jeder Narr erlegen.

Nur: Ein solcher Narr war der Seewolf eben nicht.

Er trat mit seiner Gefangenen in den Raum, drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sagte: „Segura und Franca, ihr wollt doch sicher nicht, daß eurer Schwester etwas geschieht. Ich warne euch. Wenn ihr schreit oder sonstwie Alarm schlagt, vergesse ich mich.“

Segura und Franca fuhren zu ihm herum.

Sie sahen, daß der schwarzhaarige Mann mit den kühnen eisblauen Augen Josea fest im Griff hatte. Er preßte sie fest an sich, hielt ihr den Mund zu und drückte ihr die Schneide eines großen, furchterregenden Messers an die Gurgel.

Segura und Franca standen mit stockendem Atem da. Niemals hätten sie mit einer solchen Überraschung gerechnet. Segura taumelte und mußte sich auf den Rand des einfachen Bettes setzen, das zur Ausstattung des Zimmers gehörte.

„Tu das nicht“, flüsterte sie entsetzt. „Laß sie in Ruhe – bitte.“

„Laß sie frei“, flehte Franca, der der Schock aus den weit aufgerissenen Augen abzulesen war.

„Segura“, sagte der Seewolf. „Du fesselst und knebelst jetzt deine kleine Schwester. Danach tust du das gleiche mit Josea. Na los, beeil dich, oder soll ich meine Drohung ausführen?“

Segura nickte verstört und ging an die Arbeit. Keinen Augenblick dachte sie ernsthaft daran, etwas gegen den Seewolf zu unternehmen. Ihre Furcht, Josea könnte etwas zustoßen, war viel zu groß. Der familiäre Zusammenhalt der Brancates war tatsächlich groß, vor allem zwischen den Schwestern. Sie hatten sich geschworen, sich gegenseitig zu beschützen.

Dieses feierliche Gelübde gipfelte nun darin, daß Segura die beiden Schwestern tatsächlich mit den Stricken band, ihnen Knebel in die Münder stopfte und sie auf das Bett verfrachtete.

Hasard stand mit leicht abgespreizten Beinen im Raum, das Messer hielt er immer noch in der Faust, um Segura abzuschrecken. Nie hätte er es sich einfallen lassen, den Mädchen auch nur die Haut zu ritzen, aber er wußte nicht, welches andere Mittel er anwenden sollte, um sie einzuschüchtern und am Schreien zu hindern.

Segura drehte sich zu ihm um. „Jetzt bin ich dran, nicht wahr, Capitán?“

„Du hast es erraten.“

Sie blickte ihn durchdringend an, etwas in ihren Zügen veränderte sich. Plötzlich begann sie, an ihrer grobleinenen Bluse herumzunesteln.

„Du kannst mich haben, Philip“, flüsterte sie. „Ich sträube mich vor dir nicht. Du gefällst mir, und wenn du endlich das Messer wegsteckst, können wir in eins der Nebenzimmer gehen und uns auf angenehmere Weise die Zeit vertreiben.“ Sie lächelte unendlich verführerisch. „Falls es dich nicht stört, daß Josea und Franca uns zusehen, können wir es aber auch gleich hier erledigen.“

„Segura“, sagte er. „Ich verpasse dir zwei Ohrfeigen – zwei, nicht nur eine, wenn du jetzt nicht augenblicklich parierst.“

Sie wich vor ihm zurück, nahm die restlichen Stricke vom Fußboden auf und ließ es sich dann mit angstgeweiteten Augen gefallen, daß er sie fesselte und knebelte. Der letzte Versuch, den Seewolf zu umgarnen und hereinzulegen, war gescheitert.

Hasard verließ die Kammer, pirschte aber zu den anderen Zimmern des Obergeschosses weiter, ehe er nach unten zurückkehrte. Einem inneren Antrieb folgend, durchsuchte er auch diese Räume.

Fast hätte er einen Pfiff der Verwunderung ausgestoßen, als er in den letzten beiden auf den Flur mündenden Kammern die fünf gefesselten Männer entdeckte. Sie hatten Knebel zwischen den Zähnen stekken, aber sie hätten auch ohnedem nicht geschrien, denn sie lagen im tiefsten Schlaf.

Portugiesischer Landwein, dachte Hasard grimmig, na warte, du Hund von einem Banditenwirt!

Der Profos lag auf dem Rücken und schnarchte.

Wenn ich an der Koje horche, pflegte er gelegentlich zu den Männern der „Isabella“ zu sagen, dann könnt ihr mich wegtragen, dann kann der Kahn absaufen und die ganze Welt untergehen – dann wache ich nicht auf.

Im Grunde stimmte das auch: Matt Davies behauptete, Carberry schnarche und grunze wie ein Walroß und es sei eine Zumutung, in seiner Nähe zu schlafen. Auch das entsprach im Prinzip der Wahrheit, und doch gab es eine Möglichkeit, den Profos abrupt aus dem Reich der Träume hochzuscheuchen und sein gräßliches Schnarchen mit einem Schlag abreißen zu lassen.