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Die große Gauklerin

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Dann bat wohl Elisabeth: »Geh', Papa, erzähl' ein wenig, wie alles war, wie Du zum erstenmal hier warst!«

Und der Oberst, der sich selbst gern der alten Zeiten erinnerte, fing an zu erzählen, wie schlecht damals, so ums Jahr 1875 herum, die Schiffe und wie lang die Fahrt gewesen, wie es in Venedig damals noch keine Wasserleitung und keine Vaporetti gegeben habe, sondern nur Ziehbrunnen und die schwarzen Gondeln, wie das alte Getto noch bestanden habe, starrend vor Schmutz, aber in den Tiefen seiner Trödlerläden seltene Altertümer bergend, wie die Straßen und Plätze kaum je gekehrt wurden und von Bettlern erfüllt waren, und wie er und der andere junge Dachs, mit dem er gereist war, an der Speisenkarte ihrer Trattoria gemächlich von den Preisen herunterhandeln konnten. Elisabeth hörte solche Geschichten vom früheren Venedig zu gern, der Leutnant aber meinte mit gönnerhaftem Lächeln:

»Donnerwetter, Papa, das muß eine schöne Wirtschaft gewesen sein und eine schöne Trattoria!«

Der Oberst entgegnete ruhig:

»Wir waren anspruchsloser als Ihr heutzutage! Ihr habt's besser und wollt's immer noch besser haben!«

Der Leutnant wurde rot und klein. So hatte er's ja nicht gemeint, er wollte den Vater ja nicht kränken und war doch weiß Gott für sich persönlich nicht anspruchsvoll. –

»Laß gut sein, ich weiß schon, wie Du es meinst! Elisabeth und ich, wir sind eben die Rasse von früher, und Ihr die neue. Wir beten noch an, was unsere Vorfahren angebetet haben, Ihr aber seid aus anderm Stoff und wollt selber Vorfahren sein!«

Sie verfolgten das Gespräch nicht weiter.

Der Oberst dachte dann wohl ein wenig darüber nach, wie seltsam verschieden von ihm doch seine Söhne waren, von denen es keinen zur Kunst hinzog, obgleich sie jetzt doch hätten tun und lassen können, wozu die Neigung sie trieb. Der eine wollte nur zur Kavallerie übertreten, der zweite ging mit dem Gedanken um, den bunten Rock auszuziehen, um Elektrotechnik zu studieren, und der Jüngste hier träumte nur von weiten Auslandreisen, von dem Posten eines Militärattachés bei Gesandtschaften in Japan, China oder Amerika.

»Meine nächste Reise aber geht nach England. Ich will den Platz aufsuchen, wo wir nach dem nächsten Krieg dem King den Frieden diktieren!« setzte er lachend, aber doch mit einem Unterton von Ernst hinzu.

»Ja, ja, der Vorfahre!« sagte der Oberst mit leiser Ironie.

Hinwiederum neckte der Leutnant Elisabeth gern, wenn sie bei Fahrten auf dem Canal Grande oder bei Spaziergängen durch die winkelige Stadt immer wieder in Bedauern ausbrach, daß so viele der alten Paläste von einstens zu Registraturen, Gasthöfen, Bilder- und Glaswarenniederlagen degradiert worden waren, vor allem, daß sich heute im Palaste der Catarina Cornaro das Leihhaus befindet. Er sagte dann wohl: »Ich wette, Liesel, die Dogen wären mit dieser Wandlung ganz zufrieden und die Republik Venedig auch. Das waren doch alles nur Krämer und Händler, und ein Leihhaus ist ein Geschäft wie ein anderes auch.«

»Aber findest Du's denn nicht jammervoll, daß diese großen Familien so heruntergekommen sind, daß sie ihre Paläste zu Bureaux oder Kaufläden hergeben müssen?«

»Du lieber Gott, was soll einem das Haus ohne Schnecke und der Palazzo ohne Geld! Ich finde es noch ganz vernünftig, daß sie sich nicht mit altem Krempel plagen, der für sie keinen Wert mehr hat.«

»Ich kann nicht so denken wie Du! So oft ich am Palazzo Manin vorbeikomme, muß ich immer daran denken, wie Papa uns erzählte, daß zu seiner Zeit der letzte Nachkomme der Manins auf dem Markusplatz Streichhölzer verkauft hat!«

Der Leutnant lachte.

»Wenn sie dem guten Papa da nur nicht einen Bären aufgebunden haben! Außerdem war der letzte Manin ein simpler Advokat und die Republik von 1848 etwas so Klägliches, daß sie ihrem Schöpfer danken durfte, als sie beim vereinigten Königreich Italien unterkriechen konnte!«

Es kam bei allen Ironien und Neckereien nie zum Streit, aber alle drei waren froh, als der Leutnant Venedig verließ. Beim Abschied sagte er noch:

»Also, Liesel, bis wir uns wiedersehen, wird Deine Verstiegenheit überhaupt den Pegel erreicht haben, und ich freu' mich schon, Dich allmählich auf mein ordinäres Niveau herunterzubringen, denn so schätzt Ihr beide mich jetzt doch ein, das weiß ich schon!«

Elisabeth lachte und wehrte ab, aber sie freute sich, daß nun niemand mehr sie in ihrer Schwärmerei und ihren Phantasien störte. Immer tiefer versanken die beiden in den romanischen Rausch, schoben die Abreise nach Florenz immer weiter hinaus, weil Venedig sie so fest gefangen hielt. Alles erschien ihnen hier köstlich und zauberhaft, obwohl es ihr Empfinden verletzte, wenn sie immer wieder merkten, daß das alte Venedig der Neuzeit Konzessionen machte, versuchte, sich ihr anzupassen und sie zu sich hereinzulocken. Sie empfanden das als stillos und kleinlich, hätten lieber gehabt, daß es nach königlicher Macht stolz in königlichem Verfall beharrt hätte. Sie merkten gar nicht, wie sie mit diesen Gedanken die Stadt vom Leben abtrennen, ihr die Blutadern abbinden wollten, daß sie nichts sein sollte als eine bleiche, tragische Erscheinung, über der gleich einem Märtyrerschein der Glanz ihrer großen Vergangenheit schwebte.

4

Grau und erinnerungsreich stieg der Palazzo Priuli aus dem stillen, wie tot daliegenden Seitenkanal des Canal Grande auf. Er blendete nicht durch großartige Raumverhältnisse oder durch überreiche Verzierungen, wie die Spätrenaissance berühmter Paläste sie liebte, denn er war älter als die meisten von ihnen, da die Priulis ja noch zu den Familien gehörten, deren erste Dogen nicht im Dogenpalast auf der Piazza, sondern in dem inzwischen verschwundenen am Rialto geherrscht hatten. Er war nicht viel größer als ein mäßiges Privathaus, bestand nur aus Erdgeschoß und erstem Stockwerk, in dessen Mitte die vielgerühmten Spitzbogen aus dem zwölften Jahrhundert die Fassade unterbrachen. Das ursprünglich weiße Steingemäuer war von den Jahrhunderten mit sanftem Grau beschlagen worden, aber sonst schienen sie machtlos an ihm vorübergegangen zu sein. Nur die Marmorstufen, die von der großen, erzenen Eingangstür herunter in den Kanal führten, waren vom ewigen Anschlag der Wellen poliert, da und dort zernagt, und die untersten hatten von Moos und Tang einen grünlichen Schimmer bekommen. Die Gondelpfeiler aber leuchteten frisch angestrichen in Weiß-Blau, den Farben der Priuli, die Dogenmützen, die sie bekrönten, glitzerten neuvergoldet, und wenn auch eine kleine Metallplatte mit verwitterter Inschrift zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stockwerk verlöscht und zerstört dahing, so war doch der ganze Eindruck des Palastes ein so vornehmer, daß die Schöttlings meinten, er gehöre zu den besterhaltenen, die sie noch gesehen hatten.

Der Gondoliere begann, sobald er um die Ecke vom Canal Grande abgebogen war, mit den üblichen Erklärungen. Er nannte den vermutlichen Baumeister, einen langverschollenen Namen, pries die Spitzbogen, als ob er wirklich etwas von ihrer Schönheit verstünde, wies mit der Hand nach der zerstörten Metalltafel und erläuterte, daß die unleserlich gewordene Inschrift besagte: »Hier wurde Enrico Priuli, der Sieger von Kreta, geboren und lebte sein höchst tugendreiches Leben, bis ihn der Tod zur Trauer aller Edlen und zum Schmerz der Republik von hinnen rief, anno Domini 1467.« Die Schöttlings fragten, ob die Familie Priuli wohl ausgestorben und der Name nur noch dem Palast erhalten geblieben sei. Der Gondoliere verneinte, wußte in den Personalverhältnissen der Priuli genau Bescheid, rühmte, daß sie immer noch zu den vornehmsten Familien Venedigs gehörten, und fragte, ob er die Herrschaften nicht vielleicht zu dem zweiten Palazzo Priuli fahren sollte, der nur wenige Ruderschläge weiter in demselben kleinen Kanal sich erhob.

»Palazzo Ettore Priuli!« betonte er, als er die Gondel wieder abstieß, »Palazzo Carlo Priuli«, als er vor dem anderen hielt. Der Palazzo Carlo Priuli war reicher, aber lange nicht so künstlerisch und in sich abgeschlossen wie sein Vetter. Er stammte schon aus der Renaissance, prunkte mehr mit geschnörkelten Kapitälen, Stützpfeilern und Balkonen. Er war auch sichtbarlich restauriert worden, und auf den Gondelpfeilern fehlten die Dogenmützen, denn diese Linie der Priuli hatte der Republik keinen Herrscher gegeben. Die Schöttlings fragten auch hier diesem und jenem nach und erfuhren von dem Gondoliere, daß dieser Palast wohl noch im Besitz der Familie, aber an die »Bank von San Marco« vermietet sei. Dann drehte der Gondoliere geschickt die Gondel um, und sie fuhren zurück zum Palazzo Ettore Priuli, dessen Pforten sich eben für die Besucher der Gemäldegalerie öffneten.

Es war der erste Privatpalast, den die Schöttlings betraten, denn wenn sie auch Spitzen- und Glaswarenläden besucht hatten, die sich in früheren Edelsitzen breit machten, so waren es eben doch immer Kaufläden gewesen, bei denen die Waren die Hauptsache und die Umgebung das Nebensächliche schien. Hier aber schritten sie durch Räume, die heute noch derselben Tradition dienten, der sie vor Jahrhunderten gedient hatten, und die Schöttlings empfanden ein köstliches Gefühl von Ehrfurcht, das gar nichts mit Snobismus zu tun hatte, vielmehr aus feinfühligen und gebildeten Herzen herkam. Hier war alles Pracht, wie das alte Venedig sie geschätzt hatte: die Fußböden aus buntem Marmor, mit reizvollen Mustern eingelegt, die Wände mit Seide und Gobelins bespannt, die Decken entweder aus dunklem, kassettiertem Holz reich mit Gold inkrustiert oder mit heiteren Gemälden und verschlungenen Stuckgirlanden. Die Galerie lag im Erdgeschoß, während das erste Stockwerk, das sich noch weit nach hinten mit der Aussicht auf einen anderen Kanal dehnte, die Wohnungen der Priulis umschloß. Ein Diener in Kniestrümpfen und schwarzer Livree empfing die Besucher, nahm ihnen Stöcke und Schirme ab, wies sie mit einer diskreten Handbewegung nach den zwei Sälen, welche die Galerie bildeten, und zog sich dann wieder zurück, um neue Gäste zu empfangen.

 

Der Oberst und Elisabeth musterten nur flüchtig die Gemälde des ersten Saales, denn es drängte sie, das berühmte Bild zu sehen, um dessentwillen diese kleine Privatgalerie sich großen Stadtsammlungen an die Seite stellen konnte, und das sie natürlich schon aus zahllosen Kopien und Reproduktionen kannten. Wie sie dann vor dem Bild standen, merkten sie aber deutlich, wie arm alle Nachbildungen gegenüber dieser Offenbarung eines Begnadeten bleiben mußten, dessen Farben so heiß und jubelnd waren, daß sie sich in Töne zu verwandeln schienen, und für den die Raumbeschränkung nicht ein mühselig zu überwindendes Hindernis bildete, sondern die gewollte Abgrenzung eines strenggedachten und scheinbar spielend ausgeführten Baues. Das Bild, ein Kniestück, etwas unter Lebensgröße, stellte eine junge Frau dar. Sie war in ein purpurfarbenes, mit Gold und Perlenstickerei reich verbrämtes Gewand gekleidet, hielt zwischen dem spitzen Zeigefinger und dem Daumen der rechten Hand einen goldenen Ring, so als ob sie ihn zeigen wollte. Das Gesicht glich anderen Frauen des Meisters, wie sie sich alle gleichen, nur war es vergeistigter, vielleicht auch ein wenig leidvoller, als die Renaissance sonst die Frauen darzustellen liebt. Auf den rötlichen Haaren saß ein goldener Kopfschmuck, der dem Mützchen einer Dogaressa glich. Sie stand vor einem Vorhang aus gelbem Damast, der sich hinter ihr zurückschlug und die Lagune enthüllte, auf der man den Bucentaurus schwimmen sah, das Prachtschiff, von dem der Doge alljährlich den Ring ins Meer warf, zum Zeichen, daß Venedig und die Adria unlöslich miteinander vermählt seien. Weil man nicht genau wußte, wen das Bild darstellte, ob es wirklich, wie einige Kunsthistoriker behaupteten, eine Dogaressa Priuli oder nur sonst eine vornehme Dame war, hieß es bald ›die Dogaressa‹, bald auch nur ›die Frau mit dem Ring‹. Wie immer es aber heißen mochte, – wer vor ihm stand, vergaß bald nach Namen und Sinn zu fragen, versank tief in den Zauber, der von diesen Farben, von dieser wundersamen Abstimmung des goldfarbenen Vorhangs zwischen dem purpurnen Kleid und der blauschimmernden Lagune ausging. Lange standen der Oberst und Elisabeth vor dieser köstlichen Frau, sahen immer noch zu ihr empor, auch als die Besucher, die mit ihnen gekommen, schon wieder gegangen waren und neue eintraten. Nur »der erste Kirchgang Mariä« in der Academia hatte ähnliche Empfindungen in ihnen ausgelöst, hatte sie so bis zuletzt einem Kunstwerk hingegeben, wie dieses Bildnis hier.

Halblaut, als stünden sie an geweihtem Ort, tauschten sie bewundernde Bemerkungen über Einzelheiten der Technik und der Wirkung aus, aber nicht gar viele, denn sie fühlten beide, daß man hier nur schauen, nicht sprechen oder erläutern mußte. Als sie sich dann endlich von der »Dogaressa« losrissen, um die übrige Galerie zu betrachten, kamen ihnen die andern Schulen und Bilder, die hier vertreten waren, blaß und nichtig vor, so daß sie nichts von ihnen in der Erinnerung behielten, auch späterhin nicht wußten, ob sie in Wirklichkeit oder nur durch den Gegensatz so unbedeutend waren, wie sie ihnen erschienen.

Wie Schöttlings die Galerie wieder verließen und durch das Erztor hinaustraten auf die Stufen, um ihren Gondoliere heranzuwinken, der ein wenig beiseite gefahren war, bot sich ihnen ein Anblick, bei dem Elisabeths Herz zu klopfen begann, so daß ihr wieder, wie gestern auf dem Lido, das Blut ins Gesicht stieg. Am Fuß der Treppe auf der letzten Stufe, welche das Wasser frei ließ, stand ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem jungen, kühnen Gesicht – Ettore Priuli. Er trug wieder seinen weißen Anzug, seine tadellosen, hellen Schuhe, das Fächerchen in der Brusttasche, den Hut weit zurückgeschoben und im Knopfloch seines Jacketts eine dunkle Rose. Er erwartete seine eigene Gondel, die eben von zwei Gondolieri mit zarten Ruderschlägen herangerudert wurde. Noch ehe Elisabeth ihn bemerkte, hatte er sie schon unter den herausströmenden Fremden herausgefunden und erkannt und warf ihr nun, ohne seine Stellung zu verändern, wieder jene schmachtenden und lockenden Blicke zu, mit denen er gestern schon die ihrigen eingefangen hatte. Seine Gondel kam jetzt hergeschwommen, schwarz wie alle andern, aber reich vergoldet am Steuer und am Schnabel und mit schwellenden Sammetkissen belegt. Die Gondolieri trugen helle Leinenanzüge mit Schärpen in den Hausfarben der Priuli und breitrandige Strohhüte mit weiß-blauen Bändern. Der altersgraue Palast, vor dem der junge Beau auf seine Gondel wartete, die prächtige Erscheinung Ettores, die malerische Konstrastwirkung der dunklen Gondel mit den hellgekleideten Burschen, die sie führten, – das alles gab zusammen ein so echt venezianisches Bild, daß die Schöttlings darauf hinsahen, als hätten sie ein Gemälde von Canaletto vor sich, nicht Menschen und Dinge der Wirklichkeit. Ettore wußte wohl, wie dekorativ er da aussah, und freute sich des Eindrucks, den er samt seiner Umgebung hervorbrachte. Er fand aber auch, daß es für heute genug sei, daß ein rasches Verschwinden die Neugier rege machen und so seine Chancen erhöhen würde, und darum markierte er ein wenig Ungeduld und schickte sich an, in die Gondel zu springen, noch ehe sie völlig herangerudert war. In diesem Augenblick kam von der andern Seite, vom Palazzo Carlo Priuli her, eine gewöhnliche Mietsgondel, in der ein einziger Mann saß. Er mochte nur wenig älter sein als Ettore, und die Gesichter der beiden trugen eine gewisse Familienähnlichkeit, aber Carlo Priuli sah viel älter, gescheiter und nervöser aus als sein schöner Vetter, und obgleich auch er mit der koketten Eleganz des Italieners gekleidet war, merkte man ihm doch an der Miene, an den Bewegungen und am Blick an, daß er kein Bummler war, sondern ein geistiger Arbeiter. Er zog seine Uhr heraus, fluchte halblaut etwas vor sich hin, trieb den Gondoliere zur Eile an und langte dann von der Bank neben sich ein Notizbuch her, in das er allerlei Zahlen und Zeichen einschrieb.

Offenbar rechnete er irgend etwas aus, denn er hielt immer wieder im Schreiben an, klemmte den Bleistift zwischen die Zähne und sah mit einer Falte über der Nasenwurzel starr in die Ferne, wie jemand tut, der sein Gehirn zu straffer Arbeit zwingt. Ettore sah ihn und lächelte ein wenig spöttisch. Er rief ihn an:

»Carlo, wohin in solcher Eile?«

Der andere hob den Kopf, lüftete ein wenig den Hut, schien aber von der Begegnung mit dem schönen Vetter nicht gerade hocherfreut. Er gab kurz zurück:

»Zu einer Unterredung bei Grimaldi. Es ist höchste Zeit. Ich bin schon um zehn Minuten zu spät daran!«

Ettore lachte und rief: »Zehn Minuten zu spät, entsetzlich! Die Welt wird untergehen, wenn Grimaldi ganze zehn Minuten auf Dich warten muß!«

Carlo lachte gezwungen, entgegnete aber nichts. Seine Gondel war auch schon zu dreiviertel vorüber. Ettore rief ihm noch nach:

»Kommst Du nicht einmal auf den Lido hinüber?«

»Ich glaube kaum, vielleicht fahre ich schon in den nächsten Tagen nach Rom, es kann sein, daß ich ins Ministerium muß!«

Damit war Carlo Priuli um die Ecke des kleinen Kanals verschwunden, und auch Ettore sprang jetzt in seine Gondel. Elisabeth hatte die kleine Szene ohne besonderes Interesse beobachtet, wurde erst aufmerksam, als der Gondoliere ihr flüsternd die Namen der beiden Herren nannte. Sie fand Carlos Erscheinung, im Gegensatz zu seinem Vetter, wenig anziehend, seine Art zu sprechen und sich zu geben trocken und unfreundlich, und doch mußte sie in späteren Tagen oft an diese kleine Begebenheit zurückdenken, an die Begegnung der beiden Männer, an die Worte, die sie im Vorüberfahren wechselten, und immer war's ihr dann, als wäre diese Begegnung nicht nur ein zufälliges Zusammentreffen gewesen, sondern ein Symbol, an dem sie achtlos vorübergegangen war und das doch für ihr ganzes Leben tiefe Bedeutung gewinnen sollte …

Die Gondolieri Ettores stießen von der Treppe ab. Er warf noch einen Blick auf Elisabeth zurück, glitt mit der Hand langsam, zärtlich über die dunkle Rose in seinem Knopfloch, als streichelte er eine Mädchenwange. Elisabeth sah das Spiel seiner Finger und erbebte; sie wollte eine jähe Bewegung machen, sich zum Gehen wenden oder irgend etwas tun, was keinen Sinn hatte, da war aber die Gondel mit dem jungen Mann schon dahingeglitten und bog eben in einer wundervoll scharfen Kurve um die Ecke zum Canal Grande.

Auch die Schöttlings fuhren nach Hause. Sie wußten, daß nach der ›Dogaressa‹ jeder andere Kunsteindruck schwach bleiben mußte. Sie hatten also beschlossen, den Kirchenbesuch, der noch geplant war, auf ein andermal zu verschieben, und sie ließen sich jetzt planlos ein wenig in Seitenkanälen umherfahren. Sie sprachen nicht viel, sondern schauten und sannen, wie in Venedig schaut und sinnt, wer dieser Stadt sein Herz geöffnet hat. Einmal, da der Gondoliere für eine kurze Strecke in den Canal Grande zurückgekehrt war, sahen sie aus dem Palazzo Morosini Menschen herauskommen, elegante Frauen in hellen Mänteln und wehenden Schleiern mit vornehmen Herren und reichgekleideten Kindern. Da fragte Elisabeth aus ihren Gedanken heraus:

»Kannst Du Dir eigentlich vorstellen, wie man in diesen Palästen lebt?«

Der Oberst lächelte.

»Ich denke, sehr angenehm, wenn auch nicht ganz so komfortabel wie in einem deutschen Palast. Aber alle Leute machen ja nicht die Ansprüche Ottos.«

Elisabeth schüttelte den Kopf.

»Nein, so hab' ich es nicht gemeint. Ich möchte wissen, wie die Menschen in solchen Häusern wohnen, in denen sie immerfort von einer großen Tradition, von großen Erinnerungen umstellt sind! Ich denke, man muß sich eigentlich vorkommen, als ob man an eine Kette gebunden wäre, so daß man so leben muß oder wenigstens versucht so zu leben, wie alle die getan haben, durch deren Hände die Kette läuft. Ich denke mir, man hat da gar nie den Mut, man selbst zu sein, man versucht wohl immer unwillkürlich, ob man sich in den Stil oder in die Tradition einpaßt. Ich denke mir das traurig und beklemmend.«

Der Oberst sah auf die Menschen zurück, die eben aus dem Palazzo Morosini getreten waren und jetzt lachend und scherzend eine Gondel bestiegen.

»Das denkst Du Dir bloß aus! Schau' Dir die Menschen da an, ob sie beklemmt aussehen oder man ihnen zutraut, daß sie sich einer Tradition einfügen wollen. Es sind alles Italiener, vergiß das nicht! Sie wurzeln fester im Leben als wir, und die Vergangenheit hat über sie keine Macht –«

Elisabeth entgegnen nichts mehr. Ihre Gedanken gingen schon auf anderen Wegen. Sie liefen zurück zum Palazzo Priuli und zu dem Mann, der in der Rose ihre Wange gestreichelt hatte. Voll verwirrender Süße stürmten sie auf das Mädchen ein, bis ihr Gesicht nicht mehr verklärt aussah, wie an den Tagen vorher, sondern ernst und bewegt, so daß ihr Vater einmal fragte: »Liesel, an was denkst Du?«

»Ich denke an die ›Dogaressa‹,« entgegnete sie und log nicht einmal, da sie's sagte. Ja, sie dachte an das Bild, an den Palast, aber auch noch an den, in dem das Blut alter Herrscher floß. Er, sein Haus, sein Bild, seine Stadt gingen ineinander über, daß sie nicht mehr genau unterscheiden konnte, woran ihr Denken hing, daß sie nur eine Sehnsucht empfand, die sie zu gleicher Zeit erschreckte und beglückte, eine Sehnsucht, die die Arme weit ausbreitete, um etwas zu empfangen, dessen Namen sie noch nicht kannte oder sich noch nicht zu nennen traute. An diesem Tag und an andern, die ihm folgten, spürte Elisabeth erst wieder, daß sie jung und daß das Leben ihr noch alles schuldig geblieben war. Im Harm um ihre erste Liebe, in den kleinlichen Sorgen, durch die sie Jahr um Jahr mit den Eltern geschritten war, hatte sie's fast vergessen, war immer schon zufrieden gewesen, wenn keine Katastrophe die bescheidene Zufriedenheit ihres Elternhauses gestört hatte. Nun aber war's ihr, als stünde hier, in Venedig, irgendwo das Glück für sie bereit und hätte seinen Nachen an den weiß-blauen Pfählen des Palazzo Priuli festgebunden.

Während Ettore mit seiner dunkelroten Rose dahinfuhr, war er sehr zufrieden. Heute war er ohne jede Anstrengung der schöne Priuli, dessen Lächeln ganz Venedig kannte und in das die Frauen verliebt waren. Wie alle Tage, so machte er auch heute eine etwa einstündige Fahrt auf dem Canal Grande, denn wenn die elegante Welt Venedigs auch um diese Zeit hier nicht zu sehen war, so hielt Ettore es doch für unterhaltend und auch für klug, sich eben in dieser Stunde in das Fremdengewühl zu mischen. Er wußte ja, wie bestechend er in seiner malerischen Gondel wirkte, und er hatte noch immer, trotz verschiedener Fehlschläge, die Hoffnung nicht aufgegeben, daß sich eines Tages eine Milliardärin hier, auf dem Canal Grande, in ihn und seinen glänzenden Apparat verlieben würde. Früher wenigstens hatte er darauf gerechnet, ehe die Schöttlings in seinen Gesichtskreis getreten waren, jetzt hoffte er, vielleicht noch einmal der Gondel mit dem blonden Mädchen zu begegnen. Er war zufrieden mit sich und eigentlich schon glücklich. Was er auf dem Lido nur wie im Scherz, nur wie unter dem Eindruck einer Laune gesprochen hatte, schien, durch seltsame Zufälle begünstigt, Wirklichkeit werden zu wollen, eine Wirklichkeit, von der ein warmes Glücksgefühl auf ihn niederfloß. Warum ihm Elisabeth und ihr Besitz mit eins so teuer schien? In erster Linie natürlich ihrer großen Erbschaft wegen, denn obwohl die Priuli keine Kriege mehr führten, brauchten sie doch Geld, Geld und nochmal Geld. Seit Jahrzehnten und länger noch waren sie ja nur mehr Nachfahren, hatten niemals die Hände oder die Gedanken geregt, um selbständig zu erwerben, was ihnen große Ahnen hinterlassen hatten. Stolz und fröhlich hatten sie immer von dem gezehrt, was da war, so daß es jetzt Tage und Wochen gab, an denen die Familie nur von den Eintrittsgeldern der Galerie oder von Darlehen Carlo Priulis lebte, die allerdings karg bemessen waren, denn der Ingenieur war sparsam und ärgerte sich jedesmal, wenn er, der sich um seinen Verdienst redlich abmühte, die Hände der faulenzenden Verwandten füllen sollte.

 

Wohl besaßen die Priuli etliche Güter mit Weinbergen und Oelpressen in Friaul, aber da niemand sich um ihre Verwaltung bekümmerte, warfen sie nur einen kläglichen Pachtzins ab, und es schien unmöglich, für sie einen Käufer zu finden oder eine neue Hypothek, mit der man sie hätte belasten können.

Es war also wohl in erster Linie Elisabeths Reichtum, der Ettore anzog, aber noch anderes kam dazu. Das war: er hatte sich im Laufe der letzten Jahre schon mehrfach Körbe von reichen Mädchen geholt, so daß Miß Mauds Absage ihm nicht wie eine ungeahnte Ueberraschung, sondern mehr wie etwas leidig Gewohntes erschienen war. So seltsam es auf den ersten Blick auch scheinen mochte, daß ein Mann, der immerhin so viel Aeußerlichkeiten zu bieten hatte, als Freier ohne Glück war, so wurde dies doch verständlicher, sobald man Ettore und seine ganze Art näher kannte. Er war naiv und selbstsüchtig wie ein Kind, und wie ein Kind viel zu sehr mit sich und den tausend kleinen Süßigkeiten des Lebens beschäftigt, als daß er sich hätte ernsthaft zusammennehmen und all seine Anstrengung auf ein einziges Ziel richten können. Er konnte ganz hübsch aufschneiden, lügen und ein wenig Komödie spielen, aber heucheln, tiefgründig heucheln konnte er nicht. So war er, sobald er auf die Freite ging, ein primitiver Geldjäger, den jedes Mädchen nach zwei Tagen durchschaute, weil er eben ganz unfähig war, mit großen Gefühlsunwahrheiten oder täuschend gespielter Liebe zu manövrieren. Er überzeugte nur, wenn er selber überzeugt war, und darum hatte er es bisher wohl zu zahlreichen Liebschaften, aber noch zu keiner Braut gebracht. Die Freunde, die's gut mit ihm meinten, wie z. B. der junge Fürst Gaulo, sahen wohl mit Verwunderung, wie täppisch er war, und redeten ihm zu, seine Absichten doch mit etwas mehr Raffinement zu verbrämen. Ettore aber, der auch eigensinnig war wie ein Kind, lachte sie aus und hielt ihnen seine Lieblingsredensart entgegen, die er immer anwendete, gleichviel ob sie paßte oder nicht: »L'italia farà da sè.«

Mit seiner Naivität und seinem Egoismus spürte er jetzt, daß Elisabeth in ihm nicht nur den schönen Mann sah oder den gierigen Freier sehen würde, sondern noch etwas anderes, das er zwar nicht verstand, das ihm aber ihr gegenüber eine starke Ueberlegenheit lieh. Nicht bewußt, rein instinktiv fühlte er, daß dies Mädchen mit dem gütigen, verklärten Gesicht sich von seinem Egoismus würde ausbeuten und beherrschen lassen, daß sie bereit war, ihn und das, was sie in ihm sah, zu lieben, zu verwöhnen und anzubeten. Weil er wie ein Kind sich über Nichtigkeiten erzürnen oder freuen konnte, hatte er jetzt, da Miß Mauds Absage doch noch immer in ihm fortklang, ein Bedürfnis sich anzuschmiegen, sich verhätscheln zu lassen und von einer Frau, von einer wirklichen Frau, nicht von einem kleinen, liederlichen Mädel, zu hören, daß er ihr Schatz, ihr alles auf der Welt sei … Damals, auf dem Lido hatte er Elisabeth, wie sie verträumt übers Meer hinblickte, sofort als Phantastin erkannt, und wenn er selber auch keine Spur von Phantasie besaß, sondern immerfort mit beiden Füßen auf der Erde stand, so wußte er doch, was Phantasie wert sein kann, hauptsächlich für einen Realisten, der sich die Einbildungskraft eines Andern zunutze macht. Weil sie so anders war als die tückische Miß Maud, von der er damals gekommen war, hatte diese Deutsche sein Empfinden gerührt, hatte ihn immer mehr in ihren Bannkreis gezogen, daß er jetzt entschlossen war, sie zu heiraten, selbst wenn sie viel, viel weniger besaß als die Amerikanerin. Wenn sie auch nur eine halbe Million Mitgift bekam, wollte er schon zufrieden sein, obgleich sie, wenn sie im Freundeskreis auf dem Lido oder im Klub saßen, allesamt schworen, daß man unter 60 000 Lire Rente nichts anfangen könne …

Seine Spazierfahrt war heute völlig zwecklos. Er beobachtete die fremden Gondeln nur mit abwesenden Blicken, sah kaum die bewundernden Gesichter, die sich ihm zuwandten. Er streichelte wieder, als wär's eine Mädchenwange, seine dunkelrote Rose und war vergnügt, daß er die Begegnung heute morgen so fein abgepaßt hatte. Ja wirklich, er würde dies Mädchen heiraten! Sie gefiel ihm, sie würde eine liebe, gute Frau sein und ihn von dem Leben des Scheins erlösen, dessen er müde war oder wenigstens seit einigen Tagen müde zu sein glaubte. Das Leben der Priuli war ja nur eine Fassade, die mit ihrem Glanz über Aermlichkeit und Verfall wegtäuschen mußte. So prächtig sich die Räume der Galerie im Palast präsentierten, so heruntergekommen sahen die Wohnzimmer aus, und der elegante Diener war nur für die Besuchsstunden gemietet. Den Haushalt besorgte eine alte, schmutzige Magd, die seit vielen Jahren bei den Priuli diente und sich nicht mehr wunderte, wenn so und so oft die ganze Hauptmahlzeit aus einer Schüssel Polenta oder Tomaten bestand. Die verwitwete Gräfin und ihre Tochter Eleonore saßen unfrisiert, in schmutzige Schlafröcke gehüllt in Zimmern, deren Oede noch trostloser wirkte, weil zerfetzte Seidengardinen, kostbare, aber zerfressene und zerschlissene Möbel, alte Bilder in zerstoßenen Rahmen von früherer Pracht und Größe sprachen. Saßen da und führten ein Dasein, das ein wenig gespenstisch und ein wenig marionettenhaft anmutete: die alte Gräfin betete stundenlang und legte stundenlang Patiencen, die junge rekelte sich in einem Lehnstuhl, studierte in der Zeitung die Lotterienummern, las einen Schmöker und dachte an einen Mann. Wenn sie miteinander schwatzten, so war es immer dasselbe Thema, immer eine reiche Heirat Eleonorens, für die noch gar keine Aussicht vorhanden war, oder die reiche Heirat Ettores, deren Aussichten immer wieder scheiterten. Dann klagte die alte Gräfin mit jammernder Stimme, daß ihre Kinder so wenig Glück hätten, und die schöne Eleonore lachte und tröstete die Mutter und war überzeugt, daß das Glück schon noch kommen würde. Einmal im Tag bewegte sich dann dies gespenstische Marionettenleben nach außen, das war um die Stunde, wenn die alte Gräfin in die Kirche ging und Ettore die Schwester mitnahm zur Spazierfahrt auf den Canal Grande. Er tat es sonst stets, nur heute hatte er's vergessen, vielleicht auch vergessen wollen. Da kämmten die Frauen ihre wirren Haare zu schönen Scheiteln, Zöpfen und Gewinden, die alte Gräfin legte ein schwarzes Seidenkleid an, die junge die einzige modische Toilette, die sie jeweils besaß, nebst einem mächtigen Blumenhut, und wer die beiden so in der Kirche oder in der Gondel sah, wußte, daß er zwei vornehme Damen vor sich hatte. War dann die Kirche oder die Gondelfahrt zu Ende, so änderte sich das Bild abermals, und Mutter und Tochter verpuppten sich, kaum daß sie in den Palast zurückgekehrt waren, alsbald wieder in ihre Schlafröcke, ihre Patiencekarten, ihren Schmöker, ihren Jammer und ihre Zuversicht. Ettore, der Sohn, führte derweilen die Existenz seiner Standesgenossen. Er war den ganzen Tag über sorgfältig gekleidet, lief seinem Vergnügen nach und überließ die Sorge für den nächsten Tag dem lieben Gott. Er liebte seine Mutter und seine Schwester, wie die Italiener ihre Mütter und Schwestern immer lieben, und darum bestimmte er in all seinen Zukunftsträumen stets eine ansehnliche Summe für sie beide, damit die mamma stets all ihre Rechnungen bezahlen und Eleonore endlich den Mann bekommen könnte, an den sie dachte, wenngleich sie ihn bisher noch nicht erblickt hatte.