Spieltage

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From the series: Oktaven
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Wenn sie das Haar offen trug, wirkte ihr Umriss klarer und harmloser. Ich malte mir aus, dass sie es tagsüber hochsteckte und erst abends löste, dass sie beim Schlafen ein Nachthemd trug. Manchmal konnte ich, obwohl das Licht hinter ihr war, ihre Kleidung erkennen: schwarze Strickjacken mit hellen Knöpfen, weit geschnittene Blusen in kräftigen Primärfarben. Sie war sehr schlank. Ihre Taille schien nicht breiter als mein Daumen zu sein. Die Tatsache, dass sie abends immer zur gleichen Zeit bei geöffneten Vorhängen dastand, kam mir fast wie eine intime Konversation vor: ein Ritual, das wir miteinander teilten.

Nicht dass sie immer hinausgeschaut hätte. Manchmal konnte ich auch nur mitverfolgen, wie sie ihren bedächtigen, geräuschlosen Abendroutinen nachging. Wie sie Kleidungsstücke zusammenlegte, Nachtcreme auftrug, ihr Haar kämmte. Vor der Wand konnte ich etwas erkennen, das wie der obere Teil eines Spiegels aussah, gleich über der Fensterbrettkante. Daneben eine niedrige Skyline aus Fläschchen, Gläschen und Schachteln. Ihre Frisierkommode. Hin und wieder wurde sie von etwas oder jemand aus dem Zimmer gerufen. Einem Telefon? Ihrem Freund? Obwohl sie dann die Bühne, für die ihr Schlafzimmerfenster den Rahmen bildete, nach ein paar Minuten immer wieder allein und ohne Telefon betrat.

Bereits damals verriet mein rasender Herzschlag, dass mein Interesse mir nicht unbedingt zuträglich war. Andererseits kam mir die Sehnsucht, die ich nach der Welt in diesen Räumen hatte, diesen durch ihre Anwesenheit gewärmten Räumen, wie eine harmlose und fast schon natürliche Sehnsucht vor – nach einem normalen und weniger einsamen Leben. Und die wenigen Male, bei denen ich sah, wie sie die Jacke aufknöpfte oder die Haare nach vorne warf, um sich die Bluse auszuziehen, wartete ich nie länger als ein paar Sekunden, bevor ich mich wegdrehte und selbst ins Bett ging.

6

Zwei Wochen vor Saisonbeginn tauchte Bo Hadnot beim Training auf. Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn erkannt hätte. Henkel kam ausnahmsweise zu spät, und die meisten Spieler standen am anderen Ende der Halle und sahen Darmstadt beim Quatschmachen zu. Um zehn am Vormittag. Hier zeigte sich offenbar, und das sagte ich auch leise zu Olaf, während wir auf der Bank saßen und unsre Hightops schnürten, was das Profidasein aus uns gemacht hatte: Nach einem Monat Training lungerten wir herum und warteten auf den Trainer, bevor wir einen Basketball anfassten.

Nur Darmstadt, der Schuljunge, war auf dem Feld, im Gesicht das breite, unkontrollierte Grinsen eines Halbwüchsigen, der weiß, dass man ihm zusieht. Er versuchte uns zu beweisen, dass er dunken konnte. Für ihn war das Training nur ein Teil seines Alltags, vielleicht sogar eine Flucht davor. Er war sechzehn Jahre alt und im Begriff, sein Abschlussjahr an der Fachoberschule zu beginnen. Sein Vater war Apotheker, seine Mutter auf einem kleinen Gut außerhalb von Landshut aufgewachsen, wo sie nach wie vor die meiste Zeit verbrachte, um mit Hand anzulegen. Darmstadt war ein Einheimischer, wie er im Buche steht; er dachte nicht einmal im Traum daran, irgendwann von hier wegzugehen. Henkel hatte ihn im Zuge seines Sparprogramms rekrutiert, nachdem er jemandem vom Club in der Jugendliga aufgefallen war und man befand, er könne die Trainingsmannschaft vervollständigen. Für seine Anwesenheit zahlte ihm der Verein monatlich ein paar hundert Mark: für Darmstadt ein Superdeal. Nach dem Vormittagstraining traf er sich immer mit zwei Schulfreunden beim Fahrradständer vor der Halle und ging dann mit ihnen zu McDonald’s Mittagessen. Vermutlich würde ihm das einmal wie der beste Sommer seines Lebens vorkommen.

Nicht dass er nicht spielen konnte. Er war dünn und voller Pickel, mit langen Armen, deren Ellbogen ihm fast an die Hüftknochen stießen. Schuhgröße achtundvierzig steht sicherlich nicht jedem; besonders schlimm wirkt sie aber bei einem Teenager, der seine volle Größe erst noch erreichen wird. Aber er hatte einen schnellen Antritt und zeigte eine erfreuliche Gleichgültigkeit gegenüber allem, was im Spiel nicht unmittelbar den eigenen Wurf betraf. Mit ausreichend Anlauf und ein bisschen Glück gelang es ihm tatsächlich, den Ball gerade so über den Korbrand zu quetschen. Dann johlten wir mit deutlich hörbarer Ironie, die ihn rot werden ließ – vor Freude und Scham zugleich. Jedenfalls motivierte ihn das, es wieder und immer wieder zu probieren.

«Ich werd schon vom Zusehen müde», sagte Olaf.

Währenddessen hatte jemand am anderen Ende des Feldes begonnen sich aufzuwärmen. Er trug ein T-Shirt, eine Jogginghose und weiße Socken, darüber ein Schuhwerk, das (seinem Geschlurfe nach zu urteilen) wohl Loafer waren. Loafer sind etwas, zu dem alte Basketballspieler gern greifen, wenn Rücken und Knie nicht mehr mitmachen, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich dachte, jemand hätte von außen gesehen, dass die Tür offen ist, und würde ein bisschen üben. Er tippte den Ball ein paar Mal auf den Boden und blieb außerhalb der Dreierlinie stehen. Dann warf er, nicht scharf genug, wie ich fand, aber der Ball ging rein. Er wartete, bis der Ball zu ihm zurück hüpfte, dann schlurfte er ein paar Schritte an der Dreierlinie entlang.

Sein nächster Wurf sah irgendwie falsch aus, ging aber ebenfalls rein, und erst als er an der Freiwurflinie war, merkte ich, dass er auf die linke Hand gewechselt hatte. Wenn der Ball danebenging, lief er ihm mit schweren Schritten nach, um an die Stelle zurückzukehren, von wo aus er gerade geworfen hatte, so seelenruhig wie fest entschlossen, den Wurf zu versenken und erst dann weiterzugehen. Ich sah ihm ein paar Minuten lang zu, so gefesselt von dem Anblick, wie wir es eben sind, wenn eine private Aktion in der Öffentlichkeit stattfindet: ein Mann, der sich die Schuhe bindet oder weint; ein Junge und ein Mädchen, die Händchen halten. Dann rief uns Henkel in die Mitte des Spielfeldes, und der fremde Mann nahm widerwillig seinen Ball auf und latschte ebenfalls hin.

Erst jetzt erkannte ich ihn – er war der, der mich vom Flughafen abgeholt hatte. Nur Olaf ging zu ihm, um ihn zu begrüßen, und gab ihm einen neckischen Klaps auf sein Spielpausen-Bäuchlein. Hadnot machte eine Faust. Dann stellte ihn Henkel den neuen Spielern vor, und der fette junge Mann aus der Verwaltung holte ihn ab, damit seine Knöchel bandagiert werden konnten.

Als Bo zurückkam, trug er zwar keine Loafer und auch keine Freizeitklamotten mehr, aber viel besser sah er dadurch nicht aus. Unabhängig davon, ob ihm seine Knie noch immer Probleme machten oder nicht, hatte der Sommer auf der Couch seinem Körper nicht gutgetan. Er hatte sein Trikot nicht in die Hose gestopft, damit sein Bauch Platz hatte, und bewegte sich mit der langsamen Beharrlichkeit eines Mannes, der nach etwas sucht, das er verloren hat. Dann machten wir Technikdrills; zum ersten Mal in der Woche war Henkel gnädig mit uns. Jede Menge Jumpshots, Half-Court-Blocks, Freiwürfe. Es wurde nicht viel geredet, und alles wirkte so, als hätte es einen schlagartigen Wetterwechsel gegeben.

Olaf erzählte mir in einer Trinkpause, dass Charlie und Hadnot sich nicht riechen konnten. In der Halle gab es keine Wasserspender, daher brachten die meisten Spieler ihre eigene Flasche mit, aber wenn die leer war, musste man durch die Eingeweide der Halle wandern und sie in der Umkleide auffüllen. Olaf tat immer eine Magnesiumtablette hinein, die weiß sprudelte und nach Kalk schmeckte, und nutzte diese Pausen bis zum Anschlag aus, wobei er mich manchmal in sein langes Fernbleiben miteinbezog. Basketballer sind Arschkriecher, sagte er. Sie kriechen den Stars hinten rein (so seine Formulierung), und Charlie hätte die Bühne einen Monat lang ganz für sich allein gehabt. Jetzt, mit Hadnot auf dem Platz, stellte sich für jeden die Frage, wer denn nun eigentlich der Chef war. Wundere dich nicht, sagte er, wenn Charlie bei dir angeschleimt kommt. Olaf machte sich lustig darüber; er hatte keinerlei Respekt vor so etwas wie Teamgeist. Und er gefiel sich in seiner nörglerischen Unabhängigkeit, aber das mochte ich an ihm, auch wenn sein Vortrag unsere Freundschaft in ein merkwürdiges Licht rückte.

Fast die ganze zweite Stunde ging Henkel mit uns die Offensivstrategien durch. Infolgedessen war das Training insgesamt so entspannt, dass ich später das Duschen auslassen und gleich an die frische Luft konnte. Es war ein klarer Spätsommertag, so klar wie im Herbst, nur ein paar Grad wärmer, und mit der Sporthalle ging es mir manchmal so wie früher mit der Schule: Sie war ein Fenster, aus dem ich mich hinausbeugte. Deshalb sank meine Stimmung, als Charlie mich bei den Fahrradständern einholte. «Young man», sagte er, «young man, ich würde dich gern zum Essen einladen; mir scheint, du könntest das gebrauchen.» Ich sah Darmstadt mit seinen beiden Freunden weggehen – sechs Hände in sechs Hosentaschen, drei gesenkte Köpfe – und war für einen kurzen Moment neidisch.

7

Charlie führte mich zu seiner Wohnung. Die Sporthalle stand im neueren Teil der Stadt: viel wuchtige Sechzigerjahre-Architektur, Gebäude also, wie sie ein Kind entwerfen würde, nachdem es sein erstes Lineal geschenkt bekommen hat. Rechteckig und quietschbunt. Die neuen Straßen mit Kopfsteinpflaster gingen in alte Straßen mit Kopfsteinpflaster über, je näher wir dem Fluss kamen. Das Gericht und das Theater, direkt am Wasser, waren vom Stil her auch eher einfach gehalten, aber bei Weitem eleganter; hier kam der deutsche Sinn für Ordnung voll zur Geltung.

Landshut erlebte seine Blüte im sechzehnten Jahrhundert, als irgendein bayrischer Prinz die Stadt zu seiner Residenz machte. Es wurde zur Marktgemeinde, in die alle umliegenden Hügel ihre Erträge schütteten. Durch die Isar war die Stadt mit München und dem restlichen Deutschland verbunden, und auch jetzt noch war sie von kaufmännischem Stolz und Wohlstand geprägt, der nur zum Teil vom Tourismus abhing. Stündlich kamen Züge aus München an, und Oktoberfestbesucher überschwemmten die Stadt. Aber auch abseits der Wiesn-Zeit war sie für Amerikaner und Briten so attraktiv, dass entlang der Hauptstraße ein paar kitschige Biergärten betrieben wurden. Neben einem davon wohnte Charlie, im obersten Stockwerk eines zusammengesackten, mittelalterlichen Bürgerhauses, dessen Treppen so schmal waren, dass ich sie nur gebückt und mit den Händen auf den Stufen vor mir erklimmen konnte.

 

«Seit wann wohnst du hier?», fragte ich, als wir oben ankamen. Die Wohnung war schöner und größer als von mir vermutet, aber praktisch unmöbliert. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein Sessel, direkt gegenüber eines dieser billigen Rollteile aus Holz, auf die man einen Fernseher und einen Videorekorder stellen kann. Ansonsten gab es keine Sitzgelegenheit, nur die zwei Barhocker bei der Anrichte, die Küche und Wohnzimmer voneinander trennte. Dort an der Wand lehnten ein paar Kochbücher aus der Learn to cook-Reihe (italienisch, thailändisch, französisch etc.). Am anderen Ende des Wohnzimmers zeigten französische Fenster auf einen langen, schmalen Balkon voller Blumentöpfe.

«Ich wohne hier nicht, ich arbeite hier», sagte er. Sein Ton war der gleiche, den er auch auf dem Basketballfeld verwendete, wo sein Motto lautete: immer korrekt. Dann fügte er leicht verlegen hinzu: «Seit vier Jahren oder so.»

Wir aßen auf dem Balkon. Charlie hatte das Gericht bereits vor dem Training zubereitet: Nudelsalat mit Chili, Soja und Fisch. Er bot mir ein Bier an, ein einheimisches Pils, das ich annahm, aber kaum zum Mund führte; er nuckelte den ganzen Nachmittag über an seinem. Beim Essen zeigte er mir Fotos von dem Haus, das er außerhalb von Chicago baute. Dort «wohne» er, sagte Charlie, und immer zwischen den Spielzeiten würde er mit ein paar Kumpels daran weiterbauen. Er sei quasi auf Baustellen groß geworden, denn sein Vater habe in der Baubranche gearbeitet. Jetzt gerade würde sein Dad im hinteren Teil des Gartens das Fundament für einen Tennisplatz ausheben.

«Dort kannst du dich zur Ruhe setzen», sagte ich, «wenn du fünfunddreißig bist.»

Er meinte, da werde er wohl länger warten müssen. Sein wahres Gesicht war unter den rauen Aknenarben kaum zu erkennen, dahinter lag so einiges im Verborgenen, wie mir schien. Er sagte: «Ich schätze, du bist nicht länger dabei als ein, zwei Jahre. Du hast andere Pläne.»

«Und die wären?», fragte ich lächelnd.

Aber ich hatte mich wohl im Ton vergriffen, denn er antwortete nicht. Also sagte ich ihm, dass ich Schriftsteller werden wollte und dachte, Basketball sei eine interessante Möglichkeit, ein paar Rechnungen zu bezahlen. Außerdem würde ich über diese Erfahrung vielleicht auch schreiben können.

Charlie nickte. «Ich dachte mir schon, dass dir was anderes vorschwebt.»

«Was meinst du mit ‹was anderes›?»

«Etwas anderes als Basketball.»

Über den ganzen Nachmittag hinweg hatte er sich immer wieder mit seinen Blumentöpfen beschäftigt, also verblühte Rosen abgezwickt, nach Schnecken gesucht etc. Jetzt stand er auf, um an einem Wasserhahn in der Außenwand die Gießkanne zu füllen. «Ich habe schon mit Typen wie dir gespielt», sagte er, «Typen, die in sich gekehrt sind. Du lässt dich von diesen ganzen Rowdys herumschubsen. Ich weiß, ich bin auch einer von ihnen. Aber du musst dich wehren.» Er senkte die Stimme ein wenig und setzte sein wütendes Gesicht auf, seine «schwarze» Sprechweise. «Ich rede von Milo», sagte er. «Lass dir von dem nichts erzählen. Du bist nicht sein Musterschüler. Er ist nicht dein Lehrer. Wenn er dir das nächste Mal sagt, was du tun sollst – egal, was es ist! –, dann machst du ihn kalt.»

Er schlug seine Faust in die andere Hand. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Du siehst mich schon wieder so komisch an. Wie wenn du alles nur beobachtest.»

Die Gießkanne war leer, deshalb füllte er sie erneut. Und er fing an, von sich zu erzählen, während er zwischen den Blumen herumging. Er sei jetzt seit zehn Jahren in diesem Land. Sein erster Job sei in Gelsenkirchen gewesen, das ihn an bestimmte Gegenden von Ohio erinnerte, wohlhabend, von Industrie geprägt. Damals spielte der Club dort in der vierten Liga. Sie hatten nicht das Geld, um ihm das volle Gehalt zu bezahlen. Teil dieses Jobs war, behinderte Kinder zu betreuen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte den Mittleren Westen bis dahin kaum verlassen. Das Heimweh war so schlimm wie eine Lungenentzündung; fast wäre er ein Fall fürs Bett geworden. Davor hatte er noch nie mit behinderten Menschen zu tun gehabt, und diese Erfahrung kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Er war jung, kerngesund und von sich überzeugt. Und begann, an sich selbst zu zweifeln – eine schlechte Kombination.

«Ich habe diese Kinder gehasst», sagte er. «Wollte sie gar nicht ansehen. Aber ich bin mit ihnen zum Schwimmen, hab ihnen beim Umziehen geholfen. Hab ihnen die Windeln gewechselt. Manche so vier, fünf Jahre alt. Und die meisten waren glücklicher als ich.»

Er war davon ausgegangen, dass zumindest der Basketball okay sein würde – er würde viel ertragen können, wenn es beim Basketball gut lief. Er hatte gedacht, er könnte den Deutschen beibringen, wie man richtig spielt. Stattdessen musste er feststellen, dass es eine Menge Jungs gab, die besser werfen konnten als er, höher springen konnten als er, schneller rennen konnten als er. Wenn ihn damals jemand gefragt hätte, ob er bis Weihnachten durchhalten würde, hätte er gesagt: Auf keinen Fall.

«Ich habe vor, bis Chanukka durchzuhalten», sagte ich.

Er sah mich an. «Ach was, so schlecht bist du gar nicht», sagte er. «Das beweist nur, dass du Vieles weißt.»

Zu der Einrichtung in Gelsenkirchen gehörte ein Garten, und er half der Betreuerin, die ihn in Schuss halten sollte. Gärtnern wurde als gute Therapie angesehen. Das war eine ihrer Theorien, und es stimmte tatsächlich, die Kinder fanden es fantastisch. Er war in Chicago in einer Wohnung im zehnten Stock aufgewachsen, deren Balkon gerade mal so groß war, dass seine Mutter die Wäsche aufhängen konnte. Er hing immer voller Wäsche; für etwas anderes war kein Platz. Damit wollte er sagen, dass er vor Gelsenkirchen keine Ahnung von Gartenarbeit gehabt hatte; aber das Jahr lief nicht besonders gut für ihn, eines der wenigen Geschenke, die es ihm bescherte, waren ein paar Erdbeeren, die er selbst gepflanzt hatte und die er mitnehmen und essen durfte. Am Ende der Saison stieg Gelsenkirchen in die dritte Liga auf – auch dazu hatte er seinen Anteil beigetragen. Später bekam er dann einen Job in Hamburg bei einem Zweitligaclub; dann in Freiburg, Nürnberg, schließlich Landshut. Und überall, wo er hinging, nahm er seine Blumentöpfe und seinen großen Fernseher mit.

«Du fragst dich wahrscheinlich, worauf ich eigentlich hinauswill», sagte er.

«Du denkst, wenn ich nicht aufpasse, bin ich in zehn Jahren immer noch hier?»

Aber er schüttelte den Kopf. Worauf er eigentlich hinauswollte, war, dass er in seinem ersten Jahr den Meistertitel der Liga geholt hatte. «Basketball ist genau wie alles andere auch. Du kannst aus dir machen, was du aus dir machen willst.»

Es gab einen peinlichen Moment, als ich ging. «Was hast du vor?», fragte er. «Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit.» Er wollte ein Video ansehen und sich dann vielleicht ein bisschen hinlegen, aber ich sei herzlich eingeladen, für den Film zu bleiben.

«Du hast doch nur einen Sessel», meinte ich, während ich schon zur Tür ging, und dann stand er im Eingang und sah zu, wie ich mich die schmale Treppe hinuntertastete.

8

Als ich zum Abendtraining kam, waren die meisten schon am Aufwärmen. Im Obergeschoss der Halle gab es ein zweites Spielfeld, das viel schlichter als das untere war. Die Backboards waren nicht aus Glas, sondern aus Holz, und an der Seitenlinie gab es keinen Platz für eine Ersatzbank. Doch Mittwochabends mussten wir damit auskommen; eine Ballettstunde war überbelegt, daher brauchten sie die untere Halle.

Um ehrlich zu sein, mochte ich das zweite Feld mehr: Es war so klein, dass man schon nach wenigen Minuten die Wärme des Spiels riechen konnte. Alle fühlten sich dort besser. Basketball war hier mehr ein Spiel als ein Beruf, was nicht heißen soll, dass wir uns nicht anstrengten. Als ich an diesem Abend eintraf, lag etwas Nervöses, Aufgeheiztes, Verspieltes in der Luft, und ich fragte mich, ob das vielleicht mit der Rückkehr des Amerikaners zu tun hatte.

Nach einem leichten Aufwärmprogramm brachte Henkel die Trainingstrikots aufs Spielfeld. Das erste Team bestand aus Plotzke, Olaf, Milo, Karl und Charlie. Im zweiten waren ich, Darmstadt, Krahm, Hadnot und ein weiterer Neuzugang, ein Trumm von Mann, den Henkel in letzter Minute angeschleppt hatte und dessen Name sehr englisch klang – Thomas Arnold. Arnold war ein groß gewachsener, bleichgesichtiger, blonder und äußerst liebenswerter Kerl, der gerade seine Musikaufnahmeprüfung hinter sich gebracht hatte und Chorgesang studieren wollte. Seine Basketballerfahrung bestand aus nicht mehr als der nützlichen Rolle, die er in seinem Berliner Schulteam gespielt hatte. Um dem Wehrdienst zu entgehen, hatte er sich zum Zivildienst gemeldet, den er jetzt in einem Kinderkrankenhaus hier in der Stadt absolvierte. Er hatte sich bei den Yoghurts gemeldet, weil er niemanden kannte in Bayern, das für ihn ein barbarischer Ort war, voller rückwärtsgewandter Leute, die ein unverständliches Deutsch sprachen.

Mittlerweile sollte klar sein, wie ungerecht wir verteilt waren. Plotzke war die einzige Schwachstelle im ersten Team, aber sogar er hatte schon fast zehn Jahre Basketball auf dem Buckel. Äußerlich betrachtet, war er ungemein hässlich, ständig am Meckern und fast schon bedenklich grobmotorisch, gleichzeitig war er aber, vielleicht aus denselben Gründen, überraschend effektiv. Milo hatte in der zweiten Bundesliga gespielt, Olaf sogar in der ersten. Charlie kam aus der NBA, obwohl er es nie über die Pre-Season-Trainingscamps hinaus geschafft hatte. Und Karl wurde bereits als vielversprechendstes Jungtalent der Liga gehandelt. Auf unserer Seite standen Arnold und Krahm, die im Grunde Studenten waren, die den Sport eher hobbymäßig betrieben. Darmstadt war Schüler, und ich selbst hatte seit der Junior-Highschool nicht mehr zu den Starting Five gehört. So lag es an Hadnot, das Ruder herumzureißen, nur war er übergewichtig, verletzt und nicht in Form. Trotzdem konnte es, wie Krahm beim Überstreifen des Maschentrikots sagte, «nicht schlimmer werden als bisher».

Die zweite Gruppe war nach einem Monat der Niederlagen komplett demoralisiert; jeder von uns hatte gelitten. Wir spulten ein Programm ab, das für die einen Verlieren, für die anderen Gewinnen vorsah. Alle waren ausgepumpt. Verlieren kann etwas Gutes, etwas Angenehmes werden, genau wie jede andere Gewohnheit. Aber Hadnot nahm uns kurz zur Seite, bevor es losging, und sagte ohne jede Einführung zu Arnold und Krahm: «Du und du, ihr macht die Schultern breit und blockt. Aber passt auf: Ich geh hart an der Deckung vorbei.»

Zu Darmstadt sagte er: «Wie heißt du, Kleiner?»

«Willi.»

«Okay, Willi. Ich will den Ball an meiner rechten Hüfte. Der Pass muss zur gleichen Zeit ankommen wie ich. Auf die Sekunde; ich bin alt und langsam. Wer übernimmt Karl?»

Ich hob die Hand. Aber er sagte: «Ich mach das.» Und dann, mit einer fast schon nüchternen Sanftheit: «Er ist faul in der Abwehr, und ich will ein paar Treffer landen. Du passt auf Milo auf. Ist mir egal, ob du das mit dem Knie machst, aber halte ihn von der Grundlinie und vom Korb fern.»

Hadnot hatte uns um sich herum arrangiert. Mir war das egal. Mit seinem Eifer hatte er letztendlich nur darauf hingewiesen, dass dieses Spiel wichtig war, ein Trainingsmatch an einem Mittwochabend vor der Saison, auf einem Feld halber Größe, in einer siebzig Kilometer von München entfernten Kleinstadt, in der die einzigen Sportarten, für die sich irgendjemand interessierte, Eishockey und Fußball waren. «Lasst uns diese Arschgeigen fertigmachen», sagte er. «Ich hasse es zu verlieren.»

Es gibt die Regel, dass man nach einer Verletzung ein gutes Spiel hat, bevor die Beine schlappmachen und man sie wieder neu aufbauen muss. Vielleicht war es für Hadnot genau dieses Spiel. Niemand profitierte mehr von dem kleinen Feld als er. Man konnte schnell nach vorne und nach hinten laufen oder beim Gegenangriff mit zurücksprinten; schwierig war nur, in der Mitte genügend Spielraum zu finden. Das Gewicht, das er mit sich herumtrug, erfüllte dabei einen gewissen Zweck, es beanspruchte Platz. Er hatte uns gewarnt, er würde hart an der Deckung vorbeigehen. Und tatsächlich konnte ich am nächsten Tag kaum meinen rechten Arm bewegen: das war die Schulter, an der er vorbeirammte, wenn er sich vom Block löste. Nach kurzer Zeit machten wir nichts anderes mehr, als ihn freizublocken, um ihm den nötigen Raum zu verschaffen. Er traf von der Grundlinie, von innerhalb der Freiwurflinie, von außerhalb der Freiwurflinie. Er versenkte kurze Dreimeter-Floater, was vielleicht der schwierigste Wurf beim Basketball ist: wenn man aus der Wucht des Laufs einen hohen, langsamen Wurfbogen machen muss. Wenn es der Winkel erforderte, zielte er aufs Board; ansonsten fielen die Würfe durchs Netz, als hätte er über dem Korb gestanden.

 

Für unerfahrene Augen müssen seine Treffer etwas sehr Elegantes und Weiches an sich gehabt haben. Er schien Selbstbeherrschung zu demonstrieren, so unauffällig schmiegten sich die Würfe in den Korb. Aber mein Gott, war der sauer. Nicht dass er viel sagte. Charlie war auf dem Feld mit allen im Dauergespräch. Hadnot dagegen machte nur den Mund auf, wenn er etwas wollte. «Ball!», rief er, «Ball!», sobald er sich von der Deckung gelöst hatte. Karl musste eine halbe Stunde lang kämpfen, um auch nur einigermaßen mithalten zu können, bis Charlie eine Wechselverteidigung einrichtete. Ab da war Hadnot jedermanns Sache. Sie kamen im Doppelpack auf ihn zu, sie schirmten ihn oben und unten gleichzeitig ab, aber Hadnot hatte eine Möglichkeit entdeckt, wie er trotzdem an ihnen vorbeikam. Er machte Headfakes, um die Hilfsverteidiger in die Luft zu kriegen, und drückte ihnen dann eine Schulter oder den Ellbogen ins Gesicht, um ein Foul zu provozieren. «Foul!», war das Zweite, was er rief, indem er in die Hände klatschte und den Ball forderte. Nachdem er mehrere Ellbogen abbekommen hatte, begann sogar Charlie, nicht mehr ganz so hart ranzugehen, und Hadnot hatte seine paar Zentimeter Platz.

Wir gewannen das erste Spiel, sogar mit Vorsprung – es war das erste Spiel überhaupt, das an uns ging.

Warum er so sauer war, weiß ich nicht. Aber die Wut hatte definitiv ihren Anteil an der Show, die er hinlegte. Es war nicht nur die Tatsache, dass er sich Karl vornahm, um leichter punkten zu können – obwohl er das auch machte. Es war zudem die Art und Weise, wie er hinten spielte. Hadnot war Karl gegenüber mit mehr als zehn Jahren, fünfundzwanzig Zentimetern und fünfundzwanzig Kilo im Nachteil. The Kid hatte außerdem den schnellsten Antritt im Team, und ich hätte nie gedacht, dass Hadnot auch nur die kleinste Chance hatte, vor ihm zu bleiben. Nur tat er genau das. Kaum hatte Karl die Mittellinie überschritten, stemmte Hadnot ihm den Bauch entgegen, und Karl war nicht mehr in der Lage, seine langen Beine einzusetzen. Ein gewisses Maß an Festhalten, Am-Hemd-Ziehen, Knie-Blockieren gehörte mit zum Plan des Amerikaners, und ein strenger Schiedsrichter hätte ihn schon nach zehn Minuten vom Platz gestellt. Aber es gab keinen Schiedsrichter, und Henkel hatte nicht den Mumm, auch nur einen von Hadnots Tricks abzupfeifen. Man hätte alles oder nichts abpfeifen müssen, und alles ist in der Regel zu viel.

Charlie versuchte, das alles auf seine Art wettzumachen. Einmal, beim Gegenangriff, sah er Hadnot rückwärts nach hinten trippeln und schickte Karl mit einem hohen Pass direkt an den Rand des Korbs. Hadnot drückte Karls Beine weg – er landete jenseits der Grundlinie auf dem Hintern – und ging sofort zu ihm, um ihm hochzuhelfen. The Kid war von der Brutalität des Fouls viel zu benommen, um sich zu rächen. Er hatte sich an meine Verteidigungsweise gewöhnt, die mehr oder weniger auf dem Prinzip der Beschwichtigung beruhte: Ich lass dich treffen, wenn du mir nicht wehtust. Vielleicht gefiel es Henkel, dass Karls Konfliktbereitschaft getestet wurde. Nur wich Karl vor körperlicher Gewalt genauso schnell zurück wie ich, wenngleich Hadnots Beispiel jeden von uns zu ein paar übermotivierten, regelwidrigen Aktionen anregte.

Hadnot hatte mir gesagt, ich solle Milo zur Not mit den Knien von der Grundlinie fernhalten, und genau das tat ich. «Junge, Junge», klagte Milo jedes Mal mit theatralischer Miene, als würde er etwas Verdorbenes riechen. Bis ich ihn dann direkt über seinem Knie erwischte, dort, wo die Oberschenkelmuskeln sich verjüngen. Er sackte in sich zusammen, kam humpelnd wieder hoch und streckte die Arme nach meiner Kehle aus. Charlie hatte gemeint, ich solle ihn «kaltmachen». In Wahrheit schloss ich die Augen und hob abwehrend die Hände, nur fanden die sein verschwitztes Gesicht, und ich drückte es weg. Das Ganze dauerte nur eine Sekunde. Wir droschen aufeinander ein; vielleicht kam dabei mein Finger in sein Auge. Zum Glück ging Charlie dazwischen und trennte uns, obwohl Milo sich mit großer Geste widersetzte und von Olaf und Plotzke zurückgehalten werden musste. Den restlichen Abend konnte er nur noch herumhinken und schlechte Würfe abliefern.

Von den ersten vier Spielen gewannen wir drei, obwohl Hadnot in der zweiten Stunde müde wurde und Charlie sich jetzt die Bürde des Punktens auferlegte. Darmstadt schaffte es nicht, ihn außerhalb des Freiwurfraums zu halten. Krahm, der großen Übereifer und spitze Ellbogen besaß, und Arnold, der einfach nur grobschlächtig war, foulten ihn so viel sie konnten, nur reichte das nicht aus. Charlie hatte die Gabe, in einem Wald aus Armen und Beinen unsichtbar zu werden. Der Trick war dabei nicht Geschwindigkeit. Er bewegte sich einfach zwischen den Rhythmen der anderen und erwischte die Abwehr immer auf dem falschen Fuß. Es ist der Ball, der den Pulsschlag des Spiels bestimmt; man wird da ganz leicht zum Sklaven. Einem Schauspieler vergleichbar, der eine Zeile Blankvers ganz normal klingen lassen kann, hatte Charlie die Kunst der Natürlichkeit gemeistert.

Sogar sein Jumpshot, diese merkwürdig irreguläre Erfindung, traf jetzt. «Einer nach dem anderen», sagte er, wenn wieder mal ein Ball reinsegelte. «Das reicht mir völlig: einer nach dem anderen.»

Wenn er nicht selbst punktete, versorgte er Olaf und Plotzke mit Lay-ins und Dunks. «Selbstlos» – noch so etwas, das er rief, nach jedem erfolgreichen Pass. Eine seltsame Art der Bescheidenheit, jedenfalls ein weiterer Seitenhieb. Wir beendeten den Abend mit einem Unentschieden. Hadnot bückte sich und zog sich die Hose über die Knie.

In der Dusche fing Arnold an zu singen. Etwas Italienisches, eine Arie aus einer Eiswerbung, die im deutschen Fernsehen lief. Nackt sah er ganz rosig und drall aus, sehr groß und zur gleichen Zeit sehr jung. Wir machten Witze über seinen Gesang, obwohl er mehr oder weniger das zum Ausdruck brachte, was jeder von uns empfand. Eine Rückkehr der Zuversicht. Hadnot, die Beine nach wie vor bandagiert, stand kerzengerade und mit geschlossenen Augen unter dem Wasserstrahl. Ich konnte sehen, dass er eine Glatze bekam; seine Haare klebten ihm nur vereinzelt auf der Stirn. Krahm fing an, im Takt der Musik zu klatschen. Er hatte lange Arme und lange Finger und sah aus wie eine Marionette; die Knochen seines Gesichts und seines restlichen Körpers besaßen eine hölzern-mechanische Korrektheit. Die vom ersten Team waren schon zum Großteil gegangen. Nur Olaf war noch in der Dusche – um mich zu beschützen, witzelte er, falls Milo noch da war. Als wir uns dann abtrockneten, fragte er mich, ob wir noch was trinken gehen sollten. Er könne nach dem Training nicht gleich schlafen und würde immer viel zu lange wachbleiben, auf dem Bett vor dem Fernseher liegen und sich die Zwei-Uhr-Wiederholungen der Mitternachts- Talkshows ansehen.