Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik

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Unterschiede in der Entwicklung der beiden deutschen Staaten



Der historische Aufriss zeigt, dass die Geistigbehindertenpädagogik in beiden deutschen Staaten ihren Ursprung in der Praxis hat. Die Entwicklung von Konzeptionen und Theorien der Erziehung und Bildung war erst der zweite Schritt. Die ersten Lehrstühle für Geistigbehindertenpädagogik wurden in den 1970er Jahren an verschiedenen Universitäten in der BRD und DDR eingerichtet. Inzwischen hat sich die Geistigbehindertenpädagogik durch die verstärkte Forschung in den verschiedenen schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern als Erziehungs- und Bildungswissenschaft etabliert (

Kap. 5

). Und als solche nimmt sie Einfluss auf die Praxis.



Vergleicht man die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten mit einander, so ist festzustellen, dass etwa 10 Jahre nach deren Gründung (1949) die Gemeinsamkeiten der Entwicklung überwiegen.



„Eine unterschiedliche Entwicklung des Sonderschulwesens von BRD und DDR deutet sich seit den späten 70er Jahren an. Während das Sonderschulsystem der DDR unter stärkeren Leistungsdruck geriet, was sich in der Ausschulung schwer schwachsinniger Kinder aus der Hilfsschule … niederschlug, erfolgte in der Bundesrepublik ein tiefgreifender Veränderungsprozess“ (

Ellger-Rüttgardt 2008, 327

).



Der Wandel in der BRD zeigte sich an der Abkehr vom medizinischen Verständnis von Behinderung, an der Schulpflicht für Kinder mit geistiger und schwerer Behinderung, an der beginnenden Integrationsdiskussion, der Normalisierung der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung sowie an der verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der geistigen Behinderung. Diese positiven Entwicklungen in der BRD wurden durch die wirtschaftliche Situation und die Öffnung für internationale Entwicklungen in der Behindertenhilfe möglich. Barsch nennt drei Aspekte, die in der DDR für die Stagnation der Entwicklung verantwortlich sind:



„Die geringe Wirtschaftskraft der DDR verhinderte den Ausbau der Infrastruktur des Bildungs- und Betreuungswesens.



Es fehlten Interessen- und Elternverbände – wie in der Bundesrepublik etwa die Lebenshilfe –, die sich für die Belange geistig behinderter Menschen einsetzten.



Die verhältnismäßig geringe Zahl von Personen, die beruflich oder privat in engem Kontakt mit geistig behinderten Menschen waren, reichte nicht aus, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen und Druck bei politischen Entscheidungsträgern aufzubauen“ (2007, 218).



Eine vergleichende Gegenüberstellung der Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten zwischen 1946 und 1989 befindet sich im Anhang.



Mit dem Einigungsvertrag von 1990 geht die „Nachkriegszeit auch der Sonderpädagogik“ (

Ellger-Rüttgardt 2008, 329

) zu Ende. „Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wurde das System sonderpädagogischer Hilfen in den neuen Bundesländern weitgehend nach dem Muster der alten Bundesrepublik neu gestaltet“ (ebd.). Dies wird heute kritisch gesehen:



„Abschließend bleibt zu sagen, dass viele der teils guten Ansätze der Rehabilitationspädagogik mit der Wiedervereinigung verloren gegangen sind. Dies ist insofern bedauernswert, als dass ihre Erkenntnisse und Entwicklungen ein Gewinn für eine gesamtdeutsche Heilpädagogik hätten sein können“ (

Barsch 2007, 218

).








Barsch, S. (2007): Geistig behinderte Menschen in der DDR. Oberhausen



Ellger-Rüttgardt, S. L. (2008): Geschichte der Sonderpädagogik. München



Möckel, A. (2007): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart



2.5Geistigbehindertenpädagogik im Umbruch



Innerhalb des Systems der Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung haben sich seit Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Veränderungen vollzogen. Sie beziehen sich auf das Verständnis von Behinderung, auf Behindertenrecht und -politik sowie auf die erkenntnis- und handlungsleitenden Prinzipien der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation. Während in der Aufbauphase erst ein Bewusstsein für die Belange von Menschen mit geistiger Behinderung geschaffen werden musste, wurde bis Ende der 1980er Jahre das System der speziellen Hilfen differenziert ausgebaut.



Phase des Umbaus



 Segregation



In den 1990er Jahren mehrte sich die Kritik an der mit dem Ausbau verbundenen Segregation. Forderungen nach mehr Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe markieren einen Prozess der Umgestaltung, des Umbaus des Versorgungssystems, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist und der sich mit Dederich folgendermaßen beschreiben lässt:



„Schrittweise hat sich ein Prozess der Humanisierung vollzogen, hin zu verbesserter rechtlicher Gleichstellung, sozialer Eingliederung und sozialer Teilhabe. Die Kritik an Segregation und Diskriminierung sowie die Forderung nach Nichtaussonderung und Selbstbestimmung durch die Behindertenbewegung waren für diesen Prozess ebenso bedeutsam wie die Bemühungen um schulische, berufliche und soziale Integration (neuerdings zunehmend abgelöst durch Inklusion), die Rezeption des Empowermentkonzeptes und die Entwicklung neuer Hilfekonzepte, das grundgesetzlich verankerte Diskriminierungsverbot sowie das im Sozialgesetzbuch IX festgeschriebene Prinzip der Teilhabe“ (

Dederich 2008, 31

).



Dieser Entwicklungsprozess hat zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung geführt und zeigt sich beispielsweise in der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Schulformen (staatliche oder private Sonderschulen oder integrative Schule), der Möglichkeiten zur Mitbestimmung (in Wohnheim- oder Werkstattbeiräten), der Selbstbestimmung durch ‚Persönliches Budget’ und Mitsprache bei der individuellen Lebens- und Hilfebedarfsplanung, dem Leben in der Gemeinde oder in Partnerschaft und begleiteter Elternschaft, der Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt mit Hilfe von Arbeitsassistenz, in der Beteiligung an der Fußballweltmeisterschaft der Behinderten und den Paralympics sowie im Leben der eigenen Kultur (Theater, Musikvereine, Schreib- und Leseklubs) und vieles andere mehr (

Fornefeld 2008, 14f

).



Die pädagogischen und rehabilitativen Leitgedanken, die diese positive Entwicklung begleiteten, sind neben den in den 1970er Jahren eingeführten Prinzipien der ‚Normalisierung‘ und ‚Integration‘, die Idee der ‚Selbstbestimmung‘, des ‚Empowerments‘ und der ‚Teilhabe‘.



 Normalisierung



Unter Normalisierung versteht man den 1959 von dem Dänen Bank-Mikkelsen entwickelten Leitgedanken zur Angleichung der Lebensmuster und Alltagsbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung an die üblichen Bedingungen der Gesellschaft, in der sie leben (normaler Tagesrhythmus, normaler Wochen- und Jahresablauf, normale Erfahrungen eines Lebenszyklus, normaler Respekt, in einer zweigeschlechtlichen Welt leben, normaler Lebensstandard, normale Umweltbedingungen). Das Normalisierungsprinzip will zur Humanisierung der Lebensbedingungen beitragen und ist das erste Konzept der Heilpädagogik und Behindertenhilfe, das sich konsequent „von der Leitidee der Fremdbestimmung“ (

Greving/Ondracek 2005, 158

) abwendet. Es wurde durch die wissenschaftliche und konzeptionelle Weiterentwicklung des Schweden Bengt Nirje und des Amerikaners Wolf Wolfensberger in den 1960er und 1970er Jahren zu einer handlungsleitenden methodischen Orientierung. In Deutschland hat vor allem Walter Thimm das Prinzip eingeführt und weiterentwickelt. Wie in

Kapitel 4.5

 noch gezeigt wird, war das Normalisierungsprinzip bei der Auflösung und Umgestaltung der großen Anstalten von Bedeutung.



 Integration



Die Leitidee der Integration geht zum Teil aus dem Normalisierungsprinzip hervor und will die Eingliederung ausgesonderter Personengruppen in die Gesellschaft erreichen. Wie in

Kapitel 3.5

 gezeigt wird, entstand die Leitidee Mitte der 1970er Jahre als Folge der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates zur gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. Integration versteht sich heute sowohl als Wertbegriff (Bejahung des Lebenswertes behinderter Menschen, Bejahung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Teilhabe am sozialen Leben und Aufhebung künstlicher Trennung) als auch als Handlungsbegriff (räumliche, funktionelle, soziale, personale, gesellschaftliche und organisatorische Integration). Die Leitidee liefert somit die anthropologische Grundlage für ein verändertes Erziehungsverständnis (

Fornefeld 2008, 108f

). Obwohl die Integration zurzeit stark im schulischen Kontext diskutiert wird, ist sie auch in anderen Lebensbereichen von Bedeutung (z.B. in den Bereichen des Wohnens und Arbeitens oder in der Integrativen Erwachsenenbildung,

Kap. 4

).

 










Abb. 10: inklusiver Lea-Leseklub®



 Selbstbestimmung



Das Prinzip der Selbstbestimmung geht auf die Independent-Living-Bewegung von Menschen mit Körperbehinderung in den USA zurück, die in den 1960er Jahren gegen die entmündigenden Lebensbedingungen in den Großanstalten protestierten und mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten forderten. Die internationale Diskussion um mehr Selbstbestimmung griff die Bundesvereinigung Lebenshilfe 1994 mit dem Duisburger-Kongress „Ich weiß doch selbst, was ich will“ auf. Seitdem ist die Realisation von Selbstbestimmung Thema in weiten Bereichen der Pädagogik und Rehabilitation für Menschen mit geistiger Behinderung.



 Empowerment



Der Begriff des ‚Empowerments’ stammt aus den USA und ist nicht leicht ins Deutsche zu übersetzen. Empowerment beschreibt Mut machende Prozesse, „in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen“ (

Herriger 2002, 18

). Mit Empowerment ist die Entwicklung eigener Fähigkeiten und Kräfte zur Durchsetzung einer selbstbestimmten Lebensführung gemeint. Damit dies geschehen kann, müssen entwicklungsfördernde Bedingungen für benachteiligte Menschen geschaffen werden.



 Inklusion



Das Konzept der Inklusion ist eine Weiterführung der Leitgedanken Normalisierung, Integration und Empowerment. In seiner konsequenten Umsetzung soll Inklusion die Integration ablösen. Das Konzept wird meist systemtheoretisch begründet und geht von der Vorstellung der Verbesserung der Gesellschaft hin zur Überwindung von Exklusion und Aussonderung aus. Sander hat hierzu ein fünfstufiges Modell entwickelt, das von Exklusion ausgeht und über Segregation, Integration auf Vielfalt als Normalfall zielt (

Greving/Ondracek 2005, 178

).



 Teilhabe



Die Teilhabe ist das zuletzt eingeführte Leitprinzip der Behindertenpädagogik und -politik und wurde im Sozialgesetzbuch IX festgeschrieben (2001).



„Hilfe ist auf soziale Teilhabe ausgerichtet. Wenn der Andere nicht Erfüllungsobjekt der persönlichen und beruflichen Rollen und Normen des Helfenden sein soll, und wenn der Beteiligte sich als Werte verwirklichendes Subjekt dem Anderen mit-teilen will, so muss diese Beziehung auf Teilhabe oder Partizipation abzielen. Es geht um etwas Gemeinsames, um die zwar geteilte, aber verbindende Sorge um ein sinnvolles, gutes Leben und Zusammenleben“ (

Speck 2008, 180

).



 Anerkennung



Der Tatsache, dass ein jeder Mensch auf den anderen angewiesen und insofern immer ein bedürftiger Mensch ist, trägt das Leitprinzip der Anerkennung Rechnung. Keiner kann ohne andere leben. Jeder benötigt zu einem würde- und qualitätsvollen Leben die Achtung und Anerkennung seiner Person durch andere. Das Prinzip der Anerkennung geht in gewissem Sinne den anderen Leitprinzipien voraus, weil es bei der „Verantwortung für die Verantwortlichkeit“ (

Bauman 1999, 84

) dem anderen Menschen gegenüber ansetzt. Ohne Anerkennung ist die Einlösung der anderen Leitprinzipien nicht möglich (

Fornefeld 2008, 143

). In

Kapitel 3.7

 wird vertiefend auf das Prinzip der Anerkennung eingegangen.



Heute gelten die Modelle des Normalisierungsprinzips, der Integration, des Empowerments und der Inklusion als aktuelle Handlungsansätze für die Heilpädagogik. Sie lösen die lange Zeit bestehende Leitidee der Verwahrung und Des-integration der Menschen mit geistiger Behinderung ab. Sie bauen historisch und inhaltlich aufeinander auf, wobei sie in ihren Konkretisierungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Der Abschluss des (Ver-)Wandlungsprozesses dieser Modelle ist nicht absehbar und wird in den nächsten Jahren sicherlich zu weiteren Diskussionen, Visionen und Modellen führen“ (

Greving/Ondracek 2005, 178

). Eine Geistigbehindertenpädagogik, die sich der Anerkennung ihrer Klientel stellt, bleibt selbst glaubwürdig. Die Verantwortung für die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung unabhängig von Grad ihrer Beeinträchtigungen ist ernst zu nehmen, um ihre Lebensqualität zu sichern.








Abb. 11: Rolle der Leitprinzipien im Spannungsfeld gesellschaftlich-kultureller Erwartungen, Institutionen der Behindertenversorgung und pädagogischer Praxis



Die genannten Leitprinzipien charakterisieren einen umfänglichen Reformprozess im Bereich der Behindertenversorgung und einen Paradigmenwechsel in der Geistigbehindertenpädagogik, d.h. eine Änderung von Lehrmeinungen und Theorien. Der Paradigmenwechsel entsteht in Relation zu den aktuellen rechtsstaatlichen und gesellschaftlichen Vorgaben. Sie führen dazu, dass Menschen mit geistiger Behinderung in ihren Belangen heute ernst genommen werden und ihnen Wege zur Integration und Selbstbestimmung offen stehen, wie es sie zu keiner Zeit gab. Menschen mit geistiger Behinderung können ein qualitätsvolles Leben führen, doch sie bleiben immer auch abhängig von einem Versorgungssystem, das ihnen die Möglichkeiten dazu eröffnet. Man muss schon genau hinschauen, um zu sehen, dass das System kein Garant für Lebensqualität aller Menschen mit geistiger Behinderung ist. Nach einer Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren, die optimistisch stimmte, verschlechtert sich die Lebensqualität für Menschen mit schwerer Behinderung oder für diejenigen mit zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen seit Beginn der 2000er Jahre. Warum es heute trotz der leitenden Prinzipien von Integration/Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe zur Segregation bestimmter Personengruppen kommt, wird deutlich, wenn man die Hintergründe der geänderten Behindertenpolitik mit ihren Vorschriften genauer betrachtet.








Diskriminierungsverbot



In der deutschen Geistigbehindertenpädagogik war man sich sicher, dass man aus den Fehlern der eigenen Geschichte gelernt habe und eine systematische Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr möglich sei. Man hielt ihr Lebensrecht für gesichert. Die Schriften des australischen Philosophen Peter Singer, in denen er das Lebensrecht von Menschen mit schwerer Behinderung unter Nützlichkeitserwägungen in Frage stellt, führten Anfang der 1990er Jahre zu starker Verunsicherung, zu Protestkundgebungen von Selbsthilfegruppen und zu zahlreichen Diskussionsforen und Tagungen, auf denen die utilitaristischen Thesen Singers kritisch diskutiert wurden. Diese sogenannte ‚Singer-Debatte‘ schärfte das Bewusstsein für die Gefahren, die für Menschen mit geistiger Behinderung von der Bioethik und den Biotechnologie ausgeht. Unter dem Druck der Behindertenverbände konnte 1994 das so genannte ‚Diskrimierungsverbot‘ durchgesetzt werden, indem das Grundgesetz um den Art. 3 Absatz 3 Satz 2 ergänzt wurde: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden.“ Das ‚Diskriminierungsverbot‘ war zwar ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft, doch seine Wirkung blieb zu gering, um die Frage nach dem Lebenswert und dem Lebensrecht von Menschen mit geistiger oder gar mit schwerer Behinderung in einer von ökonomischem Denken bestimmten Leistungsgesellschaft verhindern zu können. Es bleibt weiterhin Aufgabe der Geistigbehindertenpädagogik sich mit aktuellen ethischen und lebensrechtlichen Fragen zu befassen und sich zum Schutz ihrer Klientel gegen diskriminierende Tendenzen zu Wort zu melden.



 Einführung der Sozialgesetzbücher



Für den aktuellen Umbau-Prozess der Geistigbehindertenpädagogik und Rehabilitation entscheidender als das ‚Diskriminierungsverbot‘ war die Einführung des Sozialgesetzbuches IX: Rehabilitation und Teilhabe (2001) und XII: Sozialhilfe/Eingliederungshilfe (2003). Diesen Sozialgesetzen liegt das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2001 eingeführte systemische Verständnis von Behinderung zugrunde, wie es in der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) festgehalten ist. Sie wird in

Kapitel 3.2

 genauer dargestellt.



Nachdem das Bundessozialhilfegesetz von 1961 vierzig Jahre in der BRD Gültigkeit hatte, begann mit dem am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe – der Umbau der gesetzlichen Vorgaben, den der ‚Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen‘ so erläutert: „Es fasste das bis dahin geltende Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen, das vorher auf mehrere Gesetze verteilt war, zusammen und entwickelte es weiter. Damit wurde auch der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet. Bis dahin war sie geprägt von dem Fürsorgedanken, mit der Zielsetzung: dem behinderten Menschen muss geholfen werden“ (

www.behindertenbeauftrag

 te.de vom 28.12.2008).



Mit der Einführung des SGB IX stelle die Behindertenpolitik folgende Aspekte in den Mittelpunkt:



„Anerkennung behinderter Menschen als Experten in eigener Sache



Zusammenarbeit mit den Verbänden behinderter Menschen



Teilhabe und Selbstbestimmung behinderter Menschen ermöglichen



Behinderte Menschen stehen im Mittelpunkt“ (

www.behindertenbeauftragte.de

 vom 28.12.2008).



Kernelemente und ziele des SGB IX



„Leistung aus einer Hand



Schnelle Zuständigkeitserklärung



Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes behinderter Menschen bei Inan spruchnahme der Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe



Kooperation, Koordination und Konvergenz des Leistungsgeschehens, d.h. Abstimmung und Zusammenarbeit der Träger bei der Leistungserbringung



Stärkung des Grundsatzes ‚ambulant vor stationär‘



Besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse behinderter Frauen und Kinder



Das SGB IX beinhaltet u.a.



Definition von ‚Behinderung‘



Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe, unterhaltssichernde Leistungen



allgemeine Grundsätze: Welche Hilfen gibt es? Wie werden sie erbracht? Wer ist zuständig?

 



Zusätzlich gibt es Verordnungen, Richtlinien, gemeinsame Empfehlungen und sonstige Durchführungsvorschriften der jeweiligen Leistungsträger. Leistungen zur Teilhabe werden erbracht als



Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, als



Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, als



Unterhaltssichernde Leistungen sowie als



Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ (

www.behindertenbeauftragte.de

 vom 28.12.2008).



Abgeschlossen wurde der Umbau durch die Einfügung des Bundessozialhilfegesetzes in das Zwölfte Sozialgesetzbücher (SGB XII) –Sozialhilfe/Eingliederungshilfe –, das in seinen wesentlichen Teilen am 1. Januar 2005 in Kraft trat.



Heute sind es vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten- und Sozialpolitik bestimmen:



Teilhabe verwirklichen



Gleichstellung durchsetzen



Selbstbestimmung ermöglichen



Lebensqualität sichern.



Diese Neuerungen finden ihren Niederschlag in der Gestaltung von gemeindeintegrierten Wohnräumen und industrienahen Arbeitsangeboten, aber auch bei der Diagnose individueller Hilfe- und Unterstützungsbedarfe. Menschen mit Behinderung sollen heute möglichst selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Für viele Menschen mit geistiger Behinderung ist dies inzwischen Wirklichkeit geworden.



Doch diese für die Menschen mit leichter geistiger Behinderung positive Entwicklung hat auch ihre Grenze, denn sie muss in einem gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozess gesehen werden, der mit Forderungen nach Selbstbestimmungsund Integrationsfähigkeit zum Ausschluss von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung führt (

Fornefeld 2007a

). Eine Kritik ist notwendig, weil sich Anzeichen mehren, „die nicht nur eine Fortführung des bisher Erreichten entgegenstehen, sondern dieses umgekehrt wieder in Frage stellen können“ (

Dederich 2008, 31

). Auf diese Entwicklungen wird in

Kapitel 3.6

 näher eingegangen und dabei gezeigt, dass sich heute eine ‚Restgruppe‘ innerhalb der Population der Menschen mit geistiger Behinderung herausbildet, die als Menschen mit Komplexer Behinderung bezeichnet werden.



UN-Konvention Rechte der Menschen mit Behinderung



Dass die Rechte von Menschen mit Behinderung schützenswert sind, wird auf internationaler Ebene u.a. von den Vereinten Nationen (UN) in New York diskutiert. Um die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung weltweit zu verbessern, haben die Vereinten Nationen die „Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen“ in jahrelangen Bemühungen, an denen deutsche Vertreter staatlicher und privater Organisationen beteiligt waren, entwickelt und Ende 2006 veröffentlicht. Ende März 2007 wurde das Abkommen von der Bundesrepublik unterzeichnet und am 19. Dezember 2008 ratifiziert. Damit war der Weg frei für das Inkrafttreten der Konvention am 1. Januar 2009. Deutschland ist nunmehr verpflichtet, die Vorgaben der Konvention in nationales Recht umzusetzen. An dieser Entwicklung haben Behindertenverbände maßgeblich Anteil. Die Grundsätze der Konvention werden in Artikel 3 formuliert:



a)„Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, der Autonomie des Einzelnen, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie der Unabhängigkeit der Person;



b)Nichtdiskriminierung;



c)Volle und wirksame Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben;



d)Respekt vor der Unterschiedlichkeit und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt und des Menschseins;



e)Chancengleichheit;



f)Barrierefreiheit;



g)Gleichberechtigung von Mann und Frau;



h)Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderung und Achtung des Rechts von Kindern mit Behinderungen auf Wahrung ihrer Identität“ (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Vereinte Nationen, 16.2.2007)



Zusammenfassung



In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich in der Geistigbehindertenpädagogik ein umfassender Paradigmenwechsel vollzogen, der zum einen zu mehr Lebensqualität für die Mehrzahl der Menschen mit geistiger Behinderung geführt hat. Die Entwicklung steht in einem globalen Zusammenhang wirtschaftlicher Interessen und wird heute stärker als zuvor von der internationalen Behindertenpädagogik und Rehabilitation beeinflusst. Obwohl sich diese für die Akzeptanz und gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderung einsetzt, sind in Deutschland neue Formen der Diskriminierung und Aussonderung von Menschen mit Komplexer Behinderung zu beobachten. Der Prozess der Umgestaltung des Versorgungssystems für Menschen mit geistiger Behinderung dauert an. Die Zielrichtung dieses Prozesses ist nicht selbstverständlich aus der bisherigen Entwicklung abzuleiten. Sie bleibt offen und ist wie alle Lebenszusammenhänge an Konjunkturen und Krisen gebunden.








Dederich, M. (2008): Der Mensch als Ausgeschlossener. In: Fornefeld, B. (Hrsg.): Menschen mit Komplexer Behinderung. München, 31–49



Fornefeld, B. (2007a): Was geschieht mit dem Rest? – Anfragen an die Behindertenpädagogik – Teil I und II. In: Dederich, M., Grüber, K. (Hrsg.): He rausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben. Frankfurt, Teil I: 39–53, Teil II: 75–85








6.Fassen Sie die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung vor dem 19. Jahrhundert zusammen.



7.Nennen Sie die gesellschaftlich-ideologischen Veränderungen, die im 19. Jahrhundert zu Anstaltsgründungen geführt haben.



8.Welche Motive hatten die Anstaltsgründer?



9.Wie veränderte sich die Heilpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und welche Konsequenzen hatte das für Menschen mit geistiger Behinderung?



10.Nach welchen Vorbildern entwickelte sich die Geistigbehindertenpädagogik nach dem 2. Weltkrieg in den beiden deutschen Staaten?



11.Entstammt das nachfolgende Zitat einem west- oder ostdeutschen Lehrbuch der Nachkriegszeit? Begründen Sie die Zuordnung.



„Das leistungsmäßige Zurückbleiben eines Kindes allein berechtigt den Unterstufenlehrer somit noch in keiner Weise, die Vorstellung des Kindes im Hilfsschulaufnahmeverfahren zu erwägen oder das Kind gar als schwachsinnig zu bezeichnen und es – möglicherweise noch durch unbedachte Bemerkungen vor der Klasse – ‚abzustempeln‘. Das bereits durch den schulischen Mißerfolg beeinträchtigte Selbstvertrauen des Kindes kann durch solche Äußerungen völlig zerstört werden. Was sollte nun der Unterstufenlehrer tun? Zuerst sollte er die Verbindung zum Elternhaus suchen, um sich eingehend mit den häuslichen Lebensbedingungen des Schülers und mit dessen bisherigen Entwicklungsverlauf vertraut zu machen. Er sollte gemeinsam mit den Eltern beraten, wie eine möglicherweise vorhandene pädagogische Vernachlässigung zu beseitigen ist. Liegt noch kein ärztlicher Befund vor, so sollte er die Eltern veranlassen, mit ihrem Kind einen Facharzt aufzusuchen. Im Rahmen seines Unterrichtes sollte er gezielte Fördermaßnahmen für das Kind vorsehen, ohne dabei etwa die anderen Schüler seiner Klasse zu vernachlässigen. … Weiterhin sollte er sich bemühen, die ‚starken Seiten‘ des Kindes zu erkennen und das Interesse des Kindes, z.B. für bestimmte Tätigkeiten, bewußt in den Dienst seiner Fördermaßnahmen stellen. Alle diese Bemühungen sollte er möglichst schriftlich fixieren und bestimmte Arbeitsergebnisse des Kindes, wie Zeichnungen, schriftliche Arbeiten usw., sammeln. Geht er so vor, dann ist er in der Lage, z.B. seinen Vorschlag, das Kind dem Hilfsschulaufnahmeverfahren vorzustellen, konkret zu begründen und damit gleichzeitig zur Entscheidung über den weiteren Bildungsweg des Kindes beizutragen.“



12.Nennen Sie Merkmale der Auf- und Ausbauphase der Geistigbehindertenpädagogik in beiden deutschen Staaten.



13.Wodurch zeichnet sich die Umbau-Phase der Geistigbehindertenpädagogik seit Mitte der 1990er Jahre aus?



14.Wie lauten die vier Motive, die die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik, der Rehabilitation sowie der Behinderten-

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