Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Theorien Darwins und Mendels

Die nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung Behinderter, Kranker und „Randständiger“ basierte auf den Theorien, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Arbeiten des Biologen Charles Darwin und des Genetikers Gregor Mendel ihren Anfang nahmen (Rudnick 1985, 7). Darwin hatte 1859 ein Buch mit dem Titel „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um das Dasein“ veröffentlicht. In diesem Buch zeigte Darwin, dass durch natürliche Auslese und durch Selektion bei verschiedenen Pflanzenarten gute Entwicklungen erreicht werden konnten. Bestimmte Arten erwiesen sich für die Züchtung als geeigneter als andere. Darwin selbst hat seine Thesen nie auf den Menschen übertragen, also eine soziale Auslese angeregt. Dies geschah Mitte des 19. Jahrhunderts durch die sog. Sozialdarwinisten, wiez.B. A. Tille, E. Haeckel, A. Plotz und W. Schallmayer, vor allem durch die Übernahme und Übertragung des Selektionsgedankens auf den Menschen. Selektion bewirkt nach Ansicht Schallmayers, dass sich nur der Teil einer Art fortpflanzen kann, der besonders gut an die Lebensart angepasst ist. Dazu sei eine Auslese der Besten einer Art und eine Vernichtung der Minderwertigen notwendig. Selektion war nach Schallmayer die Bedingung für Fortschritt, und das eben nicht nur bei Pflanzen und Tieren, sondern auch beim Menschen.

Eugenik

Eine Erweiterung und Bekräftigung dieses sozialdarwinistischen Denkens erfolgte durch die Eugenik, die Erbgesundheitslehre des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Gregor Mendel schuf durch die Entdeckung verschiedener Vererbungsgesetze die Grundlage für eine wissenschaftliche Eugenik; er selbst gilt aber nicht als der eigentliche Begründer der Eugenik der Jahrhundertwende. Sie geht vielmehr auf den Engländer Francis Galton (1822–1911) zurück, einen Cousin Darwins, der 1895 ein Buch mit dem Titel „Erbliche Anlagen und Eigenschaften“ veröffentlichte. Hierin vertrat Galton die Meinung, dass es genau wie in der Pferdezucht möglich sei, durch wohlausgewählte Ehen in einigen aufeinanderfolgenden Generationen eine hochbegabte Menschenrasse hervorzubringen (Rudnick 1985, 13). Die Folgen, die sich aus diesem Denken für Menschen mit Behinderung zur Zeit des Nationalsozialismus ergaben, beschreibt Rudnick folgendermaßen:

„Der Sozialdarwinismus, die von Charles Darwin nicht gewollte Übertragung seiner Erkenntnisse auf das Zusammenleben der Menschen und die Eugenik waren die Haupttheorien, mit denen z.B. Adolf Hitler in seinem Buch ,Mein Kampf‘ (…) die ,Ausmerzung‘ Kranker, Behinderter und Randständiger begründete. Die organisatorische Umsetzung dieser Theorien wurde vor 1933, nicht nur von den Nationalsozialisten, im Rahmen der Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Diskussion theoretisch vorgeplant und teilweise praktisch erprobt. Die aussondernde Erziehung und Unterbringung von Behinderten, Kranken und Randständigen, die auch schon vor 1933 Realität waren, müssen als positive Voraussetzungen für die spätere Sterilisations- und ,Euthanasie‘-Kampagne im Dritten Reich gewertet werden“ (13).

Euthanasie

Im Nationalsozialismus wurde durch die Vernichtung behinderter Menschen („Euthanasie“) das eingelöst, was in den 1920er Jahren begann, nämlich die Aberkennung des Lebensrechtes schwachsinniger und als schulbildungsunfähig gel-tender Menschen. Am 14.07.1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, das am 01.01.1934 in Kraft trat und zur Selektion von ökonomisch brauchbaren und ‚minderwertigen‘ Hilfsschülern führte. Die Diffamierungskampagne gegen die Schwächsten verschärfte sich. Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ setzte 1934 eine Welle von Zwangssterilisationen ein, von der nicht nur behinderte Menschen betroffen waren, sondern alle Randgruppen der Bevölkerung. Die Hilfsschullehrer wurden zu Mitarbeitern an der ‚volksbiologischen Aufgabe‘, der Reinerhaltung der arischen Rasse, indem sie die Schüler meldeten, die dem völkischen Kriterium der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit für die Volksgemeinschaft nicht entsprachen, also die Schüler, die wir heute als geistig behindert bezeichnen. Mit dem Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde für die Aussonderung dieser Kinder die juristische Grundlage geschaffen. In Paragraph 11 heißt es:

„Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit. Als bildungsunfähig sind solche Kinder anzusehen, die körperlich, geistig oder seelisch so beschaffen sind, dass sie auch mit den vorhandenen Sonderschuleinrichtungen nicht gefördert werden können“ (nach Speck 1979, 67).

Auch wenn sich manche Hilfsschullehrer bemühten, die Bildungsfähigkeit all ihrer Schüler, auch der geistig behinderten, zu belegen, gelang es ihnen doch nicht, dem von 1939 an beginnenden systematischen „Euthanasie“-Programm wirkungsvoll zu begegnen. Die Gleichsetzung von bildungsunfähig und lebensunwert brachte für die schwachsinnigen Menschen Vernichtung und Tod. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Maßnahmen immer gezielter.

„Ein Erlaß vom 18.08.1939 verpflichtete Hebammen, Geburtshelfer und Leiter von Entbindungsanstalten, alle ,idiotischen und missgebildeten Neugeborenen‘ beim zuständigen Gesundheitsamt zu melden. Nach einer ,Begutachtung‘ wurden sie zur ,Vernichtung‘ freigegeben. Am Ende dieser ,Kinder-Aktion‘ (1941) wurden auch ältere Kinder und Jugendliche erfasst. Die Gesamtzahl der Getöteten wird auf 5000 geschätzt. Von 1939 bis 1941 lief die ,Aktion T4‘ gegen erwachsene Geisteskranke, unter denen sich auch Menschen mit geistiger Behinderung befunden haben mögen; die Zahl der Getöteten wird auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Von 1941 bis 1943 lief die ,Sonderbehandlung 14f 13‘, die zur ,Ausmerzung‘ Kranker, auch geisteskranker Häftlinge, Schwachsinniger, Verkrüppelter und anderer als ,lebensunwert‘ Gekennzeichneter in den Konzentrationslagern führte. Die Zahl der Opfer wird auf 20 000 geschätzt“ (Mühl 1991, 16).

Situation zu Kriegsende

1945 waren die Anstalten leer, das Hilfsschulwesen existierte nicht mehr. Die nationalsozialistische Ideologie mit ihren sozialdarwinistischen Theorien und menschenverachtenden bzw. -vernichtenden Praktiken führte zu einer breiten Verunsicherung im Umgang mit behinderten Menschen und zum Verlust humaner Werte. Die Vorurteile gegenüber Menschen mit geistiger Behinderung setzten sich nach Kriegsende weiter fort.


Beck, C. (1995): Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung „lebenswerten“ Lebens. 2. Aufl. Bonn

Dörner, K. (1967): Nationalsozialismus und Lebensvernichtung. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 15, 121–152

Klee, E. (1985): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Frankfurt/M.

Schmuhl, H.-W. (1992): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, 2. Aufl. Göttingen

2.4Die Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik von 1945 bis 1989 in beiden deutschen Staaten

Es ist schwierig, eine gesamtdeutsche Entwicklung der Geistigbehindertenpädagogik nach Ende des Zweiten Weltkrieges nachzuzeichnen. Bislang gibt es keine systematische Erforschung der Nachkriegszeit in den vier Besatzungszonen bzw. den späteren beiden deutschen Staaten. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wie z.B. :

Konzentration auf den Wiederaufbau und die Wiedererrichtung des Bildungs- und Versorgungssystems für Menschen mit Behinderung,

Zukunftsorientierung bei gleichzeitiger Verdrängung der geschichtlichen Ereignisse, wie der systematischen Ermordung von Menschen mit geistiger Behinderung und Vernichtung von historischem Material in den Anstalten bei Kriegsende,

unterschiedliche ideologische Interessen in beiden deutschen Staaten mit der Ausbildung von Vorurteilen gegenüber den Entwicklungen im jeweils anderen Teil.

Aufbau des Bildungs- und Versorgungssystems

Da die historische Aufarbeitung im Sinne einer zeitgeschichtlichen Historiografie der Geistigbehindertenpädagogik erst beginnt, werden hier nur einige Aspekte der Entwicklung zwischen 1945 und 1989 in beiden deutschen Staaten so dargestellt, wie sie sich heute zeigen: Bildungs- und Versorgungssysteme für Menschen mit geistiger Behinderung wurden auf- und ausgebaut. Sie unterschieden sich auf ideologischer und juristischer Ebene von einander, während sie auf der Ebene der pädagogischen Praxis Parallelen aufweisen. Nach der Vereinigung in den 1990er Jahren setzte dann in der gesamtdeutschen Behindertenhilfe eine umfassende Neuorientierung, eine Periode des Umbaus ein, die bis heute andauert und auf die ich in Kapitel 2.5 näher eingehen werde.

Das Bildungswesen für Kinder mit geistiger Behinderung hatte durch die Ereignisse zwischen 1934 und 1945 „substantiellen Schaden“ (Speck 1979, 68) genommen. „Schwer schwachsinnigen“ Kindern, wie man geistig behinderte Menschen damals weiterhin nannte, gestand man keine Bildungsfähigkeit zu, obgleich Artikel 1 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik die Unantastbarkeit der Würde des Menschen festschreibt. Man betrachtete Kinder mit geistiger Behinderung vordringlich als pflegebedürftig, weil man davon ausging, sie könnten den kulturellen Inhalten des Unterrichtes in der Hilfsschule nicht folgen. Weder ihre Lebenssituation noch ihre humanen Ansprüche waren von gesellschaftlichem Interesse, was nicht verwundert, wenn man sich die Lebensbedingungen der Menschen im Deutschland der frühen Nachkriegsjahre vor Augen führt: „Zunächst dauerte es im kriegszerstörten Deutschland jedoch ein Menschenalter, bis die äußeren Trümmer und die seelischen Verwüstungen einigermaßen weggeräumt und im Sonderschulwesen auch nur der Stand aus 1933 wieder erreicht war. Die Sonderpädagogik knüpfte dort an, wo sie 1933 aufgehört hatte“ (Möckel 2007, 208). Die Anstalten setzten ihre Arbeit fort und bildeten den einzigen außerfamiliären Lebensort für Menschen mit geistiger Behinderung in der Nachkriegszeit. Obwohl die Instandsetzung des Bildungssystems, zu dem auch die Hilfsschulen gehörten, vordringliches Ziel war, rückten die Kinder und Jugendlichen mit geistiger Behinderung erst in den 1960er Jahren ins Blickfeld, weil sie noch immer für bildungsunfähig gehalten wurden.

 

„Unterschiede im Aufbau des Sonderschulwesens nach Kriegsende bestanden nicht nur in regionaler Hinsicht, sondern auch in Abhängigkeit von den jeweiligen Sonderschularten. Während Bildungseinrichtungen für Kinder mit einer geistigen Behinderung – von Anstalten abgesehen – auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren so gut wie nicht existierten, setzte beispielsweise der Wiederaufbau der Schulen und Klassen für schwerhörige Kinder rasch und zügig ein“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 300).

In der Zeit des Aufbaus des Hilfsschulwesens, der in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 mit dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule“ und in den westlichen Besatzungszonen 1948 mit dem Hinweis der „Deutschen Erziehungsminister“ auf die schwierige Situation der Schul-kinder begann, versuchte man zunächst an die Tradition der Heilpädagogik während der Weimarer Republik, d.h. an das Bildungs- und Versorgungssystem, wie es vor 1933 bestand, anzuknüpfen. Dabei fand eine „Tabuisierung des ‚Dritten Reiches‘“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 294) statt. Während man im Westen die eigene Geschichte weitgehend verdrängte, grenzte man sich im Osten von ihr bewusst ab, um hierdurch die sozialistische Staatsideologie legitimieren zu können. Viele der in der NS-Zeit in den Einrichtungen tätigen Heilpädagogen nahmen ihre Arbeit in Anstalten, Hilfsschulen oder in den Verwaltungen wieder auf, ohne Verantwortung für ihr Handeln und das Geschehene zu übernehmen. Man wollte auch nicht die heute offensichtlichen Schwächen einer Sonderpädagogik der Vorkriegszeit sehen, die von einer Vorstellung ausging, dass „Heilerziehung ausschließlich die Fortsetzung ärztlicher Behandlung mit anderen Mitteln“ (Möckel 2007, 207) sei. Man musste erst zu einer Neubewertung von geistiger Behinderung und zu neuen humanen Werten gelangen, um die Ansprüche von Menschen mit geistiger Behinderung wahrnehmen und ihr Bildungsrecht durchsetzen zu können.

In der Bundesrepublik (BRD) geschah dies erst in den 1970er Jahren und nach Vorbildern aus den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten, wo neue Formen der Normalisation der Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung sowie deren Integration realisiert wurden. Einen weiteren, wenn auch nicht direkten Einfluss hatte die von der Studentenrevolte 1968 angestoßene Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 304). Durch deren Forderung, auch unterprivilegierten Kindern mehr Bildungschancen zu bieten, gerieten die Folgen der Benachteiligung stärker ins Blickfeld. Man erkannte, dass Beeinträchtigung und Behinderung auch Folge soziale Benachteiligung sein können. Dies führte Mitte der 1970er Jahre zur Abkehr vom ausschließlich medizinischen Verständnis von Behinderung und zur Auflösung des weitgehend statisch-biologischen Begabungsbegriffs. Die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung setze ein. Diese Entwicklung wurde in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nicht vollzogen. Unter dem Einfluss der Defektologie, wie die Behindertenpädagogik und -psychologie in der Sowjetunion bezeichnet wurde, blieb die Orientierung am medizinischen Modell in den Rechtsvorschriften der DDR bis 1989 weiter bestehen.

Schaut man noch einmal genauer auf die Anfänge der Bildungs- und Versorgungssituation der Menschen mit geistiger Behinderung, so ist die Lage der Sonderschulen nach 1945 im Vergleich zu anderen Bildungseinrichtungen als besonders katastrophal einzuschätzen (Ellger-Rüttgardt 2008, 298). Es fehlte an allem, an Lehrerinnen und Lehrern, an Räumen und an Lehrmaterialien. Die Klassen waren überfüllt. Regelmäßiger Unterricht war kaum möglich. Die Kinder waren oft unterernährt und in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Die Hilfsschulen waren Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen vorbehalten und nahmen das Konzept der Leistungsschule wieder auf. Nur einzelne Schüler mit geistiger Behinderung fanden in den angegliederten Sammelklassen Aufnahme, so z. B. in Berlin, wo 1949 die erste Sammelklasse entstand. In den folgenden zehn Jahren wurden dort 205 Schüler in zehn Klassen unterrichtet (Mühl 1991, 16). Die Bildung von Sammelklassen blieb anfänglich jedoch eher die Ausnahme, da wenig Interesse an der Integration von Schülern mit geistiger Behinderung in die Hilfsschulen bestand. Für die bislang ‚Bildungsunfähigen‘ fand keine schulische Erziehung statt, „beschränkten sich die Ansätze für eine pädagogische Hilfe auf einzelne mehr oder weniger private Initiativen“ (Speck 1979, 69). Diese erstreckten sich im Westen auf hortähnliche Einrichtungen, die auf Anregung von Hilfsschullehrern oder Sozialpädagogen entstanden, über Sammelklassen bis zu Tagesheimschulen.

Ausschluss von Schülern mit geistiger Behinderung in beiden Staaten

Eine systematische Beschulung begann hier aber erst Anfang der 1960er Jahre. Erschwerend kam hinzu, dass das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 weiterhin Gültigkeit besaß und Schüler mit geistiger Behinderung darin für bildungsunfähig erklärt wurden.

In der DDR erfolgte die Ausschulung von Schülern mit geistiger Behinderung auf der Grundlage des Schulgesetzes für Groß-Berlin, „in dem das eingeschränkte Bildungsrecht für Schwerbehinderte in den Punkten 6 und 8 festgeschrieben wurde und in fataler Weise an das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 erinnert“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 314). Auf dieser Grundlage sprach man denjenigen Kindern und Jugendlichen ein Recht auf schulische Erziehung und Bildung ab, die nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen konnten. Hier heißt es:

„Kinder mit geistigen, körperlichen und sittlichen Ausfallerscheinungen und Schwächen, die aber noch bildungs- und erziehungsfähig sind, werden besonderen Schulen und Heimen zugewiesen (Hilfsschulen, Sonderschulen für Schwererziehbare, Blinde, Taubstumme, Krüppel usw.) […] Bildungsunfähige Kinder und Jugendliche sind von der Schulpflicht befreit“ (Köhlitz 1949, 20f nach Ellger-Rüttgardt 2008, 314).

Eine Befreiung von der Schulpflicht aufgrund von Bildungsunfähigkeit sahen auch die in den 1960er und 1970er Jahren in der BRD erlassenen Gesetze vor. „Das traf Eltern schwer geistig behinderter Kinder. Sie sollten sich allein behelfen, obgleich gerade sie die Hilfe des Staates brauchten“ (Möckel 2007, 233f). Nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Einstellung gegenüber Kindern mit geistiger Behinderung in beiden deutschen Staaten soll nun die Entwicklung der Bildungs- und Versorgungssysteme bis 1989 genauer betrachtet werden. Vorab ist zu bemerken, dass Kinder und Jugendliche im Vordergrund standen, schließlich gab es wegen der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen nur noch wenige Erwachsene mit geistiger Behinderung.

2.4.1Entwicklung in der BRD

Gründung der „Lebenshilfe“

Gegen das staatliche Desinteresse wandten sich in den 50er Jahren vor allem in Anstaltsschulen tätige Pädagogen, forderten eine öffentliche Schulbildung für diese Schülergruppe und die Aufhebung der unteren Bildungsgrenze, die sich am bestehenden Hilfsschulsystem und dem Erlernenkönnen von Kulturtechniken orientierte. Doch es erfolgte noch keine Umsetzung dieser Forderung, der Bildungsanspruch dieser Kinder war nicht allgemein anerkannt. Selbst im „Gutachten der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Ordnung des Sonderschulwesens“ von 1960 wird im letzten Abschnitt zwar die Bildbarkeit dieser Kinder bestätigt, „aber diese wird als so gering angesehen, daß der angenommene Personenkreis weder in Schulen noch in Heilpädagogischen Kindergärten gefördert werden kann“ (Speck 1979, 70). Es waren vor allem die Kritik und die Initiative von betroffenen Eltern, die zu einer entscheidenden Veränderung der Bildungssituation für geistig behinderte Kinder führte und den Aufbau eines Bildungs- und Versorgungssystems ermöglichte. Die Intention der Eltern war es, ihre Kinder familiennah versorgt zu wissen und nicht in abgelegene Anstalten abgeben zu müssen. In Anlehnung an Elternvereinigungen, wie sie bereits in England, den Niederlanden oder den USA bestanden, schlossen sich Eltern um die kreative Gründungspersönlichkeit des Niederländers Tom Mutters zusammen und gründeten 1958 in Marburg die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.

„Aufgabe und Zweck des Vereins ist die Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine wirksame Lebenshilfe für geistig Behinderte aller Altersstufen bedeuten. Dazu gehören z.B. Heilpädagogische Kindergärten, heilpädagogische Sonderklassen der Hilfsschule, Anlernwerkstätten und ‚Beschützende Werkstätten‘“ (§2 der Satzung des Vereins vom 18.1.1959 nach Möckel 1999, 158).

Auf Initiative der „Lebenshilfe“ entstand in den Folgejahren eine Vielzahl von Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit geistiger Behinderung. Die Zahl der Kindergärten für geistig Behinderte stieg im Zeitraum von 1962 bis 1982 von 10 auf 410, die von Schulen bzw. Tagesbildungsstätten im selben Zeitraum von 50 auf 550.

Aufbauphase

In den 1960er Jahren, der Aufbauphase, wurde in fast allen westlichen Bundesländern die Schulpflicht für Kinder mit geistiger Behinderung gesetzlich verankert. Es wurden weitere Schulen gegründet und bestehende hortähnliche Tagesbildungsstätten in Sonderschulen für Geistigbehinderte umgewandelt. Es entstanden Richtlinien und Lehrpläne für den Unterricht. Mit der Forderung des Deutschen Bildungsrates, dass die Grundschule für die Bildung aller Kinder zuständig sei, begann 1973 die Diskussion um die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen und zwischen 1970 und 1987 die ersten integrativen Schulversuche in München, Berlin, Hamburg, Bonn und Köln.

Ausbauphase

Mit der Einführung des Bundessozialhilfegesetzes 1961 wurde das Recht auf Sozial- und Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung festgelegt, womit sie nicht länger auf Fürsorge angewiesen waren. Dieses Gesetz schaffte die Grundlage zum Ausbau des Versorgungssystems für Menschen mit geistiger Behinderung in den 1970er und 1980er Jahren. Es entstanden Frühfördereinrichtungen, Werkstätten für Behinderte, Wohnheime, Erwachsenenbildungs- und Freizeiteinrichtungen, auf deren Entwicklung ich in den nachfolgenden Kapiteln noch genauer eingehen werde. Das Aufgabengebiet der Geistigbehindertenpädagogik weitete sich immer mehr aus und ließ ein komplexes System von Hilfen und Maßnahmen entstehen, wie es im ersten Kapitel beschrieben wurde. Entwickelt wurde es in der Praxis, d.h. es geht auf Menschen zurück, die sich in besonderer Weise für die Belange dieses Personenkreises eingesetzt haben. Sie bewirkten, dass Einrichtungen, Erziehungs- und Betreuungskonzepte entstanden und die juristischen Grundlagen hierfür geschaffen wurden.

 

2.4.2Entwicklung in der DDR

Der Wiederaufbau des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone war geprägt vom Streben nach Demokratisierung des Bildungswesens (vgl. §6 des „Gesetz[es] zur Demokratisierung der deutschen Schule“ von 1946).

„Es war zweifellos die historische Erfahrung der menschenverachtenden Behindertenpolitik des Nationalsozialismus und das damit verbundene Bestreben einer sich selbst legitimierenden Abgrenzung gegenüber dieser Epoche deutscher Geschichte, die bewirkte, dass die Interessen behinderter Schüler von Anfang an Eingang in die allgemeine Debatte um den Bildungsaufbau in der Ostzone fand“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 311).

Aufbauphase

„Die revolutionären Veränderungen im Bildungswesen bewirkten auch im Bereich der Sonderschulen einen Wiederaufbau in historisch neuer Qualität“ (Baudisch et al. 1987, 16). Doch die ab 1948 einsetzende ‚Sowjetisierung‘ und ‚Ideologisierung‘ hatte für die Hilfsschulen im Gegensatz zu den allgemeinen Schulen kaum Bedeutung. Ab den 1960er Jahren wurden, so meint Barsch, sonderpädagogische bzw. rehabilitationspädagogische Theorie „auf der Basis des Sozialismus entwickelt, auch wenn dies für die praktische Arbeit in den Schulen und Fördereinrichtungen nur von geringer Bedeutung war“ (2007, 52f).

Kinder mit geistiger Behinderung wurden im Aufbau des Hilfsschulwesens zwar mitgedacht, aber in der Praxis nicht integriert, weil sie bis 1989 als bildungsunfähig galten. Diese Separierung nimmt das Schulpflichtgesetz von 1950 vor, indem es körperlich und geistig behinderte Schulpflichtige, die als schulbildungsunfähig galten, dem Ministerium für Gesundheitswesen der DDR zuordnete.

Professor Sigmar Eßbach von der Humboldt-Universität in Ost-Berlin beschreibt diese Entwicklung 1985: „Für die schulbildungsunfähigen Kinder und Jugendlichen war nicht die Volksbildung, sondern das Gesundheitswesen zuständig. Auf Grund einer mangelnden Quellenlage ist nur wenig über die Bildungs- und Betreuungsbedingungen dieser Population bekannt. Es gab in der SBZ (So-Besatzungszone, Anm. B. F.) noch keine Fördereinrichtungen, die sich sinnigen“ nachder ‚schulbildungsunfähigen‘ förderfähigen Kindern annahm. Der überwiegende pädagogischen Teil dieser Gruppe wurde in speziellen Klassen in den Hilfsschulen beschult, bis seit etwa Mitte der 1950er Jahre zunehmend die Forderung laut wurde, ‚im Interesse der Optimierung des Unterrichts in den Hilfsschulen die sog. ‚bildungsunfähigen‘ schwachsinnigen Kinder auszuschulen‘“ (nach Barsch 2007, 50). Während die leicht geistig behinderten Kinder weiter in den Hilfsschulen (in den Abteilungen II) unterrichtet und so weit als möglich in die sozialistische Gesellschaft integriert wurden, gab es für die Gruppe der Kinder mit schwerer Behinderung (IQ <20) weder Recht auf Beschulung, noch auf Betreuung (Barsch 2007, 50). Sie fanden, wenn sie nicht von der Familie versorgt werden konnten, Aufnahme in psychiatrischen und neurologischen Abteilungen von Krankenhäusern. Diese Personengruppe war in mehrfacher Hinsicht benachteiligt, weil für sie neben fehlenden Bildungseinrichtungen auch kein flächendeckendes Wohnangebot bestand (Barsch 2007, 216). Viele Menschen mit geistiger Behinderung lebten unter schlechten Bedingungen in psychiatrischen Einrichtungen, ohne dass dafür medizinische Indikationen vorlagen. Die Bildungs- und Freizeitangebote für sie waren überaus gering. In den wenigen verbliebenen kirchlichen Einrichtungen waren die Versorgung und das pädagogische Angebot besser.

Abb. 7: Klassifikation der „Schwachsinnigen“ nach pädagogischen Gesichtspunkten in der DDR (Baudisch et al. 1987, 36)

Ausbauphase

In den 1970er Jahren begann die Einrichtungen von ‚geschützten Arbeitsplätzen‘. Hierzu führen Baudisch et al. aus:

„Sehr schwer intelligenzgeschädigte Jugendliche oder solche mit stark leistungsmindernden Mehrfachschädigungen erhalten eine Ausbildung und üben produktive Tätigkeiten unter Bedingungen der ‚geschützten Arbeit‘ aus. ‚Geschützte Arbeit ist eine von physisch schwerstgeschädigten oder psychisch schwergeschädigten Menschen in einem besonders ausgestalteten Arbeitsverhältnis unter spezifischen Bedingungen ausgeübte Tätigkeit.’ (‚Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden‘ vom 26. August 1969, GB1. II, Nr. 75/1969, §1)“ (1987, 182).

Nachdem die geschützte Arbeit fester Bestandteil der Arbeitsgesetzgebung wurde, standen für geistig behinderte Jugendliche, die Hilfsschulen besuchten, 1989 über 30 Berufe zur Verfügung. Sie konnten eine Ausbildung als Teilfacharbeiter absolvieren. Die Ausdifferenzierung der Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung resultierte „aus dem großen Stellenwert, der der Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft zukam und der auch für die ‚Rehabilitanden‘ gelten sollte“ (Barsch 2007, 218).

Dispensaire

Nach dem Vorbild der Krankenversorgung in der Sowjetunion wurden Ende der 1960er Jahre auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses „Maßnahmen zur Förderung, Beschulung und Betreuung geschädigter Kinder und Jugendlicher sowie psychisch behinderter Erwachsener“ (1969) sogenannte ‚Kreisdispensaire‘, interdisziplinär arbeitende Ambulanzen, eingeführt. Ihre Aufgabe bestand in der Prophylaxe, Diagnostik, Therapie/Rehabilitation und Nachsorge psychisch entwicklungsgestörter Kinder und Jugendlicher sowie der Dokumentation und Planung von Maßnahmen. Die Arbeit der pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachkräfte bezog die Familien mit ein. Die Dispensairebetreuung wurde auch in Form von Hausbesuchen durchgeführt.

Ende der 1960er Jahre wurden an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Halle-Wittenberg die theoretischen Grundlagen für die pädagogische Arbeit mit geistig behinderten Menschen, die Rehabilitationspädagogik, entwickelt. „Das in Berlin entstandene ‚Grundlagenmaterial‘ bot den Fördereinrichtungen in Form einer Richtlinie mit Stoffplan detaillierte und praxisnahe Erziehungs- und Bildungsziele, die sich im wesentlichen an der Lebenswirklichkeit der in ihnen betreuten Kinder und Jugendlichen orientierten und nur marginal im theoretischen Unterbau von der sozialistischen Ideologie beeinflusst waren“ (Barsch 2007, 216). Die Rehabilitationspädagogik war von einem medizinischen Menschenbild geprägt. Dennoch glichen die didaktischen Grundsätze und Methoden denen der Sonder- bzw. Heilpädagogik der Bundesrepublik.

In der DDR führten die zahlreichen Entwicklungen in der Erziehung und Betreuung von Menschen mit Behinderung zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Lebensbedingungen geistig behinderter Menschen, wobei diese Entwicklungen jedoch nicht stringent verliefen. Das heißt, während sich die Bedingungen für lernbehinderter und leicht geistig behinderter Kinder und Jugendlicher verbesserte, „gelang dies für schwer behinderte Menschen nur in Ansätzen“ (Barsch 2007, 215). Der sozialistische Leistungs- und Gesellschaftsgedanke spielte anders als in Hilfsschulen für die Förderungseinrichtungen des Gesundheitswesens, also für Menschen mit geistiger Behinderung keine Rolle.

Zusammenfassung

Barsch fasst das Ergebnis seiner Untersuchung „Geistig behinderte Menschen in der DDR“ (2007) wie folgt zusammen:

1.„In der DDR existierte ein differenziertes, aber territorial unterschiedlich weit ausgebautes Rehabilitationssystem.

2.Die Behindertenpädagogik in Form der Rehabilitationspädagogik erlebte eine zunehmende Professionalisierung.

3.Die Orientierung an medizinischen Modellen resultierte aus dem Grundverständnis der Rehabilitationspädagogik als einer Pädagogik bei Schädigung. Trotz geforderter interdisziplinärer Gleichberechtigung konnte auch auf der Ebene der Rechtsvorschriften die Dominanz des medizinischen Urteils nicht abgeschwächt werden.

4.Aspekte wie Selbstbestimmung, Integration und Elternaktivität wurden kaum thematisiert. … Auf der praktischen Ebene entsprangen aus der Rehabilitationspädagogik Richtlinien und Stoffteile, die eine kindorientierte und effektive Förderung ermöglichten. Bildungs- und Fördermöglichkeiten für geistig schwerstbehinderte Menschen waren trotz einiger Ausnahmen so gut wie nicht vorhanden. Ihre Betreuung und Pflege basierte auf minimalen Standards.

5.Der Qualitätsgrad der Lebensbedingungen von geistig behinderten Menschen war stark abhängig vom Engagement von Einzelpersonen.

6.Geistig behinderte Menschen konnten – sofern die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur vorhanden war und das soziale Umfeld positiv wirkte – ein gesellschaftlich integriertes, beruflich und in ihrer Freizeit erfülltes Leben führen“ (Barsch 2007, 218f).


Abb. 8: Verwaltungsstruktur als Grundlage für unterschiedliche Systementwicklungen der Geistigbehindertenpädagogik in den beiden deutschen Staaten/System der DDR (Barsch 2007, 101)

Abb. 9: Verwaltungsstruktur als Grundlage für unterschiedliche Systementwicklungen der Geistigbehindertenpädagogik in den beiden deutschen Staaten/System der BRD