Grundwissen Geistigbehindertenpädagogik

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2Historische Wurzeln der Geistigbehindertenpädagogik

Um die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung, die Konzepte und Methoden ihrer Erziehung in ihrem Gewordensein besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, auf das Leben und die Betreuung dieser Menschen vor unserer Zeit zurückzuschauen. Frühere Einstellungen und Sichtweisen, die Art ihrer sozialen Akzeptanz bleiben bis heute prägend für das Verständnis von geistiger Behinderung. Die Auffassung von Behinderung bestimmt letztlich die Maßnahmen, d.h. die Weise der Behandlung, der Betreuung oder der Erziehung. Erfahrungen früherer Generationen im Umgang mit behinderten Menschen zeigen also heute noch ihre Wirkung und sind für die Standortbestimmung der aktuellen Geistigbehindertenpädagogik von informativem Wert.

Historische Quellen über Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Art der Behandlung – ob diese Menschen nun Pflege und Versorgung erhielten oder im Gegenteil umgebracht wurden – war im Verlauf der Jahrhunderte bestimmt vom jeweiligen menschenachtenden oder -verachtenden Zeitgeist, von sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Bedingungen, von staatlichen Machtstrukturen, von Staats- und Gesellschaftsideologien, die wiederum stark von theologischen Ethiken geprägt waren. Die Motive der Hinwendung reichten von gottesähnlicher Verehrung der Behinderten im Altertum, über exorzistische Vernichtung im mythischen Mittelalter, über pseudo-karitative Mildtätigkeit bis hin zu systematischer Pflege aus christlicher Nächstenliebe in den aufkeimenden Anstalten des 19. Jahrhunderts. Die fürsorgerische und pädagogische Hinwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung hat sich im Verlauf der Geschichte stark verändert:

„Die Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung ist – historisch gesehen – ein junges Gebiet. Es ist bewundernswert, welche Höhe sie im 19. Jahrhundert in einigen Anstalten erreichte. Es ruft Entsetzen hervor, daß im 20. Jahrhundert eine sturzflutartige Abwärtsbewegung begann, die mit der Ermordung von etwa 80.000 geistig behinderten und psychisch kranken Menschen während des Krieges endete“ (Möckel et al. 1997, 10).

Der nachfolgende Rückblick beleuchtet schlaglichtartig wesentliche Aspekte dieses Wandlungsprozesses und zeigt begünstigende wie hemmende Bedingungen der Entwicklung einer speziellen Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung auf.

Eine systematisch aufgearbeitete „Geschichte der Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung“ gibt es nicht. Zwar hatte Max Krimsee (1877–1946), Lehrer und späterer Leiter der Anstaltsschule am Kalmenhof in Idstein/Taunus, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der historischen Aufarbeitung begonnen, doch seine Arbeiten sind Stückwerk geblieben. Er hinterließ eine Sammlung von heilpädagogischen Originaltexten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die nach dem Zweiten Weltkrieg, bezogen auf die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, analysiert wurden. Die Realisation des Vorhabens erwies sich aber als schwierig, weil verschiedene Termini zur Kennzeichnung der geistig Schwachen verwendet worden sind, „so daß es nicht möglich ist, stets genau auszumachen, ob auch wirklich dieser Personenkreis gemeint ist, der heute als geistig behindert bezeichnet wird“ (Speck 1979, 57).

Seit den 1970er Jahren erschien eine Reihe von Monographien. Sie thematisieren entweder die Geschichte einzelner Anstalten, wie z.B. die des Wittekindshofs bei Bad Oeynhausen (Klevingshaus 1970) oder die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof (Scheuing 1997) oder sie widmen sich den Werken einzelner früher Heilpädagogen (z.B. Selbmann 1982 zu dem Werk von Jan Daniel Georgens). Beispiele für die Beschäftigung mit einzelnen Epochen sind u.a. die Untersuchung der Zeit vor der Aufklärung (Bachmann 1985) oder die „Erforschung und Therapie der Oligrophrenie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (Meyer 1973).


Als Untersuchungen im Sinne historischer Überblicke sind zu nennen: Meyer (1973), Speck (1979, 1999), Höhn (1982), Schröder (1983), Möckel (1984, 1988, 2007), Mühl (1991) oder Merkens (1988), Hahn 2008 u. v. a. m. Beachtenswert und zum vertiefenden Selbststudium zu empfehlen sind die jüngst erschienenen beiden Quellenbände des Herausgeberteams Möckel, Adam und Adam (1997 und 1999), Lindmeier, Lindmeier (2002). Hierin sind die wichtigsten heilpädagogischen Quellen (Texte) aus der Zeit der Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert bis heute zusammengetragen und in Bezug zueinander gestellt. Schriften der Klassiker wie Itard, Séguin, Guggenbühl, Rösch, Saegert, Georgens und Deinhardt, aber auch von Gegnern der Erziehung geistig behinderter Kinder während der Zeit des Nationalsozialismus wie z.B. Binding und Hoche sind hier zu finden.

Zusammenfassung

Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung auf Einzelinitiativen von Philanthropen, i. d. R. an pädagogischen Fragen interessierten Ärzten und Theologen, später auch Pädagogen zurückgeht. Sie haben durch ihr soziales Engagement gezeigt, dass sich der Zustand so genannter ‚schwachsinniger‘ Kinder durch erzieherische Maßnahmen verbesserte. Die staatliche Unterstützung in finanzieller wie juristischer Hinsicht, d. h. das Recht auf Versorgung und Erziehung sowie die Errichtung von Anstalten und Schulen, war erst ein zweiter und schwer durchsetzbarer Schritt, der bezogen auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung erst im 19. Jahrhundert begann. Über die Zeit davor gibt es keine systematische Aufarbeitung, dennoch lassen sich im Sinne historischer Orientierungsdaten einige Aussagen zum Leben der Menschen mit geistiger Behinderung machen. „Die Geschichte dieser Menschen war über Jahrhunderte hinweg die Geschichte ihrer Verfolgung und Mißachtung“ (Speck 1997, 13).

2.1Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert

Es ist anzunehmen, dass in den „Anfängen der Menschheitsgeschichte wenig Rücksicht auf gebrechliche, kranke, auch geschädigte Gruppen- oder Stammesmitglieder genommen werden konnte, wollte man das Überleben sichern“ (Mühl 1991, 9). Erst mit dem Sesshaftwerden in der jüngeren Stein- und Bronzezeit wurde eine grundsätzliche Betreuung geschädigter Mitmenschen möglich. Ob diese aber auch wirklich erfolgte, „hing auch von den magischen, mythologischen und normativen Vorstellungen der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft ab“ (9). Unter den Menschen mit Behinderungen nahmen die mit einer geistigen Behinderung, die sog. Schwachsinnigen oder Idioten, eine Sonderstellung ein, weil angenommen wurde, dass sie unter Einfluss von Dämonen oder Geistern stünden. Man konnte sich das Anderssein dieser Menschen nicht erklären, zu „naturwidrig war ihr Bild“ (Speck 1999, 11).

Verstoßen und getötet

Während blinde oder leicht körperlich beeinträchtigte Menschen wegen ihrer Intelligenz bzw. ihres Vermögens zu sprechen in alten Hochkulturen (Sumerer, Babylonier oder Ägypter) Achtung erfuhren, wurden geistig behinderte in der Regel verstoßen oder getötet. Bei den Römern und Griechen war die Sitte des Aussetzens und des Kindesmordes verbreitet, ebenso bei den Germanen. Einzelne Spuren dieser Praxis lassen sich verfolgen bzw. belegen und sind z.B. bei Merkens (1988) nachzulesen.

Irrationale Abwehr

Mythologische Erklärungen für die Ursache des Schwachsinns hielten sich bis über das Mittelalter hinaus. „Man glaubte an die Einwirkung von Dämonen, an den Kindertausch durch den Satan (,Wechselbalg‘), auch an die ,Strafe Gottes‘ für Sünden der Vorfahren“ (Speck 1979, 57). Man griff zu Beschwörung und Zauberei; Maßnahmen, die aber keineswegs dem geschädigten Menschen oder gar seiner Integration in die Gemeinschaft dienten, sondern ausschließlich dem Schutz der Mitmenschen vor dem als Bedrohung erlebten „Schwachsinnigen“. Die Praktiken waren demzufolge mystisch-religiöse Abwehrmechanismen. Separation, Ausgrenzung und Vernichtung waren soziale Antworten auf das Unbegreifliche des Andersseins. „Es gab keine Anerkennung ihres Lebensrechtes und ihrer Menschenwürde“ (Speck 1999, 11).

„Schwachsinnige“ Menschen behielten auch in der Neuzeit ihre soziale Sonderstellung und erfuhren unterschiedliche Wertschätzung. Sie wurden auf Jahrmärkten zur Schau gestellt, als Narr zum Spielzeug und Gespött, als Dämon gefürchtet, aber auch als schwaches Wesen unter den besonderen Schutz Gottes gestellt. In den Alpenländern wurden diese Menschen zeitweise als Heilige verehrt. Meist aber fristeten sie ihr Leben elend am Rande der Gesellschaft, angewiesen auf Almosen und abgeschoben in Klöster, Armenhäuser, Hospitäler, Irrenanstalten, Zucht- und Tollhäuser, oder blieben in den Familien. Sie waren dem Gespött und der Willkür anderer ausgesetzt. Das Motiv ihrer Unterbringung in öffentlichen Häusern war nicht medizinischer oder pädagogischer Natur. Nicht die Verbesserung ihres Zustandes war Ziel, sondern allein die Abschirmung, der Schutz der Öffentlichkeit vor dem Anblick dieser Menschen.

 

„Mit der Auflösung der Klöster während der Reformationszeit ging ihre Umwandlung in Waisenhäuser, Asyle, Zucht- und Aufbewahrungsanstalten einher, in denen Behinderte, Arme, Kranke und Kriminelle gemeinsam untergebracht wurden. Die Bevölkerung sollte vor dem Anblick dieser Personen verschont werden“, damit ihre Bewohner „der Umwelt nicht zu Ekel und Abscheu gereichten“ (Merkens 1988, 44).

In welch heterogen zusammengewürfelten Gruppen früher geistig behinderte Menschen untergebracht waren, wird in einer 1588 erschienenen Schrift über das in eine psychiatrische Einrichtung umgewandelte Kloster Haina beschrieben:

„… das das grosse gewaltige Closter Heina durch auß mit Armen leuten als Blinden, Lamen, Stummen, Tauben, Wanwitzigen, Monsichtigen, Sinnverrückten, Besessenen, Mißgestalten, Aussetzigen und dergleichen bresthafftiger Armer menschen heuffig und völlig besetzet wardt“ (Letzner 1588, 7. Kap., nach Schröder 1983, 17).

Die Lebensbedingungen in diesen Aufbewahrungsanstalten waren aus unserer heutigen Perspektive unmenschlich. So berichtete Chiarugi 1795 in seiner Abhandlung über den Wahnsinn Folgendes:

„Es muß gewiß für jeden Menschenfreund einer der schauderhaftesten Anblicke sein, wenn man in sehr vielen Irrenhäusern die unglücklichen Opfer dieser schrecklichen Krankheit in finstern, feuchten Löchern, wo die frische Luft nie hineingebracht werden kann, auf unreinem, selten gewechseltem Stroh, mitten in ihrem eigenen Kote, und mit Ketten gefesselt, oft ganz nackend legen sieht. In solchen Wohnungen des Schreckens könnte der Vernünftigste wohl eher wahnsinnig, als ein Wahnsinniger wieder zur Vernunft gebracht werden“ (nach Schröder 1983, 27).

Die Menschen, die in diesen Tollhäusern arbeiteten, charakterisierte Reil 1803 folgendermaßen:

„Die Zuchtknechte, Stockmeister und Diebeswärter sind meistens rohe Menschen, bei denen Barbarey an der Tagesordnung steht, und welche obendrein diese Unglücklichen als eine lästige Bürde ihrer Amtspflichten betrachten, die sie, um sie auf die kürzeste Art zu besorgen, in feuchte Gewölbe, Gefängnisse und in die Kellergeschosse ihrer Anstalten einsperren. Das nächtliche Gebrüll der Rasenden und das Geklirre der Ketten hallt Tag und Nacht in den langen Gassen wider, in welchen Käfig an Käfig stößt, und bringt jeden neuen Ankömmling bald um das Bischen Verstand, das ihm etwan noch übrig ist“ (nach Schröder 1983, 28).

Von gesellschaftlichem Zusammenleben und erzieherischer Fürsorge ausgeschlossen, konnten geistig behinderte Menschen keine Kommunikations- und Verhaltensweisen entwickeln, d.h. sie entsprachen mit ihrem Verhalten dem Bild, das sich die Umgebung von ihnen machte. Menschen mit geistigen und schwereren körperlichen Gebrechen befanden sich demnach in einem Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen war.

Ambivalenter christlicher Einfluss

Auch das Christentum konnte oder wollte dieser Praxis anfänglich nicht wirkungsvoll begegnen, weil es zwar teilweise der Dämonisierung entgegenzuwirken versuchte, aber mit der Einführung der Schuldfrage nichts zur Anerkennung behinderter Menschen beitrug. Die Verquickung von Schuld- und Ursachenfrage sowie die Interpretation von Behinderung als Strafe Gottes für die Eltern oder die Gesellschaft verstärkten noch die Praxis der Isolierung.

Die historischen Quellen lassen erkennen, dass schon früh ein Unterschied im Umgang mit behinderten Menschen gemacht wurde, also eine gewisse Hierarchie der Behinderungsformen bestand. Obwohl auch sinnesgeschädigte, blinde oder gehörlose Menschen sozial kaum integriert waren, genossen sie aufgrund ihrer kompensatorischen Fähigkeiten höhere öffentliche Anerkennung als schwachsinnige Menschen. Schon früh konnte die Nützlichkeit und Brauchbarkeit Sinnesgeschädigter von der Taubstummenpädagogik des 18. Jahrhunderts unter Beweis gestellt werden. Menschen mit geistiger Behinderung „blieben von den Erfolgsmeldungen ausgeschlossen“ (Merkens 1988, 55), zumal sich die frühe Heilpädagogik ihrer nicht annahm. Sinnesgeschädigte hingegen galten als bildungsfähig,ihnen sprach man ihr Menschsein nicht ab, anders als den sog. Schwachsinnigen.

2.2Beginn der Geistigbehindertenpädagogik – Anstaltsgründungen im 19. Jahrhundert

Menschen mit geistiger Behinderung wurde erst im 19. Jahrhundert pädagogische Aufmerksamkeit geschenkt. Begünstigend wirkten die zunehmende Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Veränderungen sowie vor allem das Gedankengut der Aufklärung, „in deren Gefolge man sich für die Befreiung bzw. Behandlung von Sklaven, Gefangenen, Kranken, Blinden und Tauben engagierte“ (Mühl 1991, 10). Das Recht auf Bildung sollte nicht länger nur den privilegierten Bevölkerungsschichten vorbehalten bleiben. Alle Kinder sollten durch staatliche Erziehung zu Sittlichkeit und bürgerlicher Nützlichkeit gebracht werden; eine Forderung, die man auch für geschädigte Kinder erhob, weil die ersten Erziehungsversuche tauber und blinder Kinder, Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Bildbarkeit und damit ihre gesellschaftliche Nützlichkeit belegten. Ihre menschliche Würde sollte ihnen darum nicht länger abgesprochen werden. „Vom Almosenempfänger zum Steuerzahler“ war der Leitgedanke der frühen Heilpädagogik, mit dem man glaubte, das Menschen- und Lebensrecht für Menschen mit Behinderung durchsetzen und wahren zu können.

Diesen Leitgedanken auf Menschen mit geistiger Behinderung zu übertragen und deren gesellschaftliche Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, erwies sich als schwierig und brauchte Zeit. Obwohl von der Taubstummenpädagogik beeinflusst, war die Fürsorge für „Schwachsinnige“ oder frühe Geistigbehindertenpädagogik gezwungen, eigenständige Wege zu entwickeln. Die so genannten schwachsinnigen Menschen mussten erst aus ihren gefängnisähnlichen Unterbringungen herausgeholt und menschenwürdiger Pflege und Versorgung zugeführt werden. Dies erfolgte in Anstalten, die meist auf private Initiative hin entstanden.

Die Errichtung von staatlich unterstützten Schulen als Orten der Erziehung war erst der zweite Schritt. Das 19. Jahrhundert, das wegen seines reformerischen Zeitgeistes auch das „pädagogische Zeitalter“ genannt wird, begünstigte diese Entwicklung.

J.J. Guggenbühl

Die Ideen der Aufklärung führten zu einem stärkeren Interesse an der Wissenschaft und regten die Erforschung der Geistesschwäche, des „Kretinismus“, an. Im heutigen Verständnis ist der Kretinismus eine Form der geistigen Behinderung, die aufgrund eines Schilddrüsenhormonmangels (Jodmangels) der Mutter entsteht und beim Kind zu dauerhaften Entwicklungsstörungen des Skelett- und Nervensystems führt. Jodmangel war ein Phänomen, das im vergangenen Jahrhundert in den Alpenländern weit verbreitet war. Die Schweiz, in der der Kretinismus gehäuft auftrat, gilt darum als Ursprungsland der Erforschung dieser Erscheinung. Der Arzt Johann Jacob Guggenbühl (1816–1863) gründete 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken eine „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“ und war überzeugt, den „Schwachsinn“ heilen zu können, musste sich aber später eines Besseren belehren lassen.

J.L.H. Down

Weitere Ursachen des Schwachsinns wie z. B. das sog. DownSyndrom entdeckte die Medizin erst später. 1866 publizierte der englische Arzt John Langdon H. Down (1826–1896) seine „Beobachtungen zu einer ethnischen Klassifizierung von Schwachsinnigen“.

„Darin unternimmt er“, wie Speck berichtet, „den Versuch, die ihm bekannten Gruppen von Schwachsinnigen bestimmten Rassen zuzuordnen, und beschreibt dabei erstmals den von ihm sogenannten ,mongolischen Typ der Idiotie‘. Beachtlich ist hierbei, dass er nicht nur Symptomatologie und eine spekulative Ätiologie darstellt, sondern auch konkrete Möglichkeiten der Behandlung –, systematic training‘„ (Speck 1999, 15).

Die Zuwendung zu Menschen mit geistiger Behinderung erfolgte im 19. Jahrhundert aus drei verschiedenen Beweggründen: aus medizinischem, pädagogischsozialem oder religiös-karitativem Interesse. Die ersten Anstaltsgründer waren reformerisch denkende Ärzte, Pädagogen (Taubstummenlehrer) und Theologen, denen es um die Verbesserung der Lebenssituation dieses Personenkreises ging. Bestärkt wurden sie in ihrem Tun durch einen optimistisch-aufklärerischen Zeitgeist. „Das Vordringen des naturwissenschaftlichen, d.h. kausalen Denkens, gab starke Anstöße für eine systematische Entfaltung der Arbeit für den geistesschwachen Menschen“ (13). Bei der Gründung der ersten Heil- und Pflegeanstalten war die Hoffnung auf medizinische Heilung bestimmend. Man versuchte, den Gesundheitszustand der Zöglinge durch Hygiene und diätetische Ernährung zu verbessern. Bäder, Waschungen, Schwimmen und Gymnastik sollten den Körper stärken. Die Ärzte suchten nach Behandlungsmethoden, die aber nur begrenzt wirkungsvoll waren. Die parallel dazu beginnenden Erziehungsversuche erwiesen sich als erfolgreicher.

Pestalozzi unternahm z. B. einen ersten Erziehungsversuch, indem er in seinen Erziehungsanstalten auf dem Neuhof (1777/78) neben verwahrlosten auch zwei „schwachsinnige“ Kinder aus einem Tollhaus aufnahm. In seinem 1777 veröffentlichtem Werk „Bruchstücke aus der Geschichte der niedrigsten Menschheit – Aufruf der Menschlichkeit zum Besten derselben“ hält er als ein Ergebnis dieser Erziehungsversuche fest:

„Und es ist tröstende Wahrheit, auch der Allerelendeste ist fast unter allen Umständen fähig zu einer alle Bedürfnisse der Menschheit befriedigenden Lebensart zu gelangen – Keine körperliche Schwäche, kein Blödsinn allein gibt Ursach genug – solche mit Beraubung ihrer Freiheit in Spitälern und Gefängnissen zu versorgen – sie gehören ohne anders in Auferziehungshäuser, wo ihre Bestimmung ihren Kräften und ihrem Blödsinn angemessen gewählt und leicht und einförmig genug ist – so wird ihr Leben, der Menschheit gerettet, für sie nicht Qual sondern beruhigte Freude, für den Staat nicht lange kostbare Ausgabe sondern Gewinnst werden“ (in Möckel 1997, 32).

J.-M.-G. Itard

Erste Angaben über gezielte Erziehungsversuche schwachsinniger Menschen stammen von Jean-Marc-Gaspard Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt in Paris, der über fünf Jahre „Victor“ oder das „Wildkind von Aveyron“ mit pädagogischen Mitteln zu kultivieren versuchte. Der im Wald aufgewachsene und völlig verwilderte Junge „Victor“ war zwar als psychiatrisch unheilbarer „Idiot“ diagnostiziert worden, dennoch war Itard davon überzeugt, seinen Zustand durch eine Form von Erziehung verbessern zu können.

„Dabei ging er von der für damalige Ansichten erstaunlichen Annahme aus, daß die Ursache für das verwilderte Verhalten des Jungen in sozialer und pädagogischer Vernachlässigung zu suchen sei, und daß deshalb durch gezielte Übungen und soziale Zuwendung eine soziale Eingliederung und eine Förderung der Intelligenz zu erreichen sei. Die – wenn auch begrenzten – Erfolge gaben Itard prinzipiell Recht“ (Speck 1979, 58).

E. Séguin

Mit seiner Erziehung versuchte er, die Sinne des Jungen zu entwickeln und dadurch seine intellektuellen Funktionen anzuregen. „Es war der Beginn der ,physiologischen Erziehung‘, deren Basis die Erweckung der Sensibilität der Sinne durch starke Reize, also eine Sinnesschulung darstellte“ (Mühl 1991, 11).

 

Itards Berichte beeinflussten spätere Erziehungsversuche und vor allem den Taubstummenlehrer, Arzt und Leiter einer Idiotenschule in Paris, Edouard Séguin (1812–1880), der ein erstes Lehrbuch über die Behandlung der „Idiotie“ schrieb. Diese Schrift hat die Schwachsinnigen- oder Geistigbehindertenpädagogik des 19. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Séguin erkannte, „daß die Erziehung geistig behinderter Kinder auf wissenschaftlichem Niveau nur durchdacht werden kann, wenn zugleich die gesamte Erziehung mitreflektiert wird“ (Möckel 1997, 60).

Physiologische Erziehung

Séguin entwickelte das Konzept der „physiologischen Erziehung“, als Sinnes- und Funktionsschulung weiter. Es war prägend für die pädagogische Arbeit in den Anstalten und hat viele Pädagogen bis heute nachhaltig beeinflusst wie z. B. Maria Montessori, die den sensualistischen Standpunkt in ihre Pädagogik übernahm. Spuren dieser Methoden sind auch heute noch in Konzepten der Sinnesschulung wie z.B. bei J. Ayres oder A. Fröhlich zu finden.

Die „physiologische Erziehung“ diente den Philanthropen dazu, den Allgemeinzustand der Menschen mit Behinderung zu verbessern, ihre Bildungsfähigkeit und damit ihr Mensch-Sein unter Beweis zu stellen, womit sie letztlich die öffentliche Anerkennung des Lebensrechtes ihrer Schützlinge anstrebten.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die ersten Erziehungsversuche keine Einzelinitiativen blieben, da durch ihre Erfolge das Interesse an Menschen mit Behinderung wuchs. Aus der Fülle der im 19. Jahrhundert errichteten Anstalten sollen hier nur beispielhaft vier genannt werden:

1845 Gründung der „Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige“ in Berlin durch Carl Wilhelm Saegert (1809–1879, Direktor der königlichen Taubstummenanstalt Berlin,

1863 Gründung der Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg durch Pastor Dr. Heinrich Sengelmann (1821–1899),

1872 Gründung der Anstalt für Epileptiker in Bethel bei Bielefeld durch Pastor Dr. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910),

1884 Gründung der Ursberger Anstalten, eine der größten Einrichtungen mit lange Zeit über tausend behinderten Menschen und vielen hundert Betreuern.

Die meisten Anstaltsgründungen gehen auf private Initiativen zurück und waren kirchlich-karitative Institutionen, die von einem christlichen Ethos getragen waren. „Man würde ihnen aber nicht gerecht, wollte man sie nur unter diesem Aspekt betrachten. Sie waren vielmehr (…) mitgetragen von den pädagogischen und medizinischen Impulsen und Erkenntnissen, die sich in dieser Zeit allmählich verbreiteten“ (Speck 1999, 15). Die heilpädagogische Arbeit dieser Zeit war nicht nur eine praktische, eine Entwicklung und Erprobung von konkreten Behandlungs- und Erziehungsmethoden.

Es gab auch die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dieser neuen Form der Pädagogik, z.B. die von Georgens und Deinhardt, über die man sich auf Tagungen und Treffen austauschte. Jan Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) waren Pädagogen und gründeten in der Nähe von Wien die Heil- und Erziehungsanstalt Levana.

In ihren Vorträgen versuchten sie, ihre praktischen Erziehungserfahrungen systematisch zu begründen. Ihre Vorträge fassten sie in zwei Bänden mit dem Titel „Die Heilpädagogik“ zusammen. Möckel charakterisiert und bewertet dieses Werk folgendermaßen: „Heilpädagogik war ihrem Ansatz nach Kritik der bestehenden Pädagogik. Ihr Werk ist ein ernstzunehmender Reformversuch. Später schien es, als sei ihr Werk ausschließlich ein Beitrag zur Geistigbehindertenpädagogik“(1997, 244). Die Schriften von Georgens und Deinhardt haben die erzieherische Arbeit in den entstehenden Anstalten des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst.

Neue Anstalten entstanden oft auf Anregung und auf der Grundlage der Erfahrungen der bereits bestehenden. An der Erforschung des komplexen Phänomens des „Schwach-sinns“ waren Mediziner, Pädagogen und Theologen beteiligt, weil man schnell feststellte, dass eine mehrdimensionale Vorgehensweise notwendig war. Von 1860 an setzten sich die Pädagogen stärker durch und die Ärzte zogen sich aus der Anstaltsarbeit weitgehend zurück, weil man erkannt hatte, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung durch eine entsprechende Erziehung und Betreuung mehr zu erreichen war als durch medizinische Therapie.


Abb. 6: Unterricht mit dem Bilderlesebuch: Ursberger Anstalten um 1920

Staatliches Desinteresse

Trotz Verbesserung der Lebenssituation und der Erfolge in der Erziehung blieb das staatliche Interesse an den Belangen schwachsinniger Menschen gering. Von den bis 1870 vornehmlich in Preußen und anderen norddeutschen Ländern „erfolgten 27 Anstaltsgründungen sind lediglich 4 durch Regierungen oder Behörden erfolgt und von den ab 1870 bis um 1900 gegründeten 52 Anstalten nur 10“ (Mühl 1991, 14). Trotz der zahlreichen Anstaltsgründungen konnten nicht alle „schwachsinnigen“ Kinder hier Aufnahme finden. Der Großteil verblieb in den Elternhäusern. Für diese Kinder musste eine andere Form der Erziehung gefunden werden, und dies unter staatlicher Beteiligung, das heißt unter schulrechtlicher Absicherung. „Die Schulpflichtgesetze schlossen zwar grundsätzlich alle Kinder mit ein, aber von einer rechtlichen Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Kinder war das Schulwesen noch weit entfernt“ (Möckel 1988, 207).

Erste staatliche Beschulungsversuche

Ende des 19. Jahrhunderts suchte man nach Formen einer Beschulung für schwachsinnige Kinder und versuchte dies durch Angliederung von sog. Sonderklassen an Volksschulen zu realisieren. In diesen Klassen fasste man alle die Kinder zusammen, die dem normalen Unterricht der Volksschule nicht folgen konnten. Aufgrund der Unschärfe der zur damaligen Zeit verwendeten Begriffe „Idiot“, „Schwachsinniger“ oder „Blödsinniger“ ist anzunehmen, dass sowohl Kinder mit Lernbehinderung als auch mit geistiger Behinderung diese Sonderklassen besuchten. Dasselbe gilt für die ab 1880 entstandenen Hilfsschulen. In diesen zeigte sich aber schnell, dass es eine beachtlich große Gruppe von Schülern gab, die das Ziel der Schule nicht erreichen konnte. Für diese „schwer schwachsinnigen“ und „nicht hilfsschulfähigen“ Kinder, also für die geistig behinderten, entstanden ab 1910 spezielle Klassen, die sog. Vorklassen, Vorstufen, Vorbereitungsklassen oder Sammelklassen. Während der Weimarer Republik waren in den Hilfsschulen ca. 10% der Schüler Kinder mit geistiger Behinderung, die in den Sammelklassen ganztägig betreut wurden. Man empfand diese „bildungsunfähigen“ Kinder als Ballast und rückte sie mit der Bildung von Sammelklassen an den Rand der Hilfsschule.

Erschwerend kam hinzu, dass sich um die Jahrhundertwende der Zeitgeist änderte und das Nützlichkeitsdenken stärker zunahm. Vor dem Hintergrund gesellschafts- und sozialpolitischer Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte sich der Leistungsdruck auf die Hilfsschulen, was – Hand in Hand mit der Verbreitung nationalsozialistischer Wertmaßstäbe (siehe folgenden Abschnitt) – dazu führte, dass die speziellen Klassen für „schwer schwachsinnige“ Kinder in Deutschland 1933 aufgelöst wurden.

2.3Sozialdarwinismus und Nationalsozialismus – Konsequenzen für Menschen mit geistiger Behinderung

Das nationale, staatlich bestimmte bürgerliche Zeitalter ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende. In Europa entstanden rivalisierende Staaten, die in einem gewissen wirtschaftlichen und damit auch politischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander standen. Die Weltwirtschaft beeinflusste die einzelnen Staaten immer stärker. Die nationalen wie internationalen Veränderungen führten zu gesellschaftlichen Verunsicherungen, die letztlich nicht ohne Wirkung auf die Pädagogik blieben.

Reformpädagogik

Man suchte nach neuen Wegen der Erziehung von Kindern. Leitgedanken wie Demokratie und Gerechtigkeit sollten in und durch Erziehung realisiert werden. Die Rechte der Kinder auf Eigenentwicklung sowie sozialerzieherische Zielsetzungen rückten stärker ins Bewusstsein von Pädagogen und fanden in den verschiedenen reformpädagogischen Ansätzen ihren Niederschlag, wie zum Beispiel in der Odenwaldschule von P. Geheebs (1870–1961), in der Jena-Plan-Schule von P. Petersen (1884–1952) und in anderer Weise in den Waldorfschulen von R. Steiner (1861–1925). Mit Möckel lassen sich die Veränderungen im pädagogischen Denken zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgendermaßen beschreiben:

„Seit der Reformation stützte sich die Erziehung auf die christlichen Hausväter und auf die unter kirchlicher, später staatlicher Aufsicht stehender Lehrer. Vor und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden viele neue Einrichtungen. … Die Reformpädagogik (Berthold Otto, Fritz Gansberg, Heinrich Scharrelmann, Célestin Freinet, Peter Petersen, Maria Montessori) kann als Versuch gesehen werden, die Erziehungskraft der bestehenden Schule zu reformieren und zu stärken“ (211).

Es ist anzunehmen, dass die Reformpädagogik keinen großen Einfluss auf die Heilpädagogik hatte, zumal die zentrale Stellung des Kindes im Entwicklungsprozess von Anfang an zu den Grundsätzen der Heilpädagogik gehörte und für diese demzufolge nichts Neues war. Außerdem machte die Heterogenität der Behinderungen ein Denken „vom Kinde aus“ notwendig (Merkens 1988, 88).

Die Heilpädagogik und, genauer, die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger durch die reformerischen Veränderungen in der Allgemeinen Pädagogik beeinflusst als vielmehr durch die Zunahme nationalsozialistischen und sozialdarwinistischen Denkens, das in der Zeit von 1933 bis 1945, im sog. Dritten Reich, zur Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen mit geistiger Behinderung führte.