Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung

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Interessanterweise findet sich das obige Muster – die Äußerung eines schwächeren AusdrucksSkalare ImplikaturenImplikaturskalare implikatiertimplikatieren das Nichtzutreffen des stärkeren Ausdrucks – nicht nur im Fall von einige und alle, sondern zum Beispiel auch bei können und müssen: Wenn ich mir einen Keks nehmen kann, dann muss ich ihn mir nicht nehmen. Oder auch bei glauben und wissen: Wenn ich sage, dass ich glaube, dass Augustin Speyer in seinem Büro ist, dann heißt das eben auch, dass ich es nicht (sicher) weiß. Dass dieses Phänomen ein sehr systematisches ist, wurde unter anderem in Horn (1972) beobachtet, der die Idee entwickelte, dieses Muster in so genannten SkalenSkala (heute Horn-Skalen genannt) zu formalisieren. Eine Skala meint in diesem Zusammenhang eine geordnete Liste von gleichartigen Ausdrücken, wobei der links stehende Ausdruck immer echt informativer ist als der rechts stehende Ausdruck. So ist < alle, einige > eine Skala bestehend aus den Quantoren einige und alle, < müssen, können > eine Skala bestehend aus den Modalverben können und müssen, und < wissen, glauben > eine Skala bestehend aus den Verben der propositionalen Einstellung glauben und wissen. Die Generalisierung ist nun, dass bei einer Skala < A2, A1 > der Ausdruck A2 (qua lexikalische Bedeutung) echt informativer ist als der Ausdruck A1 und die Äußerung von A1 (daher) im Normalfall das Nichtzutreffen von A2 kommuniziert. Diese Annahme lässt sich auch auf größere Skalen wie z. B. Numerale < n, n-1, …, 5, 4, 3, 2, 1 > generalisieren: Wenn ich einem Polizisten sage, dass ich 2 Gläser Wein getrunken habe, dann wird er davon ausgehen, dass ich keine 3 getrunken habe, und auch keine 4, und auch keine 5 etc. Die Annahme von Default-Folgerungen, die genau genommen nicht mehr direkt auf den Grice’schen Maximen operieren, nimmt die Weiterentwicklung der Theorie der generalisierten Implikaturen in Levinson (2000) bis zu einem gewissen Grad vorweg.

Die Theorie der skalaren Implikaturen eröffnet unter anderem eine Lösung für ein Problem, das sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der koordinierenden Konjunktion oderoderinklusivesoderexklusives im Deutschen stellt. Das Pendant zu oder in der Aussagenlogik, das formale Symbol ˅, verknüpft zwei Aussagen p und q zu einer komplexen Aussage (p ˅ q), die genau dann wahr ist, wenn mindestens eine der beiden Teilaussagen p und q wahr ist. In Form einer Wahrheitswerttabelle lässt sich diese inklusive Zur Arbeitsteilung zwischen Semantik und PragmatikSemantik des Junktors ˅ wie folgt darstellen: Die beiden Teilaussagen p und q können jeweils entweder den Wahrheitswert 1 (wahr) oder 0 (falsch) annehmen. Damit ergeben sich insgesamt 2 × 2 = 4 Möglichkeiten: Entweder sind beide wahr oder beide falsch oder genau eine der beiden wahr. Jede Zeile in der Tabelle repräsentiert eine dieser Möglichkeiten (vergleiche hierzu die Einträge in den beiden linken Spalten zu p und q). In der Spalte (p ˅ q) ist dann jeweils angegeben, ob der Satz (p ˅ q) unter dieser Wahrheitswertverteilung wahr ist oder falsch:


Die Frage, die sich nun stellt, ist: Ist die Bedeutungsbeschreibung des Junktors ˅ in der Aussagenlogik auch eine geeignete Bedeutungsbeschreibung für die Konjunktion oder im Deutschen? Auf den ersten Blick möchte man sagen: Nein! Denn oder im Deutschen schließt im Allgemeinen aus, dass beide Aussagen gleichzeitig zutreffen. Wenn ich sage: Ich wasche dir das Auto oder ich mähe den Rasen, dann schließe ich damit offenbar die Möglichkeit aus, dass ich beides mache. Betrachtet man sich nun aber auch die Bedeutungsbeschreibung des Pendants ˄ zu und in der Aussagenlogik, dann sieht man schnell, dass ˅ und ˄ eine Skala <˄, ˅> bilden: Wenn die Aussage (p ˄ q) wahr ist, dann ist immer auch (p ˅ q) wahr, aber nicht umgekehrt. Nach der Theorie der skalaren Implikaturen löst dann aber eine Äußerung von (p ˅ q) die Annahme aus, dass (p ˄ q) nicht zutrifft. Beide Aussagen zusammen, also die komplexe Aussage ((p ˅ q) ˄ ¬ (p ˄ q)), sind aber inhaltlich äquivalent zu einer exklusiven (also ausschließenden) Interpretation von ˅. Übernimmt man also die Bedeutungsbeschreibungen von ˄ und ˅ für die Konjunktionen und und oder, dann lässt sich die exklusive Interpretation von oder auf der Basis einer inklusiven Semantik von oder in Interaktion mit pragmatischen Prinzipien herleiten.

Beschließen wir den Abschnitt zu Konversationsimplikaturen mit einem weiteren Beispiel. Nehmen wir an, Sie stehen mit Ihrem Kollegen vor Ihrer Bürotür, haben einen Kaffee in der Hand und suchen nach Ihrem Schlüssel. Sie finden ihn aber nicht. Darauf hin sagen Sie zu Ihrem Kollegen: Kannst du mir die Türe öffnen? Genau genommen ist diese Frage eine Frage nach der Fähigkeit [50]oder Möglichkeit des Kollegen, die Türe zu öffnen. Dass dem tatsächlich so ist, zeigt die Tatsache, dass der Kollege die Frage im Prinzip mit ja beantworten kann (z. B., weil alle Bürotüren mit demselben Gruppenschlüssel geöffnet werden). Die Frage nach der Möglichkeit ist aber natürlich nicht der kommunikative Sinn der Äußerung. Was der Sprecher primär möchte, ist, dass der Kollege einfach die Bürotür öffnet. Mit anderen Worten: Wir verstehen die Frage nach der Möglichkeit, etwas zu tun, als die Aufforderung, es zu tun. Dieses Phänomen wird in der Literatur unter dem Indirekte SprechakteBegriff der indirekten SprechakteSprechaktindirekter diskutiert.

3.5 Sprechakte

Was ist ein Sprechakt? Bis jetzt haben wir uns darauf konzentriert, dass ein zentraler Aspekt sprachlicher Kommunikation darin besteht, Informationen zu kommunizieren (über sprachliche Kodierung und nicht-monotone Inferenz). Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Es ist zwar richtig, dass mit einer Äußerung in der Regel (auf irgendeine Art und Weise) Information kommuniziert wird, gleichzeitig können sprachliche Äußerungen aber immer auch als eine Form der HandlungHandlungAkt aufgefasst werden: Wenn ich den Satz Gib mir doch bitte mal das Buch da rüber! äußere, dann fordere ich den Adressaten mit dieser Äußerung auf, mir das fragliche Buch zu geben. Und wenn der Adressat darauf mit Welches Buch meinst du denn? reagiert, dann werde ich diese Äußerung als eine Frage verstehen, die ich zum Beispiel mit Ich meine »Homers letzter Satz« von Simon Singh beantworte. Die Handlung, die mit einer sprachlichen Äußerung verbunden wird, wird mit Austin (1962) Was ist ein Sprechakt?als Sprechakt bezeichnet.

Mit sprachlichen Äußerungen wird (typischerweise) auch eine sprachliche Handlung vollzogen. Diese Handlung wird seit Austin (1962) als SprechaktSprechakt bezeichnet.

Tatsächlich unterscheidet Austin (1962) bei sprachlichen Äußerungen drei Arten von Lokutionärer, illokutionärer und perlokutionärer AktHandlungen: den lokutionärenAktlokutionärer, den illokutionärenAktillokutionärer und den perlokutionärenAktperlokutionärer Akt. Der lokutionäre Akt fällt im Wesentlichen mit dem eigentlichen Äußerungsakt (also dem phonetischen Ereignis, inklusive der auf diese Weise kodierten syntaktischen und semantischen Information) zusammen. Der illokutionäre Akt meint dagegen genau den Handlungsaspekt, den wir [51]gerade thematisiert und dann als Sprechakt bezeichnet haben. Entsprechend spricht man häufig auch von der IllokutionIllokution einer sprachlichen Äußerung. Mit dem perlokutionären Akt einer sprachlichen Äußerung ist schließlich der intendierte Effekt beim Adressaten gemeint (also z. B., dass er mir das Buch gibt, im Fall einer Aufforderung; dass er meine Frage beantwortet, im Fall einer Frage; oder dass er mir glaubt, was ich gesagt habe, im Fall einer Behauptung). Im Zentrum der Sprechakttheorie steht naturgemäß der illokutionäre Akt und wir werden uns im Folgenden auch auf diesen Aspekt der sprachlichen Handlung beschränken.

Eine naheliegende Frage ist zunächst, ob mit jeder sprachlichen Mindestens ein Sprechakt?Äußerung auch immer eine sprachliche Handlung im Sinne eines Sprechakts (Illokution) verbunden ist. Im Allgemeinen wird das der Fall sein, es gibt aber auch Fälle, für die das zumindest nicht völlig offensichtlich ist. Ein solcher Fall ist die Diskurspartikel »Hm«. Die Partikel »Hm« kann von Zuhörern in einem Diskurs unter anderem als ein Signal eingesetzt werden, dass sie noch bei der Sache sind, dass sie noch zuhören. Diese Verwendung von »Hm« ist zwar genau genommen ebenfalls eine sprachliche Handlung, wird aber wohl besser als eine spezifische Funktion im Diskurs beschrieben.

Beschränken wir uns also auf die klar(er)en Fälle wie Fragen, Behauptungen, Versprechen oder Aufforderungen. Für diese Fälle liegt es wiederum nahe zu fragen, ob entsprechende Äußerungen immer mit genau einem Höchstens ein Sprechakt?Sprechakt verbunden sind oder ob gleichzeitig mehrere Handlungen durchgeführt werden können. Ein solcher Fall scheint nun tatsächlich mit den bereits erwähnten indirekten Sprechakten vorzuliegen: Wenn ich meinen Kollegen frage, ob er mir die Tür öffnen kann, dann ist und bleibt das letztlich eine Frage (der Kollege kann wie gesagt immer mit den Antwortpartikeln ja oder nein reagieren). Diese sprachliche Handlung ist in dieser Situation aber offenbar nicht die primäre: In erster Linie ist die Äußerung als eine Aufforderung zu verstehen, die Tür zu öffnen. Daher spricht man hier bei der Frage auch von der sekundären IllokutionIllokutionsekundäre und bei der Aufforderung von der primären IllokutionIllokutionprimäre.

 

Zwischen diesen beiden Illokutionen besteht nun ein wichtiger Zusammenhang: Die Aufforderung, die Türe zu öffnen, erfolgt offenbar auf der Grundlage der Frage, ob der Adressat dem Sprecher die Tür öffnen kann. Hier wird jetzt die Verbindung zu Implikaturen deutlich: Die Indirekter Sprechakt und KonversationsimplikaturÄußerung wird nur deswegen als Aufforderung verstanden, die Tür zu öffnen, da Sprecher und Adressat wissen (und sich dieses Wissen gegenseitig zuschreiben), dass der Adressat die Türe öffnen kann. Damit kann die Beantwortung der Frage aber nicht das primäre kommunikative Ziel des Sprechers sein, die Äußerung muss auf etwas anderes abzielen. In diesem Kontext liegt es dann nahe zu schließen, [52]dass der Sprecher möchte, dass der Adressat ihm die Türe öffnet. Damit muss die Äußerung aber als eine Form der Aufforderung verstanden werden.

Folgt man dieser Argumentation, dann hat der primäre Sprechakt den Status einer partikularen Konversationsimplikatur. Und der sekundäre Sprechakt? Muss man ihn ebenfalls als eine (partikulare) Konversationsimplikatur auffassen oder besteht hier eine direktere (konventionelle) Beziehung zwischen dem (syntaktischen) Zum Verhältnis von Satztyp und SprechaktSatztyp einerseits und dem (pragmatischen) Sprechakt andererseits? Mit anderen Worten: Verbinden wir in systematischer Weise den Satztyp Interrogativsatz mit dem Sprechakt der Frage, den Satztyp Imperativsatz mit dem Sprechakt der Aufforderung und den Satztyp Deklarativsatz mit dem Sprechakt der Aussage bzw. Behauptung? Auf den ersten Blick scheint es so. Auf den zweiten Blick muss man aber feststellen, dass die Beziehung zwischen Satztyp und Sprechakt sehr vielschichtig ist. So kann man gerade und vor allem mit Deklarativsätzen sehr unterschiedliche Sprachhandlungen vollziehen: Mit ich komme nächstes Mal pünktlich kann ich etwas versprechen, mit du öffnest mir jetzt sofort die Tür kann ich eine nachdrückliche Aufforderung aussprechen und mit ich bin gerade noch rechtzeitig angekommen kann ich einen Sachverhalt beschreiben und gleichzeitig meine Erleichterung darüber ausdrücken. Umgekehrt kann ein und dieselbe Sprachhandlung über verschiedene Satztypen realisiert werden, wie man gerade am Beispiel der nachdrücklichen Aufforderung gesehen hat (öffne mir jetzt sofort die Tür vs. du öffnest mir jetzt sofort die Tür). Dieses Verhältnis, das auch unter dem Begriff des SatzmodusSatzmodus in der Literatur diskutiert wird (vgl. z. B. Altmann 1993, Brandt u. a. 1992), kann hier aus Platzgründen leider nicht eingehender diskutiert werden (man vgl. hierzu aber z. B. das Kapitel zu Satzmodus in Pafel & Reich 2016).

Gleichzeitig hat obige Diskussion aber auch gezeigt, wie viele und wie heterogene Sprachhandlungen mit sprachlichen Äußerungen durchgeführt werden können. Daher scheint es unabhängig von der angedeuteten Beziehung zur Syntax sinnvoll, etwas Ordnung in das Chaos der Sprechakte zu bringen. Die Frage ist also, ob sich Kriterien finden lassen, nach denen verschiedene Sprechakte zu einigen wenigen (natürlichen) (Natürliche) Klassen von SprechaktenKlassen zusammengefasst werden können. Obwohl bereits mit Austin (1962) eine Taxonomie von Sprechakten vorliegt, muss man den in Searle (1979) entwickelten Alternativvorschlag sicherlich als den einflussreicheren bezeichnen.

Searle (1979) diskutiert eine ganze Reihe möglicher Kriterien, gründet seine Hauptklassen aber im Wesentlichen auf drei: den so genannten Illokutionärer Witzillokutionären Witzillokutionärer Witz eines Sprechakts, seine Wort-Welt-AusrichtungWort-Welt-Ausrichtung und die SprechereinstellungSprechereinstellung. Da die Sprechereinstellung letztlich eng mit dem [53]illokutionären Witz zusammenhängt, wird sie hier vernachlässigt. Mit dem Begriff des illokutionären Witzes bezeichnet Searle das, als was ein Sprechakt in letzter Konsequenz aufzufassen ist: Wenn ich zum Beispiel etwas behaupte, dann ist das als eine Festlegung auf das Gesagte aufzufassen. Und wenn ich etwas verspreche, dann ist das eine Verpflichtung, es auch zu tun.

In Analogie zu den Wahrheitsbedingungen, denen der propositionale Gehalt eines Sprechaktes unterliegt (Näheres hierzu im Kapitel zur Semantik), formuliert Searle (1969) auch GelingensbedingungenBedingungen für das Gelingen eines Sprechaktes. Aus Platzgründen können wir auf diese vier Bedingungen nicht im Einzelnen eingehen, es sei aber doch zumindest angemerkt, dass das Kriterium des illokutionären Witzes bei der Klassifikation von Sprechakten mit einer dieser Gelingensbedingungen, der wesentlichen Bedingung (das Tun von X zählt als Y), zusammenfällt. Ähnliches gilt für die Sprechereinstellung, die weitgehend der Aufrichtigkeitsbedingung (welche Sprecherintention mit einem Sprechakt verbunden ist) entspricht. Die Klassifikation von Sprechakten knüpft damit in natürlicher Weise an deren Charakterisierung an. Allein das Kriterium der Wort-Welt-Ausrichtung findet dort kein Pendant.

Das KriteriumWort-Welt-Ausrichtung der Wort-Welt-Ausrichtung bezieht sich im Gegensatz zum illokutionären Witz nicht primär auf die Natur des Sprechakts, sondern auf dessen propositionalen Gehalt (also im Wesentlichen den Teil der Äußerungsbedeutung, der einen Sachverhaltsbezug aufweist): Ist der ausgedrückte Sachverhalt wie in dem Satz 2018 wurde Frankreich Weltmeister grundsätzlich unabhängig von der Äußerung, dann hat die Äußerung nur rein beschreibenden Charakter und in diesem Sinne richtet sich das Wort nach der Welt. Man spricht dann von einer Wort-nach-Welt-Ausrichtung und symbolisiert dies mit einem nach unten gerichteten Pfeil ↓. Hängt der ausgedrückte Sachverhalt aber wie bei dem Satz Kauf doch bitte noch einen Ring Lyoner in dem Sinne von der Äußerung ab, dass die Äußerung den Auslöser für eine potentielle spätere Realisierung darstellt, dann richtet sich hier gewissermaßen die Welt nach dem Wort. Man spricht dann von einer Welt-nach-Wort-Ausrichtung und symbolisiert dies mit einem nach oben gerichteten Pfeil ↑. Und kommt der Sachverhalt wie bei Ernennungen (Hiermit ernenne ich Sie zur Professorin!) oder Schiedsrichterentscheidungen (Tor!) im Wesentlichen allein aufgrund und gleichzeitig mit der Äußerung in die Welt (Saying makes it so!), dann liegt anders als in den vorigen Fällen keine Asymmetrie vor und die Wort-Welt-Beziehung wird entsprechend durch einen Doppelpfeil ↕ dargestellt. Für Äußerungen wie Herzlichen Glückwunsch! oder Ohje!, die eher (oder rein) [54]expressiven Charakter haben, also primär einen emotionalen Zustand des Sprechers kommunizieren, wird von Searle keine (relevante) Wort-Welt-Beziehung angenommen (Ø).

Die zentrale Bedeutung der beiden Kriterien illokutionärer Witz und Wort-Welt-Ausrichtung für die Klassifikation von Sprechakten wird vor allem dann verständlich, wenn man weiß, dass Searle (1969) sprachlichen Äußerungen generell eine Struktur F(p) zuschreibt, in derIllokutionäre Kraft und propositionaler Gehalt eine illokutionäre Kraftillokutionäre Kraft F (Force) auf einem propositionalen GehaltGehaltpropositionaler p operiert. Mit diesen Kriterien (und weiteren Überlegungen) kommt Searle (1979) zu einer Taxonomie, die fünf verschiedene Klassen unterscheidet (vgl. hierzu Abb. 3.3): Assertive, Direktive, Kommissive, Expressive und Deklarative.


Abb. 3.3: Die Searle’sche Klassifikation von Sprechakten

Das klassische Beispiel für Assertive Sprechakteeinen assertiven SprechaktSprechaktassertiver ist die bereits vielfach erwähnte Behauptung: Wenn ich sage, dass Frankreich 2018 Weltmeister geworden ist, dann behaupte ich damit einen unabhängigen Sachverhalt (↓) und kommuniziere gleichzeitig, dass ich die Aussage für wahr halte. (Hier sollte sich der eine oder die andere an die Grice’sche Maxime der Qualität erinnert fühlen.) In diese Klasse fallen aber auch hypothetische Annahmen der Art wenn die Erde ein Scheibe wäre, dann würde man irgendwann runterfallen. Die Klasse der assertiven Sprechakte ist vergleichsweise klar umrissen und insgesamt wenig kontrovers.

Das kann von den beiden nächsten Direktive und kommissive SprechakteKlassen, den DirektivenSprechaktdirektiver und den KommissivenSprechaktkommissiver, nicht unbedingt behauptet werden. Der typische Fall eines direktiven Sprechakts ist die schon erwähnte Aufforderung, bei der der Sprecher den Adressaten auf eine (über die Äußerung präzisierte) zukünftige Handlung verpflichten möchte. Bei kommissiven Sprechakten wie dem Versprechen ist es dagegen der Sprecher selbst, der sich auf eine zukünftige Handlung verpflichtet. Da in beiden Fällen die Äußerung der Auslöser für die spätere Handlung ist, ist die Wort-Welt-Ausrichtung in beiden Fällen gleich: [55]Welt-nach-Wort (↑). Damit ist die Searle’sche Taxonomie aber keine Kreuzklassifikation mehr, in der jede Merkmalsausprägung nur genau eine Klasse charakterisiert.

In die Klasse der Direktive fallen nach Searle darüber hinaus auch Problemfälle und eine alternative KlassifikationFragen, da diese als eine Aufforderung an den Adressaten aufgefasst werden können, eine Antwort zu geben. In Brandt et al. (1992) wird allerdings kritisch angemerkt, dass bei Fragen der propositionale Gehalt grundsätzlich unabhängig von der Äußerung ist: Wenn ich frage, wer 2018 Weltmeister geworden ist, dann steht das bereits vor meiner Äußerung fest. Daraus sollte man aber schließen können, dass Fragen wie Assertive eine Wort-nach-Welt-Ausrichtung (↓) haben, die offenbar mit der Welt-nach-Wort-Ausrichtung (↑) von Direktiven kollidiert. Daher fassen Brandt et al. (1992) Assertive und Fragehandlungen in einer Klasse der DarstellungshandlungenHandlungDarstellungshandlung zusammen, die allein über die Wort-Welt-Ausrichtung Wort-nach-Welt (↓) definiert ist. Kommissive und Direktive bilden in dieser alternativen Taxonomie eine gemeinsame Klasse von RegulierungshandlungenHandlungRegulierungshandlung, die über die Wort-Welt-Ausrichtung Welt-nach-Wort (↑) konstituiert wird.

Die Klasse Expressive Sprechakteder expressiven SprechakteSprechaktexpressiver (die man in Brandt et al. 1992 als Klasse der Ausdruckshandlungen wiederfindet) scheint dagegen wiederum recht homogen über den Ausdruck psychischer Zustände charakterisiert zu sein. Hierunter fallen zum Beispiel der Ausdruck von Bedauern, von Freude oder von Schmerz. Searle fasst unter diese Gruppe allerdings auch Begrüßungen (Guten Morgen!) oder Gratulationen (Gratulation zur Beförderung!), bei denen nicht notwendigerweise ein entsprechender psychischer Zustand vorliegen muss und die möglicherweise nicht einmal notwendig einen solchen psychischen Zustand kommunizieren. Auch die Annahme einer fehlenden Wort-Welt-Ausrichtung ist durchaus nicht unkontrovers, da der Ausdruck von Schmerz oder von Freude offenbar einen entsprechenden psychischen Zustand voraussetzt. Das Kriterium der Wort-Welt-Ausrichtung orientiert sich folglich sehr eng an der semantischen Unterscheidung zwischen propositionalem und expressivem Gehalt einer Äußerung, eine Unterscheidung, auf die wir in Kapitel 7 zurückkommen.

Die letzte Klasse in Searles Taxonomie, die Deklarative Sprechakteder deklarativen SprechakteSprechaktdeklarativer, ist die vielleicht prominenteste Klasse, da entsprechende Sprachhandlungen bereits in Austin (1962) unter dem Begriff der performativen SprechakteSprechaktperformativer eingehend diskutiert werden und sich bei diesen Fällen der Handlungscharakter der Äußerungen vielleicht am deutlichsten herauskristallisiert: Wenn die Bundespräsidentin den zukünftigen Kanzler (fristgerecht nach der Kanzlerwahl) ernennt, dann ist die betreffende Person mit der Ernennung (durch [56]Verlesen und Übergabe der Ernennungsurkunde) Kanzler. Mit anderen Worten: Die Äußerung selbst verändert die Welt (und dies eben nicht nur in dem Sinne, dass etwas neu geäußert wurde oder dass sich der kognitive Zustand des Adressaten durch die Verarbeitung der Äußerung verändert hat). Deklarative Sprechakte sind in der Regel an ein Ritual oder zumindest an eine Art von Autorität gebunden: In Deutschland kann nur der Bundespräsident jemanden zur Kanzlerin ernennen und dies auch nur unter ganz spezifischen formalen Vorgaben. Andererseits kann natürlich ein Kind beim Playmobil-Spielen ganz informell qua Autorität festlegen, dass die eine Playmobil-Figur im Spiel jetzt der Papa ist und die andere die Mama.