Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik

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Das Geheimnis der Bismarckschen Reichsverfassung liegt darin, daß eigentlich keine Reichsregierung gebildet wurde. An Stelle der Reichsregierung stand der Bundesrat, die Gemeinschaft der einzelstaatlichen Regierungen, mit dem Reichskanzler als ihrem geschäftsführenden Vertrauensmann. Daß das buntscheckige Gesandtenkollegium des Bundesrats in Wirklichkeit gar nicht regieren konnte, das muß Bismarck von Anfang an gewußt haben. So war der Bundesrat das konstitutionelle Feigenblatt für die preußische Regierung über das Reich, und der Reichskanzler in Personalunion mit dem preußischen Ministerpräsidenten machte die deutsche Politik. Wenn in einer Spezialfrage zum Beispiel Bayern Sonderwünsche hatte, mußte die Frage auf diplomatischem Wege zur Erledigung gebracht werden, aber niemals ist die Reichspolitik durch das Zusammenwirken von Bayern und Baden mit Hamburg, Waldeck usw. bestimmt worden. Das Hauptstück der Reichsverfassung Bismarcks, die Reichsregierung durch den Bundesrat, war also von Anfang an eine offenkundige Fiktion.

Der Reichstag konnte zwar über alle politischen Fragen öffentlich reden. Aber die Armee und die Außenpolitik waren von vornherein seinem Einfluß entzogen. Das Geldbewilligungsrecht des Parlaments für das Heer durfte unter keinen Umständen die kaiserliche Kommandogewalt beeinträchtigen, und die Außenpolitik machte der Kaiser, beziehungsweise der Reichskanzler, ohne sich um die Reichstagsreden zu kümmern. Die innerpolitische Wirksamkeit des Reichstags wurde zunächst durch die Sonderrechte der Einzelstaaten lahmgelegt, und vor allem durch die vollständige Einflußlosigkeit des Reichsparlaments auf die Exekutive. Der Reichstag konnte höchstens den Etat ablehnen. Aber der böse Präzedenzfall der preußischen Konfliktszeit bewies, daß dann die Regierung ihre Zahlungen ohne gesetzliche Deckung weiter leistete. So war die einzige Waffe des Parlaments von vornherein stumpf.

Weder durch Ausnutzung des preußischen Landtags noch mit Hilfe des Reichstags war das Bürgertum in der Lage, einen maßgebenden Einfluß auf die deutsche Politik auszuüben. Aber Bismarck wußte trotzdem ganz genau, daß das Deutsche Reich ohne und gegen das Bürgertum weder zu gründen noch zu behaupten war. Verfassungsmäßige Rechte auf Kosten der Krone sollte das Bürgertum nicht erhalten. Aber der Regent, formal der Kaiser, in Wirklichkeit der Reichskanzler, sollte dafür sorgen, daß die berechtigten Ansprüche des liberalen Bürgertums erfüllt wurden: Die nationale Ausgestaltung des Deutschen Reichs sollte die Ideen der bürgerlichen Patrioten verwirklichen, die wirtschaftlichen Wünsche von Handel und Industrie sollten erfüllt werden. Die Ansprüche der Liberalen auf eine moderne, geistig hochstehende, allem »Muckertum« abgeneigte Regierungsform sollten, soweit es irgend ging, befriedigt werden. Bismarck wollte sogar noch weiter gehen: Er war bereit, Vertrauensmännern des liberalen Bürgertums einzelne Ministerposten in Preußen und wichtige Verwaltungsstellen im Reich anzuvertrauen und mit den liberalen Parlamentsfraktionen sachlich zusammenzuarbeiten. Aber all dies sollte auf dem freien Willen des Kaisers, bzw. seines entscheidenden Ratgebers beruhen. Wenn es nötig war, wollte Bismarck sich und seinen Nachfolgern jederzeit die Möglichkeit vorbehalten, die Liberalen so zu schlagen wie in der Konfliktszeit.

Vom Bürgertum verlangte Bismarck, daß es mit derartigen Zugeständnissen sich zufrieden gab und die Besonderheiten der außenpolitischen und militärpolitischen Lage Deutschlands begriff. Die starke militärische Kaisergewalt war doch die beste Stütze für das besitzende Bürgertum gegen die Gefahr einer proletarischen sozialen Revolution. Die Pariser Kommune hatte auf Bismarck den stärksten Eindruck gemacht. Er war der Meinung, daß eine bürgerlich-parlamentarische oder gar republikanische Verfassung nicht die nötige Widerstandskraft gegen den Ansturm der besitzlosen Massen aufbringen könnte. Schon deshalb sollte das Bürgertum die Einsicht haben und sich um die bestehende konservative Staatsordnung scharen, auch wenn ihm dieses oder jenes im Deutschen Reich nicht gefiel.

Auf der anderen Seite hielt Bismarck es für ebenso notwendig, daß die altpreußische Aristokratie sich in die neue Zeit hineinfügte. Die »Junker« mußten begreifen, daß das Deutsche Reich sich nicht nach den Methoden eines Gutshofs östlich der Elbe regieren lasse. Sie mußten sich mit der Existenz liberaler Minister und mit der Entwicklung städtischen Reichtums abfinden. Sie mußten einsehen, welche Macht die ungeschwächte preußische Königsgewalt auch für sie mit bedeutete. Sie mußten unter allen Umständen den Kaiser und den Reichskanzler unterstützen, auch wenn sie im Augenblick den Sinn der einen oder anderen Regierungsmaßnahme nicht verstanden. Bismarck hielt es für den gesündesten politischen Zustand, wenn eine große altpreußische konservative Partei im Lande mit einer großen liberalen Partei zusammenwirkte. Es mußte der Regierung überlassen bleiben, wie sie in jedem Einzelfall das Gleichgewicht der Kräfte herstellte. Die Regierung sollte nötigenfalls einmal nach rechts und einmal nach links schlagen, aber danach immer wieder die Versöhnung und Zusammenarbeit der beiden Grundkräfte des Reichs erzielen.

Wie man sieht, beruhte das Funktionieren dieses Systems ausschließlich auf der Persönlichkeit des obersten Regierungschefs. Es mußte ein Kanzler wie Bismarck oder ein König wie Friedrich der Große da sein, um die Diagonale der Kräfte zu ziehen. Fehlte die Führerpersönlichkeit, so fiel alles auseinander. Auch in England beruhte die 1689 stabilisierte Staatsordnung auf dem Kompromiß zwischen grundbesitzender Aristokratie und städtischem Bürgertum. Aber in England war ein organisches Zusammenwirken und Zusammenwachsen beider Klassen erzielt. Beide teilten sich in die Selbstverwaltung des Staats. Auf dem Lande regierte der grundbesitzende Gentleman als Friedensrichter usw., und in der Stadt regierten der Mayor und die Aldermen. Beide Klassen trafen sich dann im Unterhause als Vertreter der städtischen und ländlichen Wahlkreise. Sie respektierten gegenseitig ihre Privilegien, weil sie wußten, daß die Rechte der einen die Rechte der anderen voraussetzten. Sie bildeten gemeinsam die Regierung und wachten gemeinsam über die Aufrechterhaltung der Verfassung. In Deutschland fehlte schon die Grundlage des englischen Systems, nämlich eine ernsthafte Selbstverwaltung, deren Stelle die allmächtige Bürokratie einnahm. Die Allgewalt des Unterhauses erzog zum Zusammenwirken der Stände und Klassen auf diesem Boden, während die Ohnmacht des Reichstags ein positives parlamentarisches Kompromiß zur gemeinsamen Regierung des Reichs ausschloß. Im Bismarckschen Reichstag konnte eine Koalition nur dann positiv etwas leisten, wenn sie unbedingt mit der Regierung zusammenging. Eine oppositionelle Koalition von Parteien und Klassen konnte höchstens den Reichskanzler durch Nadelstiche ärgern.

Unter dem Eindruck der Siege von 1870/71 fand sich das liberale Bürgertum mit der Reichsverfassung Bismarcks ab, und es war bereit, den Kanzler parlamentarisch und moralisch zu stützen. Aber die Krise kam nur zu bald, und sie verschärfte sich dadurch, daß ja die beiden Kräfte, auf deren Zusammenwirken Bismarck das Deutsche Reich gründen wollte, nicht allein dastanden: Neben dem altpreußischen Konservatismus gab es noch den altdeutschen Konservatismus links der Elbe, und neben dem liberalen Bürgertum stand in wachsender Zahl und in wachsendem Klassenbewußtsein das industrielle Proletariat. Wer das Deutsche Reich im Gleichgewicht halten wollte, mußte nicht nur mit zwei, sondern mit vier Faktoren jonglieren, die alle in diesem Rahmen zueinander nicht paßten.

Der altdeutsche Konservatismus hatte bis 1866 seinen Hauptsitz in Wien. Die regierenden Bischöfe des alten Deutschen Reichs hatten im habsburgischen Kaiserhaus ihr natürliches Oberhaupt erblickt, und ebenso die reichsunmittelbare Ritterschaft, die nur dem Kaiser und nicht einem Landesfürsten unterstand. Die Auflösung der alten Reichsverfassung durch Napoleon I. hatte diese beiden reichsunmittelbaren Stände beseitigt. Aber nach wie vor erblickte die katholische Kirche Deutschlands sowohl wie die große Aristokratie am Rhein und in Süddeutschland in Österreich ihre Vormacht und den natürlichen Schützer ihrer Interessen. Das alte Kaiserreich war 1815 in der Form des Deutschen Bundes nur sehr unvollkommen wiederhergestellt worden. Aber im Sinn der alten Reichstradition hielten die mittleren und kleinen Bundesfürsten Preußen für den gegebenen Feind und Österreich für den gegebenen Freund. Denn von einer Steigerung der preußischen Macht erwartete man eine zentralistische Neuordnung Deutschlands, während die Fortexistenz der österreichischen Vorherrschaft auch das Weiterbestehen des deutschen Föderalismus garantierte.

Der deutsche Föderalismus fand seine Anhänger nicht nur bei den Dynastien, Geistlichen und Aristokraten, sondern ebenso bei weiten Schichten der agrarischen und kleinbürgerlichen Bevölkerung, die nicht wollten, daß ihre Steuern nach Berlin gingen und daß ihre gewohnten Regierungs- und Lebensbedingungen durch das preußische Oberkommando gestört wurden. Im Kriege 1866 stand der altdeutsche Konservatismus von Hannover bis München in geschlossener Front mit der Waffe in der Hand gegen Preußen. Die preußische Armee siegte, Österreich wurde aus Deutschland hinausgewiesen, Hannover, Kurhessen und Nassau wurden von Bismarck annektiert. Das liberale Bürgertum bekannte sich überall zu Preußen und zur Reichseinigung. 1870 zwang die liberale und nationale Bewegung die süddeutschen Staaten zur Beteiligung am Kriege gegen Frankreich.

Bismarck suchte bei der Reichsgründung den altdeutschen Konservatismus dadurch unschädlich zu machen, daß er die Dynastien fest an die neue Ordnung der Dinge knüpfte. Um das Haus Wittelsbach zu gewinnen, bewilligte Bismarck die Sonderstellung der bayerischen Armee. Der föderalistische Charakter des Bundesrats ließ den kleinen Dynastien so viel Rechte, wie es unter der Neuordnung der Dinge überhaupt möglich war. Bismarck hatte hier einen vollen Erfolg: Er hatte nach 1871 bei den außerpreußischen Dynastien niemals ernstliche Schwierigkeiten. Bismarck hätte zum Beispiel den Kulturkampf nie führen können, wenn er nicht den König von Bayern und damit die Münchener Regierung auch in dieser kritischen Situation fest auf seiner Seite gehabt hätte3.

 

So leicht wie die west- und süddeutschen Dynastien waren aber die altkonservativ gestimmten Volksschichten für das neue »evangelische Kaisertum« nicht zu gewinnen. Die katholische Geistlichkeit, der Hochadel, breite Massen von Bauern und Handwerkern in Süd- und Westdeutschland schlossen sich zu einer mächtigen Abwehrfront zusammen: Das Zentrum trat als die katholische Partei Deutschlands auf. Trotzdem war der Kulturkampf im Grunde keine konfessionelle Angelegenheit. Die protestantischen Landwirte Hannovers, soweit sie die Sonderexistenz des alten Welfenkönigreichs zurückgewinnen wollten, standen an der Seite des Zentrums. Auf der anderen Seite war das katholische Bürgertum in den Städten des Rheins und des Südens Bismarckisch gesinnt. Aber der katholische nationalliberale Wähler in München oder in Köln trat deshalb noch lange nicht aus seiner Kirche aus. Die Eigenart des Zentrums verkörperte sich in der Kulturkampfzeit in Windthorst, dem Katholiken und früheren Minister des Königs von Hannover.

Neben den Welfen gewann das Zentrum noch zwei Mitkämpfer, die der Regierung Bismarcks besonders unangenehm waren. Die Verteidigung des Katholizismus gegen die protestantisch orientierte Staatsgewalt brachte ein Bündnis zwischen Zentrum und Polen. Ferner hatte die katholische Kirche Deutschlands schon seit einem Menschenalter begonnen, die in ihren Bereich gehörigen Industriearbeiter zusammenzufassen. In Deutschland ist eine selbständige Arbeiterbewegung parallel von zwei Seiten her geschaffen worden. Neben der marxistischen Bewegung steht die katholische. Es ist zweifelhaft, ob in den siebziger Jahren den herrschenden Klassen Deutschlands die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Berlin und Sachsen viel unangenehmer war als die katholische Arbeiterbewegung in Oberschlesien4 und am Rhein. In Oberschlesien prägte sich der Klassengegensatz besonders scharf aus, wo der polnisch-katholische Bergmann dem deutsch-protestantischen Werksdirektor gegenüberstand.

Das Zentrum war in seinem sozialen Charakter schon in der Kulturkampfzeit überaus buntscheckig. Aber alle Schichten, die es vereinte, waren damals ihrem Wesen nach antibürgerlich: Der Priester und der Aristokrat, der Bauer und der Arbeiter hatten insgesamt kein Interesse, die bürgerliche kapitalistische Entwicklung in den Städten zu fördern, und sie alle waren gegen den preußischen, militärischen und autokratischen Zentralismus. So war das Zentrum der gegebene Anti-Bismarckblock. Alle Grundgedanken des Bismarckschen Reichs wurden vom Zentrum verneint. Es sollte ein Verhängnis für das Bismarckische Kaiserreich werden, daß der deutsche Altkonservatismus sich nach 1866 nicht als wunderliche Laune auf einige rheinische Adelsschlösser, auf Nonnenklöster und kleine Höfe beschränkte, sondern daß wuchtige breite Volksschichten in den christlichen Bauernvereinen und den christlichen Gewerkschaften sich der katholischen föderalistischen Bewegung anschlossen. Das Bismarcksche Reich erhielt so, neben dem nie ausgeglichenen Konflikt zwischen Preußentum und Bürgertum, eine weitere schwere Belastung.

Bismarcks Kulturkampf war die Fortsetzung des Krieges von 1866 mit neuen Mitteln. Bismarck gab sich darüber keiner Täuschung hin. Einige Jahre fürchtete er, daß Deutschland einen Revanchekrieg mit dem klerikalen Frankreich und mit den Habsburgern zu führen haben würde. Dabei würde die geistliche Leitung des Angriffs gegen Deutschland beim päpstlichen Stuhl in Rom liegen, und das Zentrum, die Polen und die Weifen in Deutschland würden als Verbündete des Wiener und Pariser Revanchestrebens auftreten5. Bismarcks Verdacht, daß die Führer des Zentrums damals irgendwelche landesverräterische Pläne hegten, war völlig unbegründet. Aber es ist klar, daß ein unglücklicher Ausgang eines Krieges gegen Österreich und Frankreich eine föderalistische Neugestaltung Deutschlands und die Rückgängigmachung der Ergebnisse von 1866 und 1870/71 gebracht hätte.

Der Kulturkampf brachte eine so weitgehende Annäherung zwischen Bismarck und den Liberalen wie niemals zuvor oder danach. Das liberale Bürgertum stürzte sich mit Begeisterung in den Kampf. Zunächst weil der Antiklerikalismus seiner Ideologie völlig entsprach. Dann aber vor allem, weil der Kulturkampf die Gelegenheit zu bieten schien, das parlamentarische System und die Herrschaft der Liberalen doch zu verwirklichen6. Für das Bürgertum schien jetzt die Situation gekommen, um das nachzuholen, was man 1871 bei der Reichsgründung und der Festlegung der Reichsverfassung versäumt hatte.

Ein Teil des preußischen Adels wurde über die Entwicklung bestürzt. Man hatte in diesen Kreisen den Kurs Bismarcks seit 1866 nicht ganz begriffen. Bismarck schien alles zu tun, um das Städtertum auf Kosten des Landes hochzubringen: Der Milliardensegen der französischen Kriegsentschädigung sei von »Juden« und anderen Börsianern verschlungen worden. Das Gründer- und Schiebertum mache sich breit, während der solide Landwirt und Handwerker in seinem Einkommen zurückging. Sollte so das Deutsche Reich aussehen, das von Preußens Heer auf den Schlachtfeldern von Metz und Sedan geschaffen worden war? Nun zerstörte Bismarck auch noch die geistliche und sittliche. Autorität der Kirche. Er behaupte zwar, daß der Kampf nur gegen den Katholizismus ging. Aber die Kulturkampfgesetze mit ihrer Verweltlichung der Schule und mit der Zivilehe träfen die evangelische Weltanschauung genau so schwer. Die Ära Falk bringe die Herrschaft des liberalen Unglaubens über Preußen. Bismarck sei jetzt durch seinen falschen Kurs gezwungen, sich demselben parlamentarischen System in die Arme zu werfen, das er in der Konfliktszeit niedergezwungen hatte. Unter diesen Umständen müßten alle ehrlichen altpreußisch gesinnten Männer in Opposition gegen Bismarck treten. Der Kulturkampf müsse beendet werden. Die evangelischen und katholischen Christen Deutschlands müßten sich statt dessen zusammenschließen, um gemeinsam gegen Liberalismus, Unglauben und Schiebertum Front zu machen. Der begabteste Vorkämpfer der konservativen Opposition gegen Bismarck, der Hofprediger Stöcker, ging noch einen Schritt weiter: Wenn in den Großstädten das Industrieproletariat vom Kapitalismus und vom »Judentum« bedrückt wurde, war es da nicht die Pflicht des preußischen Königtums wie der evangelischen Kirche, diesen Armen zu Hilfe zu kommen, ihre berechtigten Forderungen zu erfüllen und sie so der sozialdemokratischen staatsfeindlichen Agitation zu entziehen?

Während Bismarck, verbündet mit den Liberalen, im heftigsten Kampf mit dem Zentrum lag, wurde er im Rücken von dem Kern des altpreußischen Adels und der evangelischen Pastorenschaft angegriffen. Die konservative Opposition gegen Bismarck war der Ausdruck bornierter Engherzigkeit. Der preußische Adel wollte nicht einsehen, was er dem Werke Bismarcks verdankte und daß seine beispiellose Machtstellung innerhalb der deutschen Nation, wenn überhaupt, so doch nur durch die Methoden Bismarcks zu behaupten war. Der Angriff der Konservativen war der gefährlichste, der für Bismarck denkbar war7. Denn bei andauernder systematischer Feindschaft des konservativen Elements wurde der Ast abgesägt, auf dem Bismarck saß. Noch hielt Wilhelm I. fest zu Bismarck; trotz aller Angriffe der »Kreuzzeitung«. Aber würde der König von Preußen in der Lage sein, auf die Dauer gegen all das zu regieren, was in Preußen an monarchistischen und militärischen Kräften vorhanden war? Sollte der Kampf Bismarcks und des Königs von Preußen gegen Zentrum und Konservative eine Dauereinrichtung werden, so folgten daraus der Parlamentarismus und die Machtübernahme durch das liberale Bürgertum, also die nachträgliche Revanche für die in der Konfliktszeit unterlegene Partei. Trotz der äußerlichen Friedensschlüsse, die später kamen, hat Bismarck das Vertrauen der konsequenten preußischen Konservativen niemals zurückgewonnen. Die Fraktion, von der Bismarck im Jahre 1890 gestürzt wurde, waren die Konservativen und Christlich-Sozialen der Richtung Stöcker. Hier gewinnt man einen Ausblick auf die innere Unhaltbarkeit des Bismarckschen Reichs. Wenn der preußische Militäradel nicht einmal einem Bismarck so viel vertraute, daß er auch nur die bescheidensten Konzessionen an die bürgerlichen Liberalen guthieß, was sollte dann aus dem Deutschen Reich werden? Dann blieb der preußische Adel ein Fremdkörper im politischen Leben Deutschlands, dessen Vorherrschaft beim ersten ernsthaften Anstoß zusammenbrechen mußte.

Die Liberalen erkannten selbstverständlich die Zwangslage, in die Bismarck durch den Kulturkampf geraten war, und suchten sie auszunutzen. Sie verlangten Zugeständnisse, die in der Summe auf ein liberales parlamentarisches Ministerium in Preußen und im Reich herausgekommen wären8. Bismarck mußte sich entscheiden. Er entschied sich, wie nicht anders zu erwarten war, gegen das parlamentarische System und gegen eine Regierung des Bürgertums. Bismarck war aber weit entfernt von der engherzigen Selbstzufriedenheit seiner Epigonen, die alles in Ordnung fanden, solange in Berlin und Potsdam die preußische Garde stand und das Volk auf der Straße dem Schutzmann gehorchte. Bismarck wußte, daß das Reich ohne die freudige freiwillige Mitarbeit und Zustimmung entscheidender Volksschichten nicht bestehen konnte.

Bismarck hatte sich bisher mit den politischen Fraktionen als der Vertretung der einzelnen Volksklassen auseinandergesetzt. Er hatte mit ihnen sämtlich, mit dem Zentrum so gut wie mit den Konservativen und Liberalen, schwer zu kämpfen gehabt, und er hatte nirgends eine konsequente verläßliche Unterstützung gefunden. Wenn er die Politiker ausschaltete und sich statt an die »Kreuzzeitungs«-Redakteure direkt an die Landwirte, statt an die liberalen Rechtsanwälte und Professoren direkt an die Fabrikanten und Handwerker wandte, waren vielleicht bessere Resultate zu erzielen. Mußte nicht ferner eine systematische Regierungspolitik im Sinne der Landwirtschaft auch die katholischen Bauern des Zentrums in eine neue Situation bringen?

Die Formel, mit der Bismarck die Wendung zu den wirtschaftlichen Interessenten vollzog, war die Zollpolitik. Der jung aufstrebenden deutschen Industrie bot Bismarck den Zollschutz, damit sie sich gegen die Allmacht der englischen Konkurrenz durchsetzen könne. Der deutschen Landwirtschaft bot er die Zölle als Schutz gegen die Überschwemmung des deutschen Marktes mit den Agrarprodukten des europäischen Ostens. In dem jungkapitalistischen Deutschland von 1879 stand tatsächlich die Zollfrage ganz anders als in dem Deutschland von 1928, und Bismarck konnte damals sehr gewichtige Argumente für seine Zollpolitik beibringen. Die liberalen Politiker waren gegen die Zölle, zunächst aus einem mechanischen Festhalten an englischen Vorbildern, ferner weil bei ihnen damals der kaufmännische Einfluß stärker war als der industrielle. Bei den Konservativen und beim Zentrum dagegen war der agrarische Einfluß so mächtig, daß er die oppositionellen Stimmungen überwand: Mit den Stimmen dieser beiden Tendenzen gegen die Liberalen brachte Bismarck seine Zollgesetze im Reichstag durch.

Bismarcks Politik nach 1879 führte zu einer außerordentlichen Stärkung der preußischen Konservativen. Sie verwandelten sich aus einer höfisch-aristokratischen Gruppe in eine breite agrarische Interessenpartei. Allmählich verschwindet der liberale Einfluß auf die Bauernschaft. Erst jetzt werden die ostelbischen Landkreise zu festen Hochburgen der Konservativen9. Im Zusammenhang damit verändert der preußische Landtag seinen Charakter. Die erdrückende liberale Mehrheit der Konfliktszeit war nur dadurch möglich geworden, daß die Landwirte vielfach der Führung durch die städtische Intelligenz folgten. Das hörte auf: Der Bauer wählte seine agrarischen Interessenvertreter, das heißt in den evangelischen Kreisen Preußens konservativ. Die Wahlkreiseinteilung des preußischen Landtags bevorzugte das Land vor der Stadt. Das war politisch gleichgültig, solange Land und Stadt im allgemeinen dieselbe politische Richtung vertraten. Es wurde von größter Bedeutung, sobald die Geister sich nach Stadt und Land schieden. Von jetzt ab beherrschte die agrar-konservative Partei den preußischen Landtag10, und die in Preußen herrschende Schicht hatte nun alle drei Faktoren der Gesetzgebung in der Hand: Königtum, Herrenhaus, Landtag. So wird der preußische Staat in allen seinen Teilen das konservative Bollwerk gegen die Ansprüche des Bürgertums und der Arbeiterschaft.

 

Auch außerhalb Altpreußens entwickelte der konservative Gedanke in seiner agrarischen Formulierung eine erstaunliche Werbekraft. Die evangelischen Bauernmassen in Hannover und Hessen-Nassau, aber auch in ganz Süddeutschland, trennten sich in steigendem Maße von ihren alten politischen Bindungen. Bis 1918 saßen im deutschen Reichstag, gewählt nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht, in den Parteien des preußischen Feudaladels auch Bauernabgeordnete aus Bayern, Württemberg, Baden und sogar aus Elsaß-Lothringen11.

Bismarcks Zollpolitik führte ferner zu einer tiefgehenden Umwandlung des Zentrums. Dazu trug freilich auch der Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der Katholischen Kirche bei. Die Gefahr eines katholischen Blocks, der einen Revanchekrieg gegen das Deutsche Reich unternehmen könnte, war beseitigt: Denn in Frankreich war die klerikal-monarchistische Partei von den Republikanern zurückgedrängt worden, und mit Österreich schloß Bismarck gerade in jenen Jahren das Bündnis, das seitdem die Grundlage seiner Außenpolitik bildete. So war der Kampf zwischen Bismarck und dem Zentrum von seiner außenpolitischen Belastung befreit. Als Nebenzweck des Bundes mit Österreich strebte Bismarck direkt die Versöhnung der katholischen altkonservativen, sogenannten »großdeutschen« Tendenz innerhalb des Deutschen Reichs an. Das Bündnis Deutschlands und Österreichs sollte den alten Deutschen Bund in der Beziehung ersetzen, wo er etwas Wertvolles geboten hatte.

In der Tat hatte Bismarck erreicht, daß das Zentrum sich mit der Existenz des Deutschen Reiches, so wie es war, abfand und sich damit begnügte, im Rahmen der Reichsverfassung die föderalistischen Einrichtungen zu schützen und die katholische Kirche zu verteidigen. Aus der Offensive des Zentrums war eine loyale Defensive geworden. Soweit endete der Kulturkampf mit einem Siege Bismarcks, der nun die Kampfgesetze gegen den Katholizismus abbaute. Darüber hinaus wurde die agrarische Mehrheit des Zentrums zur Helferin der Wirtschaftspolitik der Regierung.

Unter den neuen Verhältnissen wurde das Zentrum zu einem politischen Faktor, der Bismarck in mancher Hinsicht gar nicht unangenehm war. Das Zentrum und die Katholische Kirche trugen dazu bei, breite Schichten städtischer, besonders proletarischer Bevölkerung politisch zu binden, die sonst in den Reihen der Sozialdemokraten oder Linksliberalen gestanden hätten12. Der katholische Hochadel, der seinen Frieden mit dem neuen Deutschen Reich geschlossen hatte, spielte in den Zentrumsfraktionen eine bedeutende Rolle und hatte die natürliche Neigung, mit den preußischen Konservativen zusammenzuarbeiten. Wer politische Fragen nur nach der taktischen Bequemlichkeit des Augenblicks ansah, konnte zu der Losung kommen, durch ein festes parlamentarisches Bündnis zwischen den Konservativen und dem Zentrum die Grundlage des Deutschen Reiches zu sichern. Seit die Konservativen sich in die große evangelische Agrarpartei verwandelt hatten, die auch von städtischen, loyalen, antikapitalistischen und antisemitischen Schichten Zuzug erhielt, war eine ziemlich sichere Reichstagsmehrheit aus Konservativen und Zentrum vorhanden.

Dabei waren die Ansprüche, die das Zentrum stellte, überaus bescheiden: Das Zentrum verlangte weder die Parlamentarisierung noch einen Umbau des altpreußischen Staatssystems. Das Zentrum war zufrieden, wenn manchmal ein aktiver Katholik in Preußen Landrat oder Richter werden konnte. Die Hauptforderungen des Zentrums, keine Umänderung der Verfassung im Sinne einer stärkeren Zentralisierung, kein Kampf gegen die Katholische Kirche und eine gemäßigte Sozialpolitik im Interesse der christlichen Arbeiter, enthielten nichts, was der Regierung und den preußischen Konservativen unangenehm war. Die Konservativen waren daher immer geneigt, das Bündnis mit dem Zentrum jedem Zusammengehen mit den Liberalen vorzuziehen.

Bismarck dagegen hat mit unbedingter Hartnäckigkeit sich geweigert, das Deutsche Reich auf die Koalition mit dem Zentrum aufzubauen13. Bismarck sagte sich, daß zwar die west- und süddeutschen Katholiken genauso gute Deutsche waren wie die Protestanten. Aber während der Landwirt in Pommern und Ostpreußen mit allen seinen Interessen und Neigungen an das Hohenzollern-Kaisertum gebunden war, galt dasselbe vom oberbayerischen Bauern und vom christlichen Bergarbeiter des Ruhrgebiets nicht. Der Zentrumswähler war zwar seit dem Frieden zwischen Staat und Kirche ein völlig loyaler Untertan. Aber er konnte sich in einer schweren Krise deutscher Politik auch mit einer anderen Gestalt des Reiches abfinden, als es die von 1871 war. Deshalb war Bismarck zwar bereit, mit der Katholischen Kirche Frieden zu halten und mit dem Zentrum im Parlament zusammenzuarbeiten. Aber die Existenz des Deutschen Reiches und das Funktionieren seiner Einrichtungen durfte niemals vom Zentrum abhängig sein. Der Kaiser mußte in der Lage sein, auch in schwersten Krisen ohne und gegen das Zentrum zu regieren.

Auf der anderen Seite bedeutete das Regieren mit dem Block der Konservativen und des Zentrums die Ausschaltung des Bürgertums. Ohne die aktive Mitarbeit des gebildeten und besitzenden Bürgertums hielt Bismarck aber das Deutsche Reich für nicht haltbar. Wenn das Bürgertum oppositionell beiseite stand, war der König von Preußen, sobald es ernst wurde, zusammen mit dem Militäradel isoliert. Denn das Bündnis mit dem Zentrum zerbrach nach Bismarcks Überzeugung bei der ersten schweren Belastungsprobe. Die Reichsregierung mußte imstande sein, nötigenfalls übertriebene Ansprüche der Liberalen zurückzuweisen und ohne sie das Notwendige zu tun. Aber eine dauernde Abstoßung des bürgerlichen Liberalismus war für Bismarck undenkbar.

Bismarcks Ziel war vielmehr, an Stelle der alten liberalen Parteien, in denen die Idee der parlamentarischen Regierung zu Hause war, eine neue Bismarcktreue liberale Partei zu scharfen. Sie sollte die Interessen der Industrie vertreten, die Zoll- und Kolonialpolitik fördern und in allen Verfassungsfragen konservativ sein. Diese Umbildung gelang zu einem wesentlichen Teil: In den achtziger Jahren erfolgte die Neugründung der Nationalliberalen, die mit der Nationalliberalen Partei von 1871 kaum mehr als den Namen gemeinsam hatten.

Es blieb freilich ein oppositioneller Rest im Bürgertum: Die Kaufmannschaft, die an der Zollpolitik nicht interessiert war, und solche Männer, die prinzipiell den militärisch-aristokratischen Charakter des Deutschen Reiches ablehnten und die Tradition der Konfliktszeit hochhielten. Diese »Fortschrittspartei«, unter Führung Eugen Richters, war im Lager des liberalen Bürgertums ungefähr dasselbe wie die Stöckergruppe innerhalb der konservativen Gesellschaftskreise. Es waren dies die beiden Tendenzen, die der Bismarckschen Koalition entgegenarbeiteten. Die Stöckerleute wollten die Konservativen von dem Block mit den Liberalen wegführen, und Eugen Richter wollte das Bürgertum von der Unterwerfung unter die »Junker« befreien. In Stöcker wie in Eugen Richter erblickte Bismarck recht eigentlich die Tendenzen, die sein Werk von innen heraus störten. Der Haß, mit dem Bismarck die Kreuzzeitung-Konservativen verfolgte, war ungefähr ebenso erbittert wie seine Feindschaft gegen die Fortschrittler um Eugen Richter.