Die Abenteuer des Sherlock Holmes

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

III

Ich schlief diese Nacht in der Baker Street, und wir saßen bei unserem Toast und Kaffee, als der König von Böhmen ins Zimmer gestürmt kam.

»Sie haben das Bild wirklich!« rief er; er packte Sherlock Holmes an beiden Schultern und starrte aufgeregt in sein Gesicht.

»Noch nicht.«

»Aber Sie sind hoffnungsvoll?«

»Das bin ich.«

»Dann kommen Sie; ich kann es kaum erwarten.«

»Wir brauchen eine Droschke.«

»Nein, mein Wagen wartet unten.«

»Das vereinfacht die Sache.«

Wir gingen hinab und machten uns abermals auf den Weg zu Briony Lodge.

»Irene Adler ist verheiratet«, bemerkte Holmes.

»Verheiratet! Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Mit wem denn nur?«

»Mit einem englischen Anwalt namens Norton.«

»Sie kann ihn aber doch nicht lieben?«

»Ich hoffe doch sehr, daß sie es tut.«

»Und warum hoffen Sie?«

»Weil das Majestät von aller Furcht vor künftiger Behelligung befreien würde. Wenn die Dame ihren Gatten liebt, liebt sie Majestät nicht. Wenn sie Majestät nicht liebt, gibt es keinen Grund, weshalb sie sich in die Pläne von Majestät einmischen sollte.«

»Das stimmt. Und dennoch –! Nun gut! Ich wollte, sie wäre meines eigenen Standes gewesen! Welch eine Königin sie abgegeben hätte!« Er fiel in melancholisches Schweigen, das nicht gebrochen wurde, bis wir die Serpentine Avenue erreicht hatten.

Die Tür von Briony Lodge war offen, und eine ältere Frau stand auf den Stufen. Sie betrachtete uns mit einem sardonischen Gesichtsausdruck, während wir aus dem Coupé stiegen.

»Mr. Sherlock Holmes, nehme ich an?« sagte sie.

»Ich bin Mr. Holmes«, antwortete mein Gefährte; er musterte sie fragend und fast erschrocken.

»Aha! Meine Herrin hat mir gesagt, Sie würden wahrscheinlich vorbeikommen. Sie ist heute früh, zusammen mit Ihrem Gemahl, mit dem Zug 5 Uhr 15 ab Charing Cross zum Kontinent abgereist.«

»Was!« Sherlock Holmes fuhr zurück, blaß von Schrecken und Überraschung. »Wollen Sie damit sagen, sie hat England verlassen?«

»Und sie wird nie zurückkommen.«

»Und die Papiere?« fragte der König heiser. »Alles ist verloren.«

»Wir werden sehen.« Er drängte sich an der Dienerin vorbei und lief in den Wohnraum, gefolgt vom König und mir. Die Möbel standen überall durcheinander, mit leeren Borden und offenen Schubladen, als hätte die Dame sie vor ihrer Flucht in größter Eile geplündert. Holmes stürzte zum Klingelzug, riß eine kleine Klappe auf, steckte die Hand in die Höhlung und zog eine Photographie und einen Brief heraus. Die Photographie zeigte Irene Adler persönlich im Abendkleid, und der Brief trug die Aufschrift »An Sherlock Holmes, Esq. Liegenlassen, bis er abgeholt wird.« Mein Freund riß den Umschlag auf, und alle drei lasen wir den Brief gemeinsam. Er war mit der vergangenen Mitternacht datiert und lautete wie folgt:

Mein lieber Mr. Sherlock Holmes,

Sie haben es wirklich sehr gut angestellt. Sie haben mich vollständig überrumpelt. Bis nach dem Feueralarm hatte ich nicht den geringsten Verdacht. Als ich dann aber bemerkte, daß ich mich selbst verraten hatte, begann ich nachzudenken. Ich war bereits vor Monaten vor Ihnen gewarnt worden. Man hatte mir gesagt, daß der König, sollte er einen Agenten beauftragen, sicherlich Sie wählen würde. Und man gab mir Ihre Adresse. Trotz alledem brachten Sie mich dazu, Ihnen das zu offenbaren, was Sie wissen wollten. Selbst nachdem ich mißtrauisch geworden war, fiel es mir schwer, über so einen lieben, netten alten Geistlichen Schlechtes zu denken. Aber wie Sie wissen, habe ich selbst auch eine Schauspielausbildung genossen. Ein Männerkostüm ist mir nichts Neues. Ich mache mir oft die Freiheit zunutze, die es verleiht. Ich schickte den Kutscher John hinein, um auf Sie aufzupassen, lief nach oben, schlüpfte in meine Wanderkleider, wie ich sie nenne, und kam wieder hinab, gerade als Sie aus dem Haus gingen.

Nun, dann bin ich Ihnen bis zu Ihrer Tür gefolgt, und so habe ich mich versichert, daß ich tatsächlich Objekt des Interesses des gefeierten Mr. Sherlock Holmes war. Danach habe ich Ihnen, reichlich unvorsichtig, eine gute Nacht gewünscht und mich zum Temple begeben, um meinen Gemahl aufzusuchen.

Wir kamen beide zu dem Schluß, angesichts der Verfolgung durch einen so furchterregenden Gegner sei Flucht die beste Lösung; Sie werden also das Nest leer vorfinden, wenn Sie morgen vorbeikommen. Was die Photographie angeht, so mag Ihr Klient unbesorgt sein. Ein besserer Mann als er liebt mich, und ich liebe ihn. Der König mag tun, was ihm am besten scheint, ohne Anfechtung durch eine, die er grausam und ungerecht behandelt hat. Ich habe das Bild nur aufbewahrt, um mich zu schützen und eine Waffe zu behalten, die mich stets gegen alle Schritte absichern wird, die er in der Zukunft unternehmen könnte. Ich hinterlasse eine Photographie, die er vielleicht gern besäße; und ich verbleibe, lieber Mr. Sherlock Holmes, ganz die Ihre

IRENE NORTON née ADLER

»Welch eine Frau – oh, welch eine Frau!« rief der König von Böhmen, als wir alle dieses Schreiben gelesen hatten. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß sie schnell und entschlossen ist? Hätte sie nicht eine prachtvolle Königin abgegeben? Ist es nicht ein Jammer, daß sie nicht vom gleichen niveau ist wie ich?«

»Nach allem, was ich von der Dame gesehen habe, scheint sie wirklich von einem ganz anderen niveau zu sein als Ihre Majestät«, sagte Holmes kalt. »Ich bedaure sehr, daß ich nicht in der Lage gewesen bin, den Auftrag Ihrer Majestät zu einem erfolgreicheren Ende zu bringen.«

»Im Gegenteil, mein lieber Sir«, rief der König. »Ich könnte mir keinen größeren Erfolg denken. Ich weiß, daß sie ihr Wort nie brechen wird. Die Photographie ist nun so sicher, als ob sie im Feuer wäre.«

»Ich freue mich, zu hören, daß Majestät die Sache so sehen.«

»Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Bitte sagen Sie mir, wie ich es Ihnen vergelten kann. Dieser Ring ...« Er streifte einen gewundenen Smaragdring vom Finger, legte ihn auf seine Handfläche und hielt ihn empor.

»Majestät haben etwas, das ich für noch wertvoller hielte«, sagte Holmes.

»Sie brauchen es nur zu nennen.«

»Diese Photographie.«

Der König starrte ihn verblüfft an.

»Irenes Photographie!« rief er. »Natürlich, wenn Sie es so haben wollen.«

»Ich danke Ihnen, Majestät. Dann gibt es in dieser Sache nichts mehr zu tun. Ich habe die Ehre, Ihnen einen besonders guten Morgen zu wünschen.« Er verneigte sich und wandte sich ab, ohne die Hand zu beachten, die ihm der König entgegenstreckte, und mit mir zusammen machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung.

Und so hatte ein großer Skandal über das Königreich Böhmen zu kommen gedroht, und so ist Sherlock Holmes' beste Planung durch die Klugheit einer Frau vereitelt worden. Er pflegte sich einstmals über weibliche Schlauheit lustig zu machen, aber seither habe ich derlei nicht mehr bei ihm gehört. Und wenn er von Irene Adler spricht oder auf ihre Photographie verweist, dann immer unter dem ehrenden Titel die Frau.

Die Liga der Rotschöpfe

An einem Tag im Herbst letzten Jahres besuchte ich meinen Freund Sherlock Holmes und fand ihn vertieft in ein Gespräch mit einem sehr stämmigen, älteren Gentleman mit blühender Gesichtsfarbe und feurig rotem Haar. Ich wollte mit einer Entschuldigung ob meines Eindringens sogleich wieder gehen, doch zerrte Holmes mich jäh in den Raum hinein und schloß die Tür hinter mir.

»Sie hätten unmöglich zu einer besseren Zeit kommen können, mein lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich dachte, Sie seien beschäftigt.«

»Das bin ich auch. Sehr sogar.«

»Dann will ich gern im Nebenzimmer warten.«

»Das kommt nicht in Frage. Dieser Gentleman, Mr. Wilson, ist bei vielen meiner erfolgreichsten Fälle mein Partner und Helfer gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß er mir auch in Ihrem Fall überaus nützlich sein wird.«

Der stämmige Gentleman erhob sich zur Hälfte aus seinem Sessel, nickte grüßend und warf mir aus seinen kleinen, von Fettkringeln umgebenen Augen einen schnellen, fragenden Blick zu.

»Nehmen Sie das Sofa«, sagte Holmes; er ließ sich wieder in seinen Lehnsessel sinken und legte die Fingerspitzen aneinander, wie gewöhnlich, wenn er in scharfem Denken begriffen war. »Ich weiß, mein lieber Watson, daß Sie meine Liebe für alles Bizarre teilen, das außerhalb der Konventionen und des Alltagseinerleis liegt. Ihr Gefallen daran haben Sie durch die Begeisterung gezeigt, mit der Sie viele meiner kleinen Abenteuer aufgezeichnet und, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, gern auch ausgeschmückt haben.«

»Ihre Fälle haben wirklich immer mein größtes Interesse gefunden«, bemerkte ich.

»Sie werden sich daran erinnern, daß ich vor einiger Zeit, kurz bevor wir uns mit dem sehr einfachen Problem beschäftigten, das uns Miss Mary Sutherland9 vorlegte, angemerkt habe, daß jemand, der merkwürdige Vorfälle und außergewöhnliche Zusammenfügungen haben will, sich dem Leben selbst zuwenden muß, das immer viel kühner ist als alle Höhenflüge der Phantasie.«

»Eine Behauptung, die anzuzweifeln ich mir erlaubt habe.«

»So ist es, Doktor, aber trotzdem müssen Sie sich zu meiner Ansicht bequemen; andernfalls werde ich Tatsachen über Tatsachen auf Sie häufen, bis Ihr Verstand darunter zusammenbricht und zugibt, daß ich recht habe. Nun hat heute morgen Mr. Jabez Wilson hier die Freundlichkeit besessen, mich aufzusuchen, und begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die eine der ausgefallensten zu sein verspricht, die ich seit langem vernommen habe. Sie haben sicher meine Feststellung gehört, daß die seltsamsten und einzigartigen Dinge sehr oft nicht mit den großen, sondern mit den kleineren Verbrechen zusammenhängen oder gelegentlich sogar dort zu finden sind, wo man bezweifeln darf, daß ein eindeutiges Verbrechen überhaupt begangen worden ist. Soweit ich bis jetzt gehört habe, ist es mir unmöglich, zu sagen, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen vorliegt oder nicht, aber der Ablauf der Ereignisse gehört gewiß zu den seltsamsten Dingen, denen ich je gelauscht habe. Vielleicht hätten Sie die große Güte, Mr. Wilson, mit Ihrer Erzählung noch einmal von vorn zu beginnen. Ich bitte Sie darum nicht nur, weil mein Freund Dr. Watson den Beginn nicht gehört hat, sondern auch, weil die Eigentümlichkeit Ihrer Geschichte mich wünschen läßt, jede nur denkbare Einzelheit aus Ihrem Munde zu erfahren. In der Regel bin ich imstande, wenn ich erst einige einfache Hinweise auf den Ablauf der Dinge erhalten habe, mich selbst darin zurechtzufinden, und zwar mit Hilfe der tausende ähnlicher Fälle, deren ich mich entsinne. Im vorliegenden Fall muß ich jedoch zugeben, daß die Tatsachen, soweit ich dies glaube beurteilen zu können, einmalig sind.«

 

Mit einem Anflug von leisem Stolz wölbte der stattliche Klient seine Brust und zog eine schmutzige, zerknüllte Zeitung aus der Innentasche seines Paletots. Während er die Spalte mit Annoncen überflog, mit vorgestrecktem Kopf und auf den Knien ausgebreiteter Zeitung, sah ich mir den Mann gründlich an und versuchte, nach der Art meines Gefährten das zu lesen, was seine Kleidung oder sein Äußeres an Hinweisen enthalten mochten.

Ich gewann jedoch nicht viel durch meine Prüfung. Unser Besucher wies alle Kennzeichen eines durchschnittlichen, normalen britischen Geschäftsmannes auf: beleibt, wichtigtuerisch, behäbig. Er trug ziemlich ausgebeulte, grauweiß karierte Wollhosen, einen nicht übermäßig sauberen, vorn aufgeknöpften Gehrock, eine mausgraue Weste mit einer kurzen schweren Uhrkette aus Messing und einem viereckigen, durchbohrten Metallstück, das zur Zierde daran baumelte. Ein abgeschabter Zylinder und sein ausgeblichen brauner Mantel mit runzligem Samtkragen lagen auf einem Stuhl neben ihm. So genau ich auch hinsehen mochte, alles in allem war an diesem Mann nichts besonders bemerkenswert, abgesehen von seinem feuerroten Schopf und dem auf seinen Zügen liegenden Ausdruck von großem Kummer und Unzufriedenheit.

Sherlock Holmes' schnelles Auge nahm meine Beschäftigung wahr, und lächelnd schüttelte er den Kopf, als er meine fragenden Blicke bemerkte. »Neben den offensichtlichen Tatsachen, daß er zu irgendeiner Zeit mit seinen Händen gearbeitet hat, daß er Tabak schnupft, daß er Freimaurer ist, daß er in China war und daß er in der letzten Zeit sehr viel geschrieben hat, kann ich nichts deduzieren.«

Mr. Jabez Wilson fuhr in seinem Sessel auf; sein Zeigefinger lag auf der Zeitung, seine Augen jedoch auf meinem Gefährten.

»Wie um alles in der Welt können Sie das wissen, Mr. Holmes?« fragte er. »Woher wissen Sie zum Beispiel, daß ich mit den Händen gearbeitet habe? Es ist so wahr wie die Bibel, ich habe als Schiffszimmermann angefangen.«

»Ihre Hände, mein lieber Sir. Ihre rechte Hand ist um einiges größer als Ihre linke. Sie haben mit ihr gearbeitet, und die Muskeln sind besser entwickelt.«

»Gut, und der Schnupftabak, und die Freimaurerei?«

»Ich will Ihre Intelligenz nicht dadurch beleidigen, daß ich Ihnen erzähle, woran ich das ablesen kann, vor allem da Sie, wohl eher gegen die strikten Weisungen Ihres Ordens, eine Brosche mit Bogen und Zirkel tragen.«

»Ah, natürlich, das hatte ich vergessen. Aber die Schreibarbeit?«

»Was sonst könnte es bedeuten, daß Ihr rechter Ärmelaufschlag bis fast fünf Zoll oberhalb des Handgelenks so glänzt und daß der linke Ärmel am Ellenbogen da glatt ist, wo Sie den Arm auf den Tisch stützen?«

»Nun gut, aber China?«

»Ein Fisch, wie Sie ihn unmittelbar über dem rechten Handgelenk tätowiert tragen, kann nur in China verfertigt worden sein. Ich habe mich ein wenig mit Tätowierungen beschäftigt und sogar einen Beitrag zur Literatur über dieses Thema geleistet. Diese Art, die Fischschuppen zartrosa zu tönen, ist nur in China üblich. Wenn ich zusätzlich dazu eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette hängen sehe, wird die Sache noch einfacher.«

Mr. Jabez Wilson lachte betroffen. »Also, das hätte ich nicht für möglich gehalten!« sagte er. »Zuerst habe ich gemeint, Sie tun da etwas besonders Schlaues, aber jetzt sehe ich, daß gar nichts dabei ist.«

»Ich beginne zu fürchten, Watson«, sagte Holmes, »daß ich einen Fehler begehe, indem ich erkläre. Omne ignotum pro magnifico,10 Sie wissen ja, und meine bescheidene Reputation, wenn es sie denn gibt, wird Schiffbruch erleiden, wenn ich so aufrichtig bin. Können Sie die Anzeige nicht finden, Mr. Wilson?«

»Doch, hier habe ich sie endlich«, erwiderte er; sein dicker rötlicher Finger zeigte auf eine Stelle etwa in der Mitte der Spalte. »Da ist sie. Damit hat alles angefangen. Sie müssen das selbst lesen, Sir.«

Ich nahm die Zeitung aus seinen Händen und las das Folgende:

An die Liga der Rotschöpfe – In Zusammenhang mit dem Vermächtnis des verstorbenen Ezekiah Hopkins aus Lebanon, Penn, U.S.A., ist nun eine weitere Stelle zu besetzen, die ein Mitglied der Liga für rein symbolische Dienste zu einem Wochenlohn von vier Pfund berechtigt. Alle rotschöpfigen Männer, die körperlich und geistig gesund und älter als einundzwanzig Jahre sind, kommen hierfür in Frage. Bewerben Sie sich persönlich am Montag, um elf Uhr, bei Duncan Ross in den Geschäftsräumen der Liga, 7 Pope's Court, Fleet Street.

»Was um alles in der Welt soll das bedeuten?« rief ich aus, nachdem ich diese außergewöhnliche Ankündigung zweimal durchgelesen hatte.

Holmes kicherte und rutschte in seinem Sessel hin und her, wie er es gewöhnlich tat, wenn er bester Laune war. »Das ist ein wenig außerhalb des Üblichen, nicht wahr?« sagte er. »Und nun, Mr. Wilson, schießen Sie los und erzählen Sie uns alles über sich, Ihren Haushalt, und die Auswirkung, die diese Anzeige auf Ihr Leben hatte. Zuerst aber, Doktor, merken Sie sich Zeitung und Datum.«

»Es ist die Morning Chronicle vom 27. April 1890. Nur knapp zwei Monate alt11

»Sehr gut. Nun, Mr. Wilson?«

»Also, es ist genau, wie ich es Ihnen erzählt habe, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Jabez Wilson. Er wischte sich die Stirn. »Ich habe eine kleine Pfandleihe am Coburg Square, in der Nähe der City. Es ist nichts besonders Großes, und in den letzten Jahren hat es nicht mehr abgeworfen als eben meinen Lebensunterhalt. Früher konnte ich mir einmal zwei Assistenten leisten, jetzt nur noch einen; und auch ihn könnte ich nicht bezahlen, wenn er nicht bereit wäre, für den halben Lohn zu arbeiten, um das Geschäft zu erlernen.«

»Wie heißt dieser entgegenkommende junge Mann?« fragte Sherlock Holmes.

»Sein Name ist Vincent Spaulding, und so jung ist er auch nicht mehr. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Einen fähigeren Assistenten könnte ich mir nicht wünschen, Mr. Holmes, und ich weiß sehr wohl, daß er sich verbessern und mindestens das Doppelte von dem verdienen könnte, was ich ihm zahlen kann. Aber was tut's? Wenn er zufrieden ist, warum sollte ich ihm dann Rosinen in den Kopf setzen?«

»Das ist richtig, warum auch? Sie scheinen sehr viel Glück zu haben mit einem Angestellten, der unter dem Marktpreis arbeitet. Das ist in dieser Zeit nicht eben eine verbreitete Erfahrung unter Arbeitgebern. Ich bin nicht sicher, ob Ihr Assistent nicht ebenso bemerkenswert ist wie Ihre Anzeige.«

»Oh, er hat auch seine Fehler«, sagte Mr. Wilson. »Noch nie hat es einen derartigen Liebhaber der Photographie gegeben. Er knipst mit seiner Kamera herum, statt wichtigere Dinge zu lernen, und dann taucht er in den Keller wie ein Kaninchen ins Loch, um seine Bilder zu entwickeln. Das ist sein Hauptfehler; aber insgesamt arbeitet er gut. Er hat keine Laster.«

»Ich nehme an, er ist noch immer bei Ihnen?«

»Ja, Sir. Er und ein vierzehnjähriges Mädchen, das ein wenig kocht und saubermacht – das ist alles, was ich im Hause habe, ich bin nämlich Witwer, und Familie habe ich nie gehabt. Wir leben sehr ruhig, wir drei; wir haben ein Dach über dem Kopf und zahlen unsere Schulden, wenn wir auch sonst nicht viel tun.

Was uns zuallererst verblüfft hat, war diese Anzeige. Spaulding ist heute vor genau acht Wochen mit dieser Zeitung hier in der Hand in den Laden gekommen und sagt: ›Bei Gott, ich wünschte, ich wäre ein Rotschopf, Mr. Wilson.‹

›Warum?‹ frage ich.

›Warum?‹ sagt er. ›Hier, da ist schon wieder eine Stelle bei der Liga der Rotschöpfigen Männer frei. Wer die Stelle bekommt, kann ein nettes Vermögen dabei machen, und soviel ich weiß gibt es mehr freie Stellen als Männer, deshalb wissen die Treuhänder nicht mehr, wohin mit dem Geld. Wenn sich mein Haar nur verfärben wollte, da ist ein schönes gemachtes Bett, in das ich mich gern legen würde.‹

›Was ist denn nun damit?‹ frage ich. Wissen Sie, Mr. Holmes, ich bin ein sehr häuslicher Mann, und weil mein Geschäft zu mir kommt, statt daß ich zu ihm gehen muß, habe ich oft wochenlang den Fuß nicht aus dem Haus gesetzt. Deswegen weiß ich nicht viel über das, was draußen passiert, und bin immer froh über ein paar Neuigkeiten.

›Haben Sie denn noch nie von der Liga der Rothaarigen Männer gehört?‹ fragt er mich mit aufgerissenen Augen.

›Nie.‹

›Also, das verblüfft mich, Sie kommen doch selbst für eine der freien Stellen in Frage.‹

›Und was sind die wert?‹ frage ich.

›Oh, nur ein paar hundert im Jahr, aber die Arbeit ist leicht und braucht einen nicht bei dem zu stören, was man sonst zu tun hat.‹

Sie können sich wohl denken, daß ich die Ohren gespitzt habe, weil mein Geschäft seit einigen Jahren nicht besonders gut war und ein paar hundert extra hätte ich sehr gut gebrauchen können.

›Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen‹, sage ich.

›Hier‹, sagt er und zeigt mir die Anzeige, ›da können Sie selbst sehen, daß die Liga eine Stelle frei hat, und da ist die Adresse, wo Sie nach Einzelheiten fragen sollten. Soweit ich das feststellen kann, ist die Liga von einem amerikanischen Millionär, Ezekiah Hopkins, gegründet worden, der reichlich seltsame Gewohnheiten hatte. Er war selbst rothaarig und hatte große Sympathie für alle Rotschöpfe; als er gestorben ist, hat man herausgefunden, daß er sein ganzes riesiges Vermögen Treuhändern hinterlassen hat mit der Anweisung, die Zinsen zu verwenden, um Männern mit dieser Haarfarbe gute und gemütliche Posten zu verschaffen. Nach allem, was ich gehört habe, ist die Bezahlung sehr gut, und man braucht nicht viel zu tun.‹

›Aber‹, sage ich, ›es gibt doch bestimmt Millionen von Rotschöpfen, die sich da bewerben.‹

›Nicht so viele, wie man glauben könnte‹, sagt er. ›Sehen Sie, das Angebot gilt nur für Londoner, und für Erwachsene. Dieser Amerikaner war aus London aufgebrochen, als er jung war, und er wollte dem lieben alten Ort etwas Gutes tun. Außerdem habe ich gehört, man braucht sich nicht erst zu bewerben, wenn man hellrotes oder dunkelrotes und sonst ein anderes Haar als wirklich leuchtendes, flammendes, feuerrotes hat. Also, wenn Sie sich da bewerben würden, Mr. Wilson, dann hätten Sie die Stelle, aber vielleicht ist es für Sie die Mühe nicht wert, für ein paar hundert Pfund Ihre gewohnte Umgebung zu verlassen.‹

Nun ist es, wie Sie selbst sehen können, Gentleman, eine Tatsache, daß mein Haar eine sehr volle, kräftige Farbe hat, deshalb dachte ich, daß ich eine genauso gute Chance wie jeder, den ich je getroffen habe, hätte, wenn es in der Sache einen Wettbewerb geben sollte. Vincent Spaulding schien so viel darüber zu wissen, daß ich mir gedacht habe, er könnte von Nutzen sein, und deshalb habe ihm sofort befohlen, für den Tag die Fensterläden anzubringen und gleich mit mir zu kommen. Er war sehr für einen freien Tag zu haben, also haben wir den Laden geschlossen und uns auf den Weg zu der Anschrift gemacht, die in der Anzeige stand.

Ich hoffe, nie wieder solch einen Anblick zu sehen, Mr. Holmes. Von Norden, Süden, Osten und Westen waren alle Männer mit einem Anflug von Rot im Haar in die City gekommen, um sich auf die Anzeige zu bewerben. Die Fleet Street war von Rotschöpfen verstopft, und Pope's Court sah aus wie der Verkaufswagen eines Orangenhändlers. Ich hätte nie geglaubt, daß es im ganzen Land so viele Rotschöpfe gibt, wie da wegen dieser einen Anzeige zusammengebracht worden waren. Sie hatten alle möglichen Farbtöne – Stroh, Zitrone, Orange, Ziegel, irischer Hühnerhund, Leber, Tonerde; aber wie Spaulding gesagt hatte, gab es nicht viele, die die richtige, lebendige, flammendrote Farbe hatten. Als ich gesehen habe, wie viele da warteten, hätte ich am liebsten die Hoffnung aufgegeben, aber Spaulding wollte nichts davon wissen. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, aber er hat gezogen und gestoßen und gerempelt, bis er mich durch die Menge gebracht hatte, und dann gleich die Treppe hinauf, die zu dem Büro führt. Auf der Treppe war ein doppelter Strom – einige gingen hoffnungsvoll hinauf, andere kamen niedergeschlagen herunter, aber wir haben uns durchgedrängt so gut es ging, und bald waren wir im Büro.«

 

»Ihre Erlebnisse sind ausgesprochen unterhaltsam«, bemerkte Holmes, als sein Klient eine Pause machte und sein Gedächtnis mittels einer großen Prise Schnupftabaks auffrischte. »Bitte, fahren Sie fort mit Ihrem sehr interessanten Bericht.«

»In dem Büro war nichts außer ein paar Holzstühlen und einem Verkaufstisch, hinter dem ein kleiner Mann saß, mit einem Schopf, der noch röter war als meiner. Er hat mit jedem Kandidaten, der an die Reihe kam, ein paar Worte gewechselt, und dann hat er immer irgendeinen Fehler an ihnen gefunden, der sie ausschloß. So einfach schien es dann doch nicht zu sein, an die freie Stelle zu kommen. Als wir an die Reihe gekommen sind, war der kleine Mann mir gegenüber aber wohlwollender als zu irgendeinem der anderen, und als wir eingetreten waren, hat er die Tür geschlossen, um ungestört mit uns reden zu können.

›Das ist Mr. Jabez Wilson‹, sagt mein Assistent, ›und er ist bereit, eine freie Stelle in der Liga aufzufüllen.‹

›Und er ist bestens dazu geeignet‹, antwortet der andere. ›Er erfüllt alle Voraussetzungen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas so Schönes gesehen zu haben.‹ Er geht einen Schritt zurück, legt seinen Kopf auf die Seite und starrt mein Haar an, bis ich ganz verlegen werde. Dann ist er plötzlich vorwärts gesprungen, hat mir die Hand geschüttelt und mir sehr freundlich zu dem Erfolg gratuliert.

›Es wäre ungerecht, zu zögern‹, sagt er. ›Trotzdem werden Sie mir sicher verzeihen, daß ich eine verständliche Vorsichtsmaßnahme treffe.‹ Damit packt er mich mit beiden Händen am Haar und zieht, bis ich vor Schmerzen schreie. ›Sie haben Wasser in den Augen‹, sagt er, als er mich losläßt. ›Ich sehe, alles ist, wie es sein sollte. Aber wir müssen uns vorsehen, wir sind nämlich schon zweimal mit Perücken und einmal mit Farbe getäuscht worden. Ich könnte Ihnen Geschichten von Schusterpapp erzählen, die Sie mit Abscheu vor der menschlichen Natur erfüllen würden.‹ Dann ist er zum Fenster gegangen und hat, so laut er konnte, hinausgeschrien, daß die freie Stelle besetzt ist. Von unten kam ein Stöhnen der Enttäuschung, und die ganzen Leute haben sich in alle Himmelsrichtungen davongemacht, bis außer meinem und dem des Geschäftsführers kein roter Schopf mehr zu sehen war.

›Ich bin Mr. Duncan Ross‹, sagt er, ›und ich selbst bin einer derjenigen, die aus dem Fonds, den unser edler Wohltäter hinterlassen hat, ein Gehalt beziehen. Sind Sie verheiratet, Mr. Wilson? Haben Sie Familie?‹

Ich antworte ihm, daß ich keine habe.

Sein Gesicht wird sogleich düster.

›Liebe Güte!‹ sagt er ernst, ›das ist schlimm! Ich bin sehr traurig, das zu hören. Der Fonds war natürlich gedacht für die Fortsetzung und Verbreitung von Rotschöpfen und ihren Unterhalt. Es ist sehr traurig, daß Sie Junggeselle sind.‹

Ich habe natürlich ein langes Gesicht gemacht, Mr. Holmes, weil ich dachte, ich würde die freie Stelle am Ende doch nicht bekommen; aber nachdem er es sich ein paar Minuten überlegt hatte, sagte er, es ginge in Ordnung.

›Bei einem anderen‹, sagt er, ›wäre das ein entscheidendes Hindernis, aber bei einem Mann mit einem Schopf, wie Sie ihn haben, muß man schon einmal fünf gerade sein lassen. Wann werden Sie sich Ihren neuen Pflichten widmen können?‹

›Nun, das ist ein bißchen schwierig, weil ich nämlich schon ein Geschäft habe‹, sage ich.

›Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen‹, Mr. Wilsons, sagt Vincent Spaulding. ›Darum werde ich mich schon für Sie kümmern.‹

›Wie sehen meine Dienstzeiten aus?‹ frage ich.

›Zehn bis zwei.‹

Nun macht ein Pfandleiher seine Geschäfte meistens am Abend, Mr. Holmes, vor allem donnerstags und freitags, vor dem Zahltag; es würde mir also gut zupaß kommen, an den Vormittagen ein wenig zu verdienen. Außerdem wußte ich, daß mein Assistent ein guter Mann ist und sich um alles kümmert, das anfallen kann.

›Das ist mir sehr recht‹, sage ich. ›Und die Bezahlung?‹

›Vier Pfund pro Woche.‹

›Und die Arbeit?‹

›Ist rein symbolisch.‹

›Was nennen Sie rein symbolisch?‹

›Nun, Sie müssen die ganze Zeit im Büro oder wenigstens im Gebäude zubringen. Wenn Sie es verlassen, geben Sie Ihre gesamte Stellung für immer auf. Das Testament ist in dieser Beziehung sehr klar. Sie erfüllen die Bedingungen nicht, wenn Sie sich in dieser Zeit aus dem Büro rühren.‹

›Es sind ja nur vier Stunden am Tag, und ich denke nicht daran, in dieser Zeit zu gehen‹, sage ich.

›Alle Entschuldigungen wären zwecklos‹, sagt Mr. Duncan Ross, ›weder Krankheit noch Geschäft noch sonst etwas. Sie müssen dableiben, oder Sie verlieren Ihre Stellung.‹

›Und die Arbeit?‹

›Besteht daraus, aus der Encyclopedia Britannica abzuschreiben. In dem Schrank da liegt der erste Band. Tinte, Federn und Löschpapier müssen Sie sich selbst beschaffen, aber wir stellen diesen Tisch und diesen Stuhl zur Verfügung. Können Sie morgen anfangen?‹

›Natürlich‹, sage ich.

›Dann good-bye, Mr. Jabez Wilson, und erlauben Sie, daß ich Sie nochmals zu der wichtigen Stellung beglückwünsche, die Sie so glücklich errungen haben.‹ Er hat mich höflich aus dem Raum geleitet, und ich bin zusammen mit meinem Assistenten heimgegangen; ich wußte kaum, was ich sagen oder tun sollte, so zufrieden war ich mit meinem glücklichen Los.

Dann habe ich den ganzen Tag lang über die Sache nachgedacht, und abends war ich wieder in bedrückter Stimmung, denn ich hatte mir selbst eingeredet, daß die ganze Angelegenheit ein großer Scherz oder Schwindel sein mußte, obwohl ich mir nicht denken konnte, was man damit bezwecken mochte. Es erschien mir gänzlich unglaublich, daß jemand solch ein Testament machen oder solch eine Summe für eine so einfache Arbeit, wie die Encyclopedia Britannica abschreiben, bezahlen sollte. Vincent Spaulding hat getan, was er konnte, um mich aufzuheitern, aber als es Zeit war, ins Bett zu gehen, hatte ich mir die ganze Sache, aus dem Kopf geschlagen. Am Morgen war ich jedoch entschlossen, mir jedenfalls alles anzusehen, also habe ich für einen Penny eine kleine Flasche Tinte gekauft und mich mit einem Federkiel und sieben Blatt Kanzleipapier nach Pope's Court auf den Weg gemacht.

Zu meiner Überraschung und Freude war aber alles so, wie es nicht besser sein konnte. Der Tisch stand für mich bereit, und Mr. Duncan Ross war anwesend, um dafür zu sorgen, daß ich gut in die Arbeit hineinkam. Er hat mich mit dem Buchstaben A anfangen lassen, und dann ist er gegangen, aber er wollte von Zeit zu Zeit hineinschauen, um sicher zu sein, daß mit mir alles in Ordnung war. Um zwei Uhr hat er mir einen guten Tag gewünscht, mir Komplimente wegen der Menge gemacht, die ich geschrieben hatte, und dann hinter mir die Bürotür abgeschlossen.

So ging es Tag für Tag, Mr. Holmes, und am Samstag kam der Geschäftsführer und hat mir für meine Wochenarbeit vier goldene Sovereigns auf den Tisch gelegt. Genau so war es in der nächsten Woche und auch in der Woche danach. Jeden Morgen war ich um zehn Uhr da, und jeden Nachmittag bin ich um zwei Uhr gegangen. Nach und nach gewöhnte sich Mr. Duncan Ross daran, nur noch einmal am Vormittag hereinzukommen, und nach einiger Zeit kam er überhaupt nicht mehr. Natürlich habe ich trotzdem nie gewagt, den Raum auch nur für einen Augenblick zu verlassen, weil ich nicht sicher war, ob er nicht doch kommen würde, und die Stellung war so schön und paßte mir so gut, daß ich es nicht riskieren wollte, sie zu verlieren.