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Eine langweilige Geschichte

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Es verging wieder einige Zeit, da erhielt ich folgenden Brief: »Ich bin in unmenschlicher Weise betrogen worden. Ich kann nicht weiterleben. Verfügen Sie über mein Geld, wie Sie es für angemessen halten! Ich habe Sie geliebt wie einen Vater und als meinen einzigen Freund. Verzeihen Sie mir!«

Es hatte sich herausgestellt, daß auch ihr »Er« zu der »Horde von Wilden« gehörte. Später konnte ich aus einigen Andeutungen erraten, daß sie einen Versuch gemacht hatte, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte versucht, sich zu vergiften. Ich mußte annehmen, daß sie darauf ernstlich krank geworden war, da ich den nächsten Brief schon aus Jalta erhielt, wohin sie wahrscheinlich von den Ärzten geschickt worden war. Dieser enthielt die Bitte, ihr möglichst schnell tausend Rubel nach Jalta zu schicken, und schloß folgendermaßen: »Entschuldigen Sie, daß dieser Brief so trübe klingt. Ich habe gestern mein Kind begraben.« Nachdem sie in der Krim etwa ein Jahr lang gelebt hatte, kehrte sie nach Hause zurück.

Ihr Umherreisen von Ort zu Ort hatte ungefähr vier Jahre gedauert, und während dieser ganzen vier Jahre hatte ich, wie ich eingestehen muß, ihr gegenüber eine sonderbare, ziemlich klägliche Rolle gespielt. Als sie mir zuerst erklärt hatte, sie wolle Schauspielerin werden, und mir dann von ihrer Liebe geschrieben hatte, und als sie periodisch von Verschwendungssucht ergriffen worden war und ich ihr häufig auf ihr Verlangen bald tausend, bald zweitausend Rubel hatte schicken müssen, und als sie mir von ihrer Absicht zu sterben und dann von dem Tode ihres Kindes geschrieben hatte, da hatte ich jedesmal nicht recht gewußt, was ich tun sollte, und meine ganze Anteilnahme an ihrem Geschick hatte sich nur darin geäußert, daß ich viel nachdachte und ihr umfängliche, langweilige Briefe schrieb, die ich gut und gern hätte ungeschrieben lassen können. Und dabei sollte ich ihr doch eigentlich den leiblichen Vater ersetzen und liebte sie auch wirklich wie eine Tochter!

Jetzt wohnt Katja nur eine halbe Werst von mir entfernt. Sie hat sich eine Wohnung von fünf Zimmern gemietet und sich darin ziemlich komfortabel und nach ihrem persönlichen Geschmack eingerichtet. Wenn jemand ihre Einrichtung charakterisieren wollte, so müßte er als das bedeutsamste Moment die Trägheit bezeichnen. Da sind für den trägen Körper weiche Chaiselongues und weiche Sessel, für die trägen Füße weiche Teppiche, für das träge Auge blasse, trübe, matte Farben, für den trägen Geist an den Wänden eine Unmasse billiger, buntbemalter Fächer und kleiner Bilder, bei denen der dargestellte Gegenstand hinter der Originalität der Ausführung zurücktritt, eine Menge von Tischchen und Regalen, die mit unnützen, wertlosen Dingen ganz vollgestellt sind, formlose Lappen statt der Vorhänge usw. Diese ganze Einrichtung mit der sich darin bekundenden Scheu vor hellen Farben, vor Symmetrie und vor freiem Raum zeugt nicht nur von seelischer Trägheit, sondern auch von einer Verbildung des natürlichen Geschmacks. Ganze Tage lang liegt Katja auf einer Chaiselongue und liest Bücher, vorzugsweise Romane und Novellen. Das Haus verläßt sie nur einmal am Tage, nachmittags, um mich zu besuchen.

Ich arbeite; Katja aber sitzt nicht weit von mir auf dem Sofa, schweigt und wickelt sich in ihren Schal, als ob sie fröre. Sei es, weil sie mir sympathisch ist, oder weil ich an ihre Besuche noch von der Zeit her gewöhnt bin, wo sie als Mädchen so oft in meinem Zimmer war: ihre Anwesenheit hindert mich nicht, meine Aufmerksamkeit auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ab und zu richte ich mechanisch irgendeine Frage an sie, und sie gibt mir eine sehr kurze Antwort; oder ich wende mich, um mich einen Augenblick zu erholen, zu ihr und sehe, wie sie, in Gedanken versunken, in irgendein medizinisches Journal oder in eine Zeitung blickt. Und dabei bemerke ich, daß der frühere Ausdruck von Zutraulichkeit auf ihrem Gesichte nicht mehr vorhanden ist. Ihr Gesicht sieht jetzt kalt, gleichgültig und zerstreut aus, wie bei Reisenden, die lange auf den Zug warten müssen. Gekleidet ist sie wie früher schön und einfach, aber nachlässig; man sieht, daß ihrer Toilette und ihrer Frisur die Chaiselongues und Schaukelstühle, auf denen sie tagelang umherliegt, nicht gut bekommen. Auch ist sie nicht mehr wißbegierig, wie sie es doch früher war. Sie richtet an mich keine Fragen mehr; es ist, als hätte sie im Leben schon alles durchgemacht und erwartete nicht mehr etwas Neues zu hören.

Kurz vor vier Uhr macht sich im Saale und im Salon eine Bewegung bemerklich. Es ist Lisa, die aus dem Konservatorium gekommen ist und ein paar Freundinnen mitgebracht hat. Man hört, wie sie Klavier spielen, ihre Stimmen versuchen und lachen. Im Eßzimmer deckt Jegor den Tisch und klappert mit dem Geschirr.

»Leben Sie wohl,« sagt Katja. »Zu Ihren Damen gehe ich heute nicht mehr hinein; sie müssen mich schon entschuldigen; ich habe keine Zeit. Besuchen Sie mich!«

Während ich sie bis ins Vorzimmer begleite, blickt sie mich unzufrieden vom Kopfe bis zu den Füßen an und sagt ärgerlich:

»Aber Sie werden immer magerer! Warum gebrauchen Sie keine Kur? Ich werde mich an Sergei Fedorowitsch wenden und ihn herschicken. Der soll Sie gründlich untersuchen.«

»Das ist nicht nötig, Katja.«

»Ich begreife nicht, wie Ihre Angehörigen das mitansehen können! Es ist geradezu eine Sünde!«

Sie zieht mit heftigen Bewegungen ihren Pelz an, wobei aus ihrer nachlässig hergestellten Frisur mit Sicherheit zwei oder drei Haarnadeln auf den Fußboden fallen. Die Frisur wieder zurechtzumachen, ist sie zu träge, hat auch keine Zeit dazu; sie schiebt die heruntergefallenen Locken unordentlich unter ihr Mützchen und geht.

Wenn ich in das Eßzimmer trete, fragt mich meine Frau:

»Katja ist eben bei dir gewesen? Warum ist sie denn nicht zu uns hereingekommen? Das ist doch geradezu sonderbar …«

»Aber Mama!« sagt Lisa in vorwurfsvollem Tone. »Wenn sie nicht will, dann läßt sie es bleiben. Wir werden sie doch nicht auf den Knien darum bitten!«

»Jedenfalls ist es eine arge Nichtachtung. Sitzt da drei Stunden lang in Papas Arbeitszimmer und denkt nicht an uns. Na, aber wie es ihr beliebt!«

Warja und Lisa hassen Katja. Dieser Haß ist mir unverständlich, und wahrscheinlich muß man, um ihn zu verstehen, ein Weib sein. Ich möchte mich mit meinem Kopfe dafür verbürgen, daß unter den hundertfünfzig jungen Männern, die ich fast täglich in meinem Auditorium sehe, und den hundert älteren, mit denen ich jede Woche zusammenkomme, sich kaum einer findet, der für diesen Haß und Abscheu gegen Katjas Vergangenheit (weil sie nämlich ein uneheliches Kind gehabt hat) ein Verständnis besäße; und gleichzeitig kann ich mich auf kein weibliches Wesen unter den Frauen und jungen Mädchen meiner Bekanntschaft besinnen, das nicht, sei es bewußt, sei es instinktiv, gegen eine solche Geschlechtsgenossin von jenen Gefühlen des Hasses und Abscheus erfüllt wäre. Und das kommt nicht etwa daher, daß die Frau keuscher und reiner ist als der Mann; denn wenn Keuschheit und Reinheit mit solchen boshaften Gefühlen verbunden sind, so sind sie nur wenig besser als das Laster. Sondern ich erkläre mir das einfach aus der Rückständigkeit der Frau. Wenn der heutige Mann beim Anblick eines solchen Unglücks ein wehmütiges Gefühl des Mitleids empfindet und sein Gewissen ihn peinigt, so lassen mich diese Empfindungen eher auf eine hohe Stufe der Kultur und Sittlichkeit schließen als jener Haß und Abscheu. Das heutige Weib besitzt noch dieselbe Neigung zum Weinen und dieselbe Härte des Herzens wie das Weib des Mittelalters. Und meines Erachtens handeln diejenigen ganz richtig, die den Frauen raten, ihrer Bildung dieselbe Richtung zu geben wie die Männer.

Meine Frau kann Katja auch deswegen nicht leiden, weil sie Schauspielerin gewesen ist, ferner wegen ihrer Undankbarkeit und wegen ihres Stolzes und wegen ihres exzentrischen Benehmens und wegen all der zahlreichen Laster, die eine Frau immer an einer andern herauszufinden versteht.

Außer mir und meiner Familie pflegen bei uns noch zwei oder drei Freundinnen meiner Tochter zu Mittag zu speisen, sowie ein Herr Alexander Adolfowitsch Gnecker, ein Verehrer Lisas, der sich um ihre Hand bewirbt. Er ist ein junger Mann, kaum dreißig Jahre alt, blond, von mittlerer Statur, sehr wohlgenährt, breitschultrig, mit einem rötlichen Backenbart an den Ohren und einem dunkelgefärbten Schnurrbärtchen, das seinem vollen, glatten Gesichte das Aussehen einer Spielzeugfigur verleiht. Er trägt ein sehr kurzes Jackett, eine bunte Weste, großkarierte Beinkleider, die oben sehr weit und unten sehr eng sind, und gelbe Halbstiefel ohne Absätze. Seine Augen stehen hervor wie bei einem Krebse; die Krawatte hat mit einem Krebsschwanze Ähnlichkeit, und es will mir sogar so vorkommen, als ob dieser ganze junge Mensch nach Krebssuppe röche. Er ist bei uns täglich zu Besuch; aber niemand in meiner Familie weiß, von welcher Herkunft er ist, wo er seine Bildung genossen hat, und wo er die Mittel zum Leben herbekommt. Er spielt kein Instrument und singt nicht, hat aber doch eine gewisse Beziehung sowohl zur Instrumentalmusik als auch zum Gesange; er verkauft irgendwo für irgend jemand Klaviere, hält sich oft im Konservatorium auf, ist mit allen Berühmtheiten bekannt und hat bei Konzerten allerlei zu arrangieren. Er urteilt über Musik mit großer Bestimmtheit, und wie ich bemerkt habe, schließen sich alle seinem Urteile willig an.

Wie reiche Leute immer ein paar Parasiten um sich haben, so ist es auch mit der Wissenschaft und mit der Kunst. Es gibt wohl auf der Welt keine Kunst oder Wissenschaft, die von Fremdkörpern, in der Art dieses Herrn Gnecker, frei wäre. Ich bin kein Musiker und irre mich vielleicht hinsichtlich dieses Herrn, den ich zudem nur wenig kenne; aber die autoritative Würde, mit der er am Flügel steht und zuhört, wenn jemand singt oder spielt, kommt mir gar zu verdächtig vor.

Man mag hundertmal ein Gentleman und Geheimrat sein, aber wenn man eine Tochter hat, so kann man sich durch nichts vor dem Spießbürgertum sichern, das einem durch die Courmacherei, den Heiratsantrag und die Hochzeit ins Haus hineingetragen wird und einem die Stimmung verdirbt. So kann ich mich z. B. schlechterdings nicht mit der feierlichen Miene abfinden, die meine Frau jedesmal annimmt, wenn Herr Gnecker bei uns sitzt, auch nicht mit den Flaschen Lafitte, Portwein und Sherry, die nur seinetwegen auf den Tisch kommen, um ihn durch den Augenschein zu überzeugen, wie behaglich und luxuriös wir leben. Ich kann auch Lisas abgebrochenes Lachen nicht vertragen, das sie sich im Konservatorium angewöhnt hat, und ihre Manier, die Augen zusammenzukneifen, wenn Herren bei uns zu Besuch sind. Und vor allen Dingen kann ich absolut nicht begreifen, warum da tagtäglich ein Mensch in mein Haus kommt und mit mir zu Mittag speist, der zu meinen Gewohnheiten, zu meiner Wissenschaft, zu meiner ganzen Lebensweise nicht im geringsten paßt und mit denjenigen Menschen, die ich gern habe, nicht die geringste Ähnlichkeit besitzt. Meine Frau und die Dienerschaft flüstern heimlich, das sei »ein Freiersmann«; aber ich habe trotzdem kein Verständnis für seine Anwesenheit; sie erregt bei mir eine solche Verwunderung, als hätte sich ein Zulukaffer zu mir an den Tisch gesetzt. Und ebenso seltsam kommt es mir vor, daß meine Tochter, die ich für ein Kind anzusehen gewohnt bin, diese Krawatte und diese Augen und diese weichen Backen liebt …

 

Früher machte das Mittagessen mir Freude oder ließ mich gleichgültig; aber jetzt erregt es mir nur Langeweile und macht mich nervös. Seit ich Exzellenz geworden und eine Zeitlang Dekan der Fakultät gewesen bin, hat meine Familie es aus einem mir unverständlichen Grunde für nötig befunden, das Menü und die gesamte Ordnung unseres Mittagessens vollständig umzuändern. Statt der einfachen Gerichte, an die ich mich gewöhnt hatte, als ich noch Student und praktischer Arzt war, bekomme ich jetzt eine Püree-Suppe, in der irgendwelche weiße Klütern schwimmen, und Nieren in Madeira zu essen. Mein Generalsrang und meine Berühmtheit haben mich auf immer der Kohlsuppe beraubt und der schmackhaften Piroggen und des Gänsebratens mit Äpfeln und des Brassens mit Grütze. Sie haben mich auch des Stubenmädchens Agascha beraubt, einer geschwätzigen, lachlustigen alten Person, statt deren jetzt beim Mittagessen Jegor serviert, ein dummer, hochmütiger Bursche, mit einem weißen Handschuh auf der rechten Hand. Die Pausen zwischen den Gerichten sind nur kurz, erscheinen aber außerordentlich lang, weil wir nichts haben, womit wir sie ausfüllen könnten. Es fehlt die frühere Heiterkeit, die ungezwungenen Gespräche, die Scherze, das Gelächter, die gegenseitigen Zärtlichkeiten und jene Freude, die ehemals die Kinder und meine Frau und ich schon darüber zu empfinden pflegten, daß wir uns im Eßzimmer zusammenfanden; für mich, einen vielbeschäftigten Mann, war das Mittagessen eine Zeit der Erholung, des Wiedersehens mit den Meinen, und für meine Frau und die Kinder war es eine wenn auch kurze, so doch vergnügte und fröhliche Feierzeit, wo sie wußten, daß ich für eine halbe Stunde nicht der Wissenschaft und nicht den Studenten, sondern einzig und allein ihnen und sonst niemandem gehörte. Jetzt kann ich nicht mehr das Kunststück ausführen, mich an einem einzigen Gläschen zu betrinken, und Agascha ist nicht mehr da, und der Brassen mit Grütze ist nicht mehr da, und auch der Lärm fehlt, der immer die kleinen aufregenden Ereignisse beim Mittagessen begleitete, wenn z. B. der Hund und die Katze sich unter dem Tische bissen oder das Tuch, das sich Katja um die Backe gebunden hatte, ihr in den Suppenteller fiel.

Die jetzige Mittagsmahlzeit zu schildern ist ebenso unerfreulich wie sie wirklich durchzumachen. Auf dem Gesichte meiner Frau liegt eine gewisse Feierlichkeit, eine gekünstelte Würde und der gewöhnliche sorgenvolle Ausdruck. Unruhig blickt sie auf unsere Teller und sagt: »Ich sehe, der Braten schmeckt euch nicht. Sagt doch die Wahrheit: er schmeckt euch wirklich nicht?« Und ich bin dann genötigt zu antworten: »Du machst dir unnütze Sorge, liebe Frau; der Braten schmeckt sehr gut.« Und dann sie wieder: »Du willst mich immer verteidigen, Nikolai Stepanowitsch, und sagst nie, was Du wirklich denkst. Warum hat denn Alexander Adolfowitsch so wenig gegessen?« Und in dieser Art geht es während des ganzen Mittagessens weiter. Lisa lacht in ihrer abgebrochenen Manier und kneift die Augen zusammen. Ich sehe meine Frau und meine Tochter an und werde mir gerade jetzt beim Mittagessen vollständig klar darüber, daß das innere Leben der beiden schon längst meiner Beobachtung entschlüpft ist. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich früher einmal mit meiner richtigen Familie zu Hause gelebt, wäre aber jetzt bei einer fremden Dame, nicht bei meiner richtigen Frau, zum Mittagessen und sähe da ein fremdes junges Mädchen, nicht meine richtige Lisa, vor mir. Mit beiden ist eine starke Veränderung vorgegangen, und ich habe diesen langen Veränderungsprozeß gewissermaßen verschlafen, und so ist es denn kein Wunder, daß ich jetzt nichts begreife. Wie ist es zu dieser Veränderung gekommen? Ich weiß es nicht. Möglicherweise rührt das ganze Unglück daher, daß Gott meiner Frau und meiner Tochter nicht so viel Kraft verliehen hat wie mir. Ich war von meiner Kindheit an gewöhnt, äußeren Einflüssen Widerstand zu leisten, und habe mich hinlänglich abgehärtet; solche Katastrophen im Leben wie das Berühmtwerden, die Erlangung des Generalsranges, der Übergang von einem auskömmlichen Leben zu einem Leben, das die Mittel übersteigt, der Eintritt in den Verkehr mit vornehmen Leuten, und mehr dergleichen, all das hat mich daher kaum berührt, und ich bin heil und unversehrt geblieben; aber auf meine Frau und Lisa, die schwach und nicht abgehärtet waren, ist dies alles zusammengestürzt wie eine große Schneewand und hat sie erdrückt.

Die jungen Damen und Herr Gnecker reden über Fugen, über Kontrapunkt, über Sänger und Pianisten, über Bach und Brahms; meine Frau aber, welche in den Verdacht der Unwissenheit auf musikalischem Gebiete zu kommen fürchtet, lächelt interessiert und murmelt: »Ganz reizend … Wirklich? Gewiß, gewiß …« Herr Gnecker ißt tüchtig, macht wohlanständige Scherze und hört nachsichtig die Bemerkungen der jungen Damen an. Mitunter bekundet er das Bestreben, ein schlechtes Französisch zu sprechen, und dann hält er (ich weiß nicht warum) für nötig, mich votre excellence zu titulieren.

Ich aber bin ärgerlich. Augenscheinlich geniere ich sie alle, und sie genieren mich. Nie habe ich früher etwas von Feindschaft gegen einen andern Stand gewußt; jetzt aber quält mich tatsächlich etwas von dieser Art. Ich bemühe mich, an Herrn Gnecker nur schlechte Eigenschaften herauszufinden, finde solche auch wirklich bald und bin mißgestimmt darüber, daß da als Bewerber um die Hand meiner Tochter ein Mensch sitzt, der einem ganz andern Kreise angehört als ich. Seine Anwesenheit hat auch noch in einer andern Hinsicht einen schlechten Einfluß auf mich. Gewöhnlich, wenn ich allein bin oder mich in Gesellschaft von Leuten befinde, die mir sympathisch sind, denke ich gar nicht an meine Verdienste, oder wenn mir doch der Gedanke an sie kommt, so erscheinen sie mir so geringfügig, als wäre ich erst gestern ein Gelehrter geworden; aber in Gegenwart solcher Leute, wie Herr Gnecker, kommen mir meine Verdienste wie ein sehr hoher Berg vor, dessen Gipfel in den Wolken verschwindet, und an dessen Fuße, für das Auge kaum sichtbar, die Menschen von der Art des Herrn Gnecker sich herumbewegen.

Nach Tische gehe ich in mein Arbeitszimmer und rauche dort ein Pfeifchen, das einzige während des ganzen Tages; mehr ist von meiner früheren schlechten Gewohnheit, vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein zu paffen, nicht übriggeblieben. Während ich rauche, kommt meine Frau zu mir herein und setzt sich hin, um mit mir zu reden. Gerade so wie am Vormittage weiß ich auch jetzt, wovon unser Gespräch handeln wird.

»Ich habe mit dir etwas Ernstes zu besprechen, Nikolai Stepanowitsch,« beginnt sie. »Ich wollte von Lisa reden. Warum wendest du darauf keine Aufmerksamkeit?«

»Was meinst du damit?«

»Du tust, als ob du nichts merktest; aber das ist doch ein falsches Benehmen. Man darf die Sache nicht so gehen lassen, ohne sich darum zu kümmern. Gnecker hat ernste Absichten auf Lisa. Was sagst du dazu?«

»Daß er ein schlechter Mensch ist, kann ich nicht sagen, da ich ihn nicht kenne; aber daß er mir nicht gefällt, habe ich dir schon tausendmal gesagt.«

»Aber es ist unrecht … es ist unrecht …«

Sie steht auf und geht in großer Erregung auf und ab.

»Es ist unrecht, einer ernsten Sache gegenüber einen solchen Standpunkt einzunehmen,« sagt sie. »Wenn es sich um das Lebensglück der Tochter handelt, dann muß man alles Persönliche ausschalten. Ich weiß, daß er dir nicht gefällt … Das kann ja sein … Aber wenn wir ihn jetzt abweisen und die Sache verhindern, dann ist zu befürchten, daß Lisa uns ihr ganzes Leben lang Vorwürfe machen wird. Es wimmelt heutzutage nicht von Freiern, und es kann leicht kommen, daß sich ihr keine andere Partie mehr bietet. Er liebt Lisa sehr, und anscheinend findet auch sie an ihm Gefallen. Er hat ja allerdings keine gesicherte Stellung; aber was ist da zu machen? So Gott will, wird er schon mit der Zeit irgendwo ankommen. Er ist aus guter Familie und reich.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es gesagt. Sein Vater besitzt in Charkow ein großes Haus und in der Nähe von Charkow ein Gut. Kurz gesagt, Nikolai Stepanowitsch, du mußt unbedingt nach Charkow reisen.«

»Warum?«

»Du mußt da Erkundigungen anstellen. Du bist ja dort mit einigen Professoren bekannt; die werden dir behilflich sein. Ich würde selbst hinfahren; aber ich bin ein Weib. Ich kann es nicht.«

»Ich reise nicht nach Charkow,« erwidere ich mürrisch.

Meine Frau bekommt einen Schreck, und auf ihrem Gesichte erscheint ein Ausdruck qualvollen Schmerzes.

»Um Gottes willen, Nikolai Stepanowitsch!« fleht sie mich schluchzend an. »Um Gottes willen, nimm mir diese schwere Sorge von der Seele! Ich leide darunter entsetzlich!«

Wie ich sie so ansehe, tut sie mir leid.

»Nun gut, Warja,« sage ich freundlich. »Wenn du es wünschest, will ich meinetwegen nach Charkow fahren und alles tun, was du möchtest.«

Sie drückt das Taschentuch gegen die Augen und geht auf ihr Zimmer, um zu weinen. Ich bleibe allein.

Nach einiger Zeit bringt man mir Licht. Von den Sesseln und dem Lampenschirm lagern sich auf den Wänden und auf dem Fußboden die mir längst bekannten, längst zuwider gewordenen Schatten, und wenn ich sie ansehe, so will es mir scheinen, daß es schon Nacht sei, und daß meine nichtswürdige Schlaflosigkeit schon beginne. Ich lege mich ins Bett; dann stehe ich wieder auf und wandere im Zimmer auf und ab; dann lege ich mich wieder hin … Gewöhnlich erreicht nach dem Mittagessen, vor dem Abend, meine nervöse Erregung ihren höchsten Grad. Ich fange ohne Veranlassung zu weinen an und stecke den Kopf unter das Kopfkissen. In solchen Augenblicken fürchte ich mich davor, daß jemand eintreten könnte; ich fürchte, plötzlich zu sterben, schäme mich meiner Tränen, und meine ganze Seele ist von einem allgemeinen, unerträglichen Schmerz erfüllt. Ich fühle, daß ich nicht länger imstande bin, meine Lampe, meine Bücher, die Schatten auf dem Fußboden anzusehen und die aus dem Salon herübertönenden Stimmen anzuhören. Eine unsichtbare, unbegreifliche Macht zieht mich gewaltsam aus meiner Wohnung hinaus. Ich springe auf, kleide mich hastig an und gehe vorsichtig, damit meine Hausgenossen es nicht gewahr werden, auf die Straße. Wo soll ich hingehen?

Die Antwort auf diese Frage steckt schon längst fertig in meinem Gehirn: zu Katja.