Die Judenmadonna

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Der Junge rannte nach nebenan.

»So, Magdalene, höre genau zu, was ich jetzt sage: Kreuze die Hände vor der Brust, nein, so, siehst du? Mit der Handfläche nach außen. Das linke Knie beugen, noch tiefer. Ja. Und nun senke den Kopf, aber grinse nicht so, vergiss nicht, du bist die Mutter Gottes und der Erzengel Gabriel verkündet dir, dass du den Heiland gebären wirst.«

»Und was soll die Lilie?«

»Die Lilie«, seufzte Ludwig, »die weiße Lilie besonders, ist das Abbild der Reinheit. Ein Zeichen dafür, dass du noch Jungfrau bist – was wir dir wohl einfach werden glauben müssen.«

Magdalene kicherte albern und ließ dabei eine große Zahnlücke im Oberkiefer sehen.

Großer Gott, dachte Ludwig. Als ob sich bisher irgendwer darum gerissen hätte, sie zu entehren! Er nahm Martin beiseite und flüsterte besorgt: »Sag mal, Bruder, bist du sicher, dass du weißt, was du da tust?«

»Welche Wahl bleibt mir denn? Glaub mir, Mutter hätte sonst nie Ruhe gegeben. Seit einer Ewigkeit liegt sie mir damit in den Ohren, mit diesem Mädchen, mit der reichen Familie, mit der großen Mitgift, die ihren Bräutigam erwartet.«

Ludwig betrachtete das Mädchen mit der rotgoldenen Haarflut über dem blauen Madonnengewand, wie es dort stand, und legte einen Augenblick lang grübelnd den Kopf schief.

»Naja, ein wenig zu mager ist sie schon. Aber du kannst sie ja herausfüttern«, erwiderte er schließlich grinsend.

»Herausfüttern? Ich? Was meinst du damit?«

»Nun, wenn sie erst einmal deine liebe Braut ist!«, sagte Ludwig schadenfroh.

»Großer Gott, nein! Ludwig, wo denkst du nur hin? Niemals. Da bleibe ich lieber für den Rest des Lebens unvermählt, das kannst du mit glauben.«

»Wieso denn, Martin? So schlimm ist sie ja nun auch wieder nicht. Und sie ist eine gute Partie, mit einer Mitgift, wie man hört, die alle Vorstellungen übersteigt. Wenn du sie heiratest, dann wirst du …«

»Sch, sei still, du Narr! Sie kann dich vielleicht hören. Nein, Gott steh mir bei, das werde ich bestimmt nicht. Es reicht mir schon, wenn ich sie malen muss, so schwierig es auch sein wird.

Was soll’s. Sie steht uns ein paar Tage lang Modell, Mutter ist zufrieden und Friede sei mit ihnen beiden.«

Ludwig blickte auf das von Martin so sorgfältig zusammengestellte Bild, das sich ihnen nun bot, und schwieg. Martin hatte zweifellos wieder die besten Einfälle für die Komposition gehabt – wie immer. Es war nicht leicht mit seinem Bruder. Gott, der Herr, verteilte seine Gaben ganz so, wie es ihm gefiel. Glücklich war der, der sich damit zu bescheiden wusste.

Ludwig und Martin hatten beide in der Werkstatt des Vaters über lange Jahre die Kunst des Goldschmiedens erlernt. Schon ihr Vater Caspar Schongauer war ein vielbeschäftigter Goldschmied von außerordentlicher Kunstfertigkeit, ein angesehener Bürger und einer der dreißig Ratsherren von Kolmar. Auch ihr Onkel Jos war Goldschmied, in Lemberg im Königreich Polen, und die drei anderen Brüder, Caspar, Paul und Jörg, waren gleichfalls Goldschmiede von größtem Ruf und guten Einkünften. Außerdem hielt Caspar Schongauer viel von Gelehrsamkeit, denn gleichzeitig hatten sie wohl oder übel die Lateinschule des Sankt Martinsstifts besuchen müssen. Sie priesen ihren Schöpfer, als sie endlich genug Latein gelernt hatten, dass es zu einem Studium reichte und sie den düsteren Saal und den übelriechenden Magister, der die Knaben bei jedem geringen Anlass mit einer dünnen Weidenrute züchtigte, endlich verlassen durften.

Allmählich aber war es nicht zu übersehen gewesen, dass beiden das Entwerfen und Gestalten von Bildwerken wesentlich mehr lag als die Goldschmiedekunst. Aber Ludwigs Fähigkeiten hatten von Anfang an nicht an die Martins herangereicht. Caspar Schongauer wäre es daher viel lieber gewesen, wenn auch Ludwig Goldschmied geworden wäre. Aber Ludwig hatte sich hartnäckig dagegen gesträubt. Er wollte nichts als malen. Als Ludwig nach seinen Wanderjahren nach Kolmar zurückkehrte, musste er zu seinem Ärger erfahren, dass man Martin inzwischen sogar versuchsweise zum Studium an die Universität von Leipzig gesandt hatte. Aber dort hatte Martin sich nicht lange aufgehalten, denn nach seinen Erzählungen zu urteilen, war er in dem Staub der Bücher, Bibliotheken und auditorii geradezu am Ersticken gewesen.

Martin rückte auf dem Tisch zu seiner Seite die Töpfe mit den Farben zurecht, die Matthias unter seiner Aufsicht sorgfältig angerührt hatte, und musterte sein Modell vor dem brokatenem Tuch eine Weile, dann griff er zu einem dicken Haarpinsel und trug versuchsweise ein paar Striche Indigoblau auf dem hellen Grund auf.

»Ja«, murmelte er kurz, »sehr schön! Matthias, das hier brauche ich noch einen Schatten dunkler, vielleicht auch zwei. Mach mir erst einmal eine Probemischung mit Ruß.«

Matthias verschwand, mit Gläsern und Töpfen beladen. Ludwig musste die mühselige und aufwändige Arbeit übernehmen, den Goldgrund um die Figuren der Maria und des heiligen Antonius aufzulegen. Die Tafeln waren an den markierten Stellen schon mit Ocker vorbereitet worden. Das Kistchen mit hauchdünn gewalztem Blattgold stand bereit, um auf der Leimmischung, deren Rezeptur die Brüder Schongauer streng hüteten, gleichmäßig aufgetragen zu werden. War die Goldfläche aufgelegt und der Leim durchgetrocknet, wurde sie mit einem Eberzahn gut poliert, eine Technik, bei der Matthias gleich lernen würde, aus wie viel eintöniger Knochenarbeit das Malerhandwerk bestehen konnte.

Ab und an schaute Ludwig mürrisch zu dem Bruder und seinem Modell hinüber, ohne dass Martin auch nur einmal seine Blicke erwiderte. Martin pflegte sich häufig so sehr in sein Werk zu vertiefen, dass er selbst auf dringenden Zuruf hin keine Antwort gab. Ludwig hatte gelegentlich die Angewohnheit, bei der Arbeit zu pfeifen oder gar zu singen, was der Bruder nie tat. Wenn Martin malte, dann malte er und nichts anderes.

Was Ludwig nicht sah, war, dass auf Martins Arbeitstisch eine nur handgroße Tintenzeichnung auf gelblichem Papier lag, darauf ein Mädchenkopf mit einer zipfeligen Tuchhaube, umrahmt von locker fallenden Haarsträhnen, ein Antlitz mit sehr dunklen Augen und einer schmalen, kühnen Nase. Er hatte die Skizze noch in Straßburg angefertigt, nur wenige Stunden, nachdem er die fremde Schöne auf dem Marktplatz entdeckt hatte. Er hatte nie vorgehabt, seiner Heiligen Jungfrau das Gesicht von Magdalene Böhmerin zu geben.

Oberehnheim, im Judengässel

Aaron ben Eliezer, der jüngste Sohn des Eliezer von Worms, des Arztes von Oberehnheim, trat sich mit müden Füßen den Dreck von den Stiefeln, bevor er das enge Judengässel seiner Heimatstadt betrat. Ein Regentropfen schlug ihm an die Stirn, als er gerade den Türklopfer am Hause seines Vaters betätigen wollte. Prüfend blickte Aaron zum Himmel hinauf. Dazu musste er den Kopf weit zurück in den Nacken legen, denn die Häuser in der Gasse standen so eng, dass vom Himmel nur noch ein schmales Stückchen zu sehen war.

Aaron wuchtete den schweren Sack mit den Instrumenten, Binden und Arzneien, den hölzernen Deckeldosen mit Pülverchen, den Phiolen mit Essenzen und Tinkturen von der wund geriebenen Schulter und stöhnte.

So war auch dieser Tag endlich geschafft. Wenigstens einträglich war er gewesen. Eine Frau hatte nach ihm geschickt, deren Mann beim Dachdecken ausgerutscht und schlimm heruntergefallen war. Es hatte Wunden zu nähen und kaputte Knochen zu richten gegeben, dazu war das laute Wehgeschrei des Patienten und das Gejammer der Frau zu ertragen. Dabei hatte ihm Aaron gleich zu Beginn eine ordentliche Dosis tinctura opii verabreicht, viel mehr, als sein Vater jemals einem so leicht Verwundeten gegönnt hätte. Aber Aaron konnte die Schmerzensschreie nur schwer ertragen, und was noch viel schlimmer war: Er konnte sein ganzes Handwerk nicht ertragen.

Aber er hatte keine Wahl gehabt. Es war leider nicht viel Geld damit zu verdienen, im Hause in der Stube zu hocken und die Schriften von Tora und Talmud zu studieren, denn dies wäre viel eher nach seinem Geschmack gewesen und er hatte immer gehofft, dass der Vater keine Einwände erheben würde, wenn er die sieben Jahre ins Beit-Ha-Midrasch, das jüdische Lehrhaus, ging. Aber Eliezer hatte andere Pläne mit seinem Jüngsten gehabt, der als einziger noch nicht aus den beengten Verhältnissen der Oberehnheimer Judengasse ausgezogen war, so wie seine älteren Brüder. Und so hatte er Aaron zu seinem Nachfolger ausgebildet und in die Kunst des Aderlasses und Knochensägens, der Klistiere und der Wundnäherei unterwiesen. Das war eine ziemliche Plackerei gewesen, sowohl für den Vater, der ein ums andere Mal die Weichheit des zarten Sohnes verfluchte, als auch für den jungen Aaron, der sich des Öfteren beim Anblick von Blut und Wunden hatte übergeben müssen. Erstaunlich genug, dass er diese unselige Schwäche endlich überwunden hatte.

Schließlich betätigte Aaron den Klopfer und bald hörte er die Magd Malchele herbeischlurfen. Sie öffnete mit einiger Mühe die schwere Tür und musterte ihn mit einer Gleichgültigkeit, die einer schroffen Ablehnung äußerst nahekam.

»Ach, der junge Herr! Nu, auch schon wieder da?«

Aaron erwiderte nichts darauf. Vertrocknete alte Hexe, dachte er. Würdest du doch endlich tot umfallen! Er war ihre Unverschämtheiten gewohnt, seit sie ihm als Knaben wegen nichts und wieder nichts beinahe täglich den Hintern versohlt hatte. Seine schwache Mutter, die schon vor Jahren verstorben war, hatte nie gewagt, sich gegen die herrische Magd aufzulehnen, die schon seit der Kindheit des Vaters im Haus diente und diesen genauso regelmäßig verdroschen hatte wie den Sohn. Im Gegensatz zu ihm schien dem Vater die grobe Behandlung nie viel ausgemacht zu haben. Eliezer war der Einzige weit und breit, der mit der Magd umzugehen verstand. Aaron nahm Malchele stumm hin, so wie er alles hinnahm.

 

Die Alte musterte ihn von Kopf bis Fuß und stieß ein verächtliches Brummen aus. Seit er damit begonnen hatte, immer öfter anstelle seines Vaters über die vielen Weiler und Städtchen zu wandern und seine ärztliche Kunst auszuüben, hatte Malchele dem Vater gegenüber die Hoffnung ausgesprochen, der Sohn möge wohl durch die viele körperliche Arbeit endlich zum kräftigen und schlanken jungen Mann werden. Aber Aaron Ben Eliezer sah beinahe aus wie eine Birne auf Beinen, und da er eher klein geraten war, war die Ähnlichkeit mit der bauchigen Frucht noch größer. Wenn er die Judengasse verließ und sich auf eines der beiden Stadttore zubewegte, rannte ihm oft eine Schar von Kot werfenden Kindern mit dem Schmähruf »Hutzeljud! Hutzeljud!« hinterher. Und meist beließen sie es nicht bei Abfall und Hundedreck, der eine oder andere Lausbub griff auch zu Kieselsteinen, damit der Hutzeljud zu rennen anfing, weil es zu lustig aussah, wenn das birnenförmige Männchen mit seinen kurzen Beinen durch die Gassen lief wie ein Wiesel. Dann hätte Aaron wer weiß was darum gegeben, wenn man ihn den »Saujud« geschimpft hätte, so wie alle anderen.

Aaron legte Mantel und Hut ab und trat in die freundlich erleuchtete Stube, wo er zu seinem Erstaunen noch zu dieser späten Stunde einen fremden Gast erblickte.

»Ah, Aaron, endlich!«, rief Eliezer aufgeräumt, sein mageres Greisengesicht schon gerötet vom Wein. »Da bist du ja, mein Sohn. Zurück von Barr? Und hast du dich gleich bezahlen lassen, in Silber, so wie ich es dir befohlen habe?«

»Ja, Vater«, murmelte Aaron. Dann fiel sein Blick auf den fremden Juden, der mit dem blonden Bart und dem üppigen Haupthaar einem Löwen glich und gerade mit Anzeichen großen Behagens einen Schluck Wein trank. Ein ungutes Gefühl breitete sich aus in seiner Brust.

»Schalom, lieber Junge. Komm, setz dich zu uns. Wir haben etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Eliezer rief zur Küchentür nach der Magd: »Malchele! Bring noch Wein und Brot und von dem Krautgericht für den Jungen. Aber rasch!«

Ein missmutiges Brummen aus der Küche nebenan war zu hören, auch wie die Alte leise murmelte: »So schnell verhungert der uns schon nicht.«

Aber schließlich trat sie doch ein mit Roggenbrot und einer duftenden Schüssel mit Kraut und Pökelfleisch.

»Wein kommt gleich«, brummte sie und schlurfte hinaus.

»Vertrocknete alte Kröte! Hüte gefälligst deine Zunge vor unserem Gast!«, fuhr Eliezer sie scharf an. »Verzeiht das Benehmen der Alten«, sprach Eliezer nun zu dem Gast am Tisch. »Sie war schon immer so, unsere Magd, solang ich nur denken kann. Ändern werden wir sie nicht mehr. Eher kommt noch der Meschiach.«

Zwi Hirsch, der Schadchan, der sich als Heiratsvermittler im weiten Umkreis nach möglichen Bräuten umsah, grinste. Er war sich seines Erfolges in diesem Hause schon so gut wie gewiss. Die heiratsfähigen jüdischen Jungfrauen waren im Land nicht gerade zahlreich. Jeder wusste das. Ohne ihn wären etliche Verbindungen zwischen den jungen Leuten nie zustande gekommen.

Eliezer kam ohne Umschweife zur Sache: »Also, mein Sohn, höre mir gut zu. Aaron, das ist der Schadchan, Zwi Hirsch von Hagenau. Es gibt großartige Neuigkeiten: Er weiß ein passendes Mädchen für dich, eine prächtige Braut. Es ist ohnehin schon viel zu lang, dass du unverheiratet herumläufst – ein erwachsener Mann von dreiundzwanzig Jahren. Heute ist dein Glückstag, mein guter Junge!«

Aaron hörte auf zu kauen vor Schreck. Er sollte heiraten? Ein fremdes Mädchen? Nun ja, wen denn auch sonst. Alle Töchter aus dem heimischen Judengässel, die überhaupt nur in Frage gekommen wären, waren ja längst vermählt. Aaron hatte irgendwie die schwache Hoffnung gehegt, einer Verheiratung so lange wie möglich aus dem Wege gehen zu können. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Ach, Vater, ich weiß wirklich nicht … muss es denn sein?«

Die beiden Alten wechselten einen verblüfften Blick und brachen dann in schallendes Gelächter aus.

»Ojojoj!«, hörte man es dumpf von drüben in der Küche.

»Ja, es muss sein, du Schafskopf!«, polterte Eliezer los. »Was glaubst du wohl, wie lange ich noch leben werde? Deine Brüder sind auch schon längst verheiratet und über alle Berge, acht Enkelkinder habe ich schon! Worauf willst du denn noch warten, Junge? Heiraten musst du so oder so einmal. Besser früher als später. Du hast deine Kunst ordentlich gelernt, du hast ein Haus, in das du deine Braut heimführen kannst. Was willst du denn noch mehr?«

»Ja, aber … Vater … ich kenne sie doch gar nicht. Habe sie nie gesehen. Was, wenn sie mich nicht leiden kann?« Aaron verstummte unglücklich. Die wenigen jüdischen Jungfrauen, die er in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte, in den Tanzhäusern auf großen Hochzeiten, hatten sämtlich große Mühe gehabt, bei seinem Anblick vor Heiterkeit nicht die Fassung zu verlieren.

Der Schadchan schmunzelte listig und sprach: »Nun, du sollst sie dir ja zunächst einmal nur ansehen. Aber es müsste wirklich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn diese dir nicht gefällt. Sie kommt aus dem Schlettstädter Land, aus Bergheim, und sie ist schön wie die Königin von Saba. Es heißt, dass man eine solche Schönheit lange suchen kann!«

»Und aus einer guten Familie kommt sie auch«, unterbrach Eliezer den Schadchan ungeduldig. »Kein großes Geld, aber sie stehen recht gut da. Der Vater ist Rosshändler, sehr ordentliche Leute. Ich wünsche, dass, wenn wir in zwei Wochen nach Kolmar reisen, wir auf dem Rückweg über Bergheim fahren, damit du sie kennenlernst. Du wirst ihr schon gefallen, Sohn. Welches Mädchen hat wohl nicht gern einen bekannten und vielbeschäftigten Arzt zum Mann. Ja, sie könnte die Richtige für dich sein, da habe ich keine Zweifel. Sei einfach mal guten Mutes.«

Eliezer ben Menachem von Worms hatte dem Schadchan verschwiegen, dass Aaron, so lange er denken konnte, nie den Wunsch geäußert hatte, sich zu vermählen, ja, dass er sich nie auch nur nach einem hübschen Mädchen umgedreht hatte, wie jeder junge Bursche es für gewöhnlich tat. In seinen düstersten Stunden hatte sich Eliezer schon gefragt, ob sein jüngster Sohn am Ende der Sünde der Sodomie anheimgefallen sein könnte, so wenig wie er sich aus Frauenzimmern zu machen schien. Dergleichen Abscheulichkeiten waren hier und dort schon vorgekommen, wie man hörte. Und dazu noch, was der H’rr verhüten möge, in den Lehrhäusern unter den Talmud-Studenten, den Jeschiwe-Bochrim. Nun, war es denn ein Wunder? Zehn, zwölf halbwüchsige Knaben mit ihren unreifen, unordentlichen Trieben auf Jahre zusammen in einer Stube, ohne je ein Weib zu Gesicht zu bekommen? In seiner Not hatte er sogar erwogen, Aaron auf verschwiegenen Wegen mit einer Hure zusammenzubringen, was ein Vermögen gekostet haben würde, ohne Frage. Gold ebnete viele Wege. Bestimmt würde sich eine schamlose Dirne finden lassen, die es auch mit einem Juden trieb. Nun, dafür war es nun ein bisschen zu spät. Es wäre das Beste, den Jungen endlich ins kalte Wasser zu werfen.

Zwi Hirsch hatte es seinerseits vorgezogen, dem Arzt nichts darüber zu berichten, dass die Familie der Braut nicht mit Fruchtbarkeit gesegnet war. Nicht einmal Söhne hatte er, dieser Jakob ben Josua, und Töchter auch nicht, außer dieser einen. Das war das eine Problem. Das andere war, dass das Mädchen die Kunst des Lesens und des Schreibens erlernt hatte, was ihm der Vater mit stolzgeschwellter Brust berichtet hatte. Das kam bei Jüdinnen zwar häufiger vor als bei den Christinnen, aber es gab nicht wenige Brautwerber, die so etwas abschreckte. Nicht jeder Mann wünschte sich so eine kluge Gattin im Haus, die am Ende selbst rechnete und überall herumschnüffelte und alles bestimmte. Nun gut, als Frau eines Arztes mochten diese Fähigkeiten wohl am Ende doch von Nutzen sein. Vielleicht zum Aufschreiben von Rezepturen? Zwi Hirsch hüllte sich in diesem Punkt lieber in Schweigen.

Dieser Rosshändler, der ihn neulich auf dem Marktplatz von Reichenweier um die Vermittlung eines Ehemannes für seine Tochter angesprochen hatte, hatte ihm das Mädchen nur von weitem gezeigt. Selbst mit diesem Abstand, mit verhülltem Haar und schäbigen Kleidern, war auch für einen Blinden zu erkennen gewesen, dass dieses Mädchen schön wie das Morgenlicht war. Selbst er, der Schadchan, hatte in seinem Leben noch keine schönere jüdische Jungfrau gesehen.

»As der Potz stajt, gajt der Saichel in die Erd«, pflegten die Männer untereinander zu sagen. Wenn der künftige Bräutigam erst dieses Mädchen zu Gesicht bekam, würde er zweifellos keine Einwände mehr erheben. Schließlich hatte er Augen im Kopf. Und er war auch nur ein Mann.

Zwi Hirsch leerte zuversichtlich seinen Becher.

Bergheim, zwei Wochen später

Als Rahel Golda bat, ihr schönstes Gewand anzulegen, ein Kleid aus frühlingsgrünem, mit wildem Safran gefärbtem Leinen, mit in monatelanger Geduldsarbeit bunt gestickten Borten, darunter ihr bestes Hemd mit den weiten Ärmeln, fragte sie endlich ungeduldig: »Aber wozu denn nur der Aufwand, Mutter? Ist irgendetwas Besonderes heute?«

»Allerdings, Kind«, lächelte Rahel geheimnisvoll. Wir haben heute Gäste hier, feine Leute!

Ein Arzt aus Oberehnheim und sein Sohn werden mit uns speisen. Dein Vater ist schon mit ihnen drüben in der Schul. Gib dir also Mühe mit dem Essen. Ich will, dass alles besonders gut ist. Unseren Gästen soll es an nichts fehlen, hörst du?«

Golda seufzte. Als ob sie jemals faul und untätig in der Ecke auf ihrem Toches gesessen hätte!

Sie hatte schon seit Wochen, seit der Leib der Mutter schwer und schwerer geworden war und sie unter geschwollenen Beinen und Übelkeit zu leiden hatte, mehr als genug zu tun. Der Tisch war schon gerichtet, die Kerzen standen in ihren Haltern, das zugedeckte Brot lag dort auf seinem Brett, der Wein stand bereit. Heute gab es der Gäste wegen nicht den Tscholent, den am Schabbat üblichen Eintopf aus Graupen, Bohnen, Zwiebeln und fettem Fleisch, den die Männer so sehr liebten, es gab stattdessen eine kräftig mit Pfeffer gewürzte Pastete mit zartem Hühnerfleisch und gefüllte Forellen, die Jakob selbst gefangen hatte. Man würde sich also nicht zu beklagen haben. Plötzlich klopfte es sehr laut an die Tür, so unerwartet, dass Golda vor Schreck zusammenfuhr. Sie stand einen Moment wie angewurzelt, bis sie von nebenan Rahels Stimme hörte: »Nun, was ist? Geh schon öffnen, Goldele!«

Golda schob den Riegel hoch und öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt. Nichts hätte sie auf den seltsamen Anblick vorbereiten können, der sich ihr dort draußen bot: Zwei Juden standen dort, der eine alt, der andere jung, neben ihrem ein wenig verlegen lächelnden Vater. Der alte Jude trug ein gutes schwarzes Gewand, den leuchtend weißen Bart darüber, und er wirkte so dünn und kraftlos, dass er Golda an die Spinnen erinnerte, die hinten im Stall nach allen Richtungen stoben, sobald das Tageslicht auf sie fiel. Hinter dem Alten gab sich der Junge große Mühe, sich zu verbergen, so gut es ging. Als ob das irgendjemandem hinter diesem dürren Leib möglich gewesen wäre! Sein nicht gerade hässlicher Kopf, der mit den glatten schwarzen Haaren, den staunenden Augen und dem gänzlich haarlosen Kinn aussah, wie der eines Kindes, ruhte auf einem dünnen Hals über schmalen Schultern. Aber je weiter man an ihm herabsah, desto breiter wurde dieser Mensch, ja, er lief, je tiefer es zu seinen Knien herab ging, geradezu wie ein Fass auseinander. Auch er war in gutes, schweres Tuch gekleidet, trug einen schönen brokatenen Mantel, aber das machte die Sache nicht besser. Jakob drängte sich an den beiden vorbei ins Haus und hielt seinen Gästen die Tür auf. Da kam auch schon Rahel herbei mit ihrem schweren Leib und hieß die Gäste auf das Herzlichste willkommen: »Schabbat Schalom! Kommt nur, kommt ins Haus, Eliezer von Worms. Wie schön, dass wir Euch und Euren Sohn bei uns in Bergheim begrüßen dürfen!«

»Schabbat Schalom. Die Ehre, in Eurem Haus empfangen zu werden, ist ganz auf unserer Seite. Seid mir gegrüßt! Das ist mein Sohn Aaron, ein angesehener Arzt in der Ehnheimer Gegend. Er wird demnächst wohl voll und ganz meine Geschäfte übernehmen können. Jaja, er ist ein tüchtiger Junge.«

Dann wandte er sich an seinen Sohn und sprach zu ihm wie zu einem Kind: »Komm, Aaron, begrüße deine gütige Wirtin!«

Der Jüngere, der es bis dahin nicht über sich gebracht hatte, Golda ins Gesicht zu sehen, fasste sich ein Herz und schlug die Augen zu ihr hoch – denn er war wohl eine gute Handbreit kleiner als Golda – und murmelte einen kaum hörbaren Gruß in die Runde. Dann sah er in rascher Folge reihum seinen Vater, Jakob und Rahel an, um nur eiligst wieder den Kopf zu senken und zutiefst zu erröten.

 

»Nun denn«, sprach Jakob, »seid willkommen in unserem Haus und bei unserem Schabbatmahl. Mein Weib Rahel hat euch schon begrüßt. Und das ist meine Tochter Golda, mein einziges Kind.«

Ben Eliezer stutzte bei diesen Worten und drehte sich unruhig zu seinem Sohn herum. Er hob bedeutsam die Augenbrauen, ganz so, als wollte er sagen: einziges Kind! Hast du das gehört, Aaron, mein Sohn? Aber Aaron stierte nur weiterhin mit rotem Kopf zu Boden. Der alte Arzt blickte zurück zu der Mutter des Mädchens und bemerkte plötzlich mit erheblicher Erleichterung, dass diese, obwohl nicht mehr ganz jung, doch ersichtlich guter Hoffnung war. Nun, das war immerhin ein gutes Zeichen.

»Komm, Goldele, lass dich ansehen«, fuhr Jakob begeistert fort, »seht her, ist sie nicht eine Schönheit? Wie Milch und Blut. Kaum zu glauben, bei diesem Vater!«

Er, Eliezer und Rahel brachen in herzliches Gelächter aus, während der junge Aaron noch immer nicht zu ihr aufzublicken wagte. Und da plötzlich ahnte Golda nichts Gutes.

Nein, dachte sie, das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein, niemals!

Später, als sie miteinander an der Tafel saßen und kräftig zulangten, gab Golda sich die größte Mühe, die verstohlenen Blicke des jungen ben Eliezer zu übersehen. Rahel merkte, dass Golda keinen Bissen herunterbekam und dachte bei sich, dass es an ihrer jungfräulichen Scham und der Aufregung liegen musste. Dabei ahnte sie nicht, dass Golda kochte vor Wut. Was um alles in der Welt hatte sich der Vater dabei gedacht, ihr diesen Mann ins Haus zu bringen? So sehr sie auch versuchte, es zu vermeiden, in diesem Moment tauchte stärker als je zuvor der fremde Mann aus Straßburg vor ihr auf, seine schönen, braunen Augen, die sie so durchdringend angeblickt hatten, dass sie noch immer meinte, sie genau vor sich zu sehen und seine samtene Stimme zu hören.

Golda schreckte hoch, als die Mutter sie aus ihren Träumen riss und sie bat, mehr Wein zu holen. Erleichtert sprang sie auf und rannte einen Augenblick zur Tür hinaus. Bloß weg vom Tisch und von diesem scheußlichen Menschen! Sie atmete in tiefen Zügen die frische Abendluft ein, denn es war ihr, als sei sie kurz vor dem Ersticken.

Als sie kurze Zeit drauf wieder in die Stube trat, wich sie dem aufmerksamen Blick des Alten mit aus. Dieser Eliezer von Worms sollte sich nichts einbilden. Er sollte eher schwarz werden, bis sie ihm und seinem Sohn auch nur einen Fußbreit entgegenkam. Gerade ließ er sich darüber aus, was für ein wunderbares Wohnen für die Juden es sei im Judengässel von Oberehnheim, wie man mit den christlichen Nachbarn auskam und wie gut bestellt sein Haus sei. Vier Räume, ein großer Keller und eine tüchtige Magd. Golda bemühte sich, die Lobpreisungen der Verhältnisse, in die sie kommen sollte, zu überhören. Rahel und Jakob lauschten umso gespannter. Sie war heilfroh, als die Unterhaltung sich nach und nach anderen Dingen zuwandte und Jakob schließlich auch die alte Geschichte von dem verschwundenen Gerber hervorkramte, die er jedem seiner Gäste erzählte, denn sie hing den Juden von Bergheim bis zum heutigen Tage nach. Er hätte bei einem Bergheimer Bürger übernachtet, und darauf hätten ihn die Juden unter irgendeinem Vorwand in die Gasse gelockt und ihn erschlagen und geschächtet und dann in den Rhein geworfen.

»In den Rhein?«, fragte Eliezer. »Der ist aber doch fast eine Tagesreise entfernt von hier.«

»Ja, eben! Die Geschichte war natürlich frei erfunden. Je unwahrscheinlicher die Gräuelmärchen, desto sicherer werden sie geglaubt. Man munkelt bis zum heutigen Tag, dass in der Judengasse zu Bergheim einmal ein armer Lederer verschwunden sei, und man hätte nie wieder etwas von ihm gehört. Und dann macht man den Kindern Angst mit so was, damit sie sich ja nicht zu den Juden hineinwagen.«

»Nun, solche schlimmen Geschichten kennt man bei uns in Oberehnheim zum Glück nicht, glaubt mir. Ha Schem sei gelobt! Aber einen eigenen Weinberg haben wir dort leider nicht, so wie ihr Bergheimer. Aber dafür haben wir einen gepachtet, für gutes Geld, in der Nähe vom Schenkenberg. Es sind vortreffliche Böden dort, und im letzten Jahr hatten wir eine Fülle von Trauben. Reben, wie sie wohl zuletzt von Josua und Kaleb zu Moses gebracht wurden. Wir wussten kaum noch, wohin mit der Kelter. Und der Most war von einem herrlichen Goldton und duftete so süß wie Honig.«

Eliezer lachte herzhaft und nahm einen tiefen Zug aus seinem Becher, um sich lobend über das feine Aroma des eben gekosteten Gewächses auszulassen. Die Männer begannen sich nun lange über den Weinbau zu unterhalten, eine Leidenschaft, die Christen und Juden landauf und landab gleichermaßen teilten. Golda war wie erlöst, als Rahel sie endlich bat, das Mahl abzutragen. Dieser Aaron ben Eliezer saß die ganze Zeit stumm wie ein Fisch dabei. Nicht einmal hatte er während des ganzen Abends den Mund aufgemacht, außer zum Essen und Trinken. Was für ein Tropf. Nein, bloß weg von hier. Und doch war es fast zum Lachen: Was für ein Ehemann sollte der wohl werden? Rahel stand in der Küche bei den Abwaschkübeln, als Golda mit den Geschirren, hereinkam und drehte sich mit einem erwartungsvollen Lächeln nach ihr um.

»Nun, wie gefällt er dir?«

»Ist das dein Ernst, Mutter? Wie gefällt mir wer? Die alte Spinne oder der stumme Karpfen?«

Rahel holte tief Luft.

»Pfui, Goldele, schäm dich! So spricht man nicht über seine Gäste. Und der junge Mann hat sich gut betragen. Nun gut, er ist ein bisschen ruhig …«

»Ein bisschen ruhig? Mutter, er ist ein Langweiler. Und er ist wie ein Kind. Er wagt ja kaum, irgendwen anzusehen, und mich schon gar nicht! Was denkst du dir nur dabei? Würdest du etwa so einen Bräutigam haben wollen? Und wie sollten wohl die Kinder aussehen bei einem solchen Vater?«

»Für sein Aussehen kann er nichts. Und die Kinder würden ja auch nach dir kommen, vergiss das nicht. Er ist ein sehr ordentlicher Mensch und er ist Arzt. Er kann jedenfalls nicht gar so auf den Kopf gefallen sein.«

»Aber auf den Mund!«, fuhr Golda wütend dazwischen.

»Er kommt viel herum und verdient gut. Das ist doch das Wichtigste. Ich würde doch mein Mejdele keinem groben Klotz zum Weibe geben.«

»Aber einem Schwächling! Er tut ja alles, was der Vater ihm sagt, wie ein kleiner Junge.«

Golda brach jäh ab, denn prompt schossen ihr die Tränen in die Augen. Rahel strich ihr begütigend über den Kopf.

»Glaub mir, Kind, wir meinen es nur gut. Wir wollen dein Bestes, und wir wollen dich gut versorgt wissen. Dein Vater ist nicht mehr der Allerjüngste, wie du wohl weißt. Und über Reichtümer verfügen wir nun einmal nicht. Glaub deiner Mutter, du wirst dich rasch an die Ehe gewöhnen. Zu Anfang ist es manchmal schwer, gewiss.« Rahel sah nachdenklich vor sich hin und fuhr fort: »Aber später dann, wenn die Kinder kommen … glaub mir, es …«

»Schmonzes, Mutter. Ich werde ihn nicht heiraten, diesen Aaron Ben Eliezer! Niemals!«

Die letzten Worte hatte Golda nur wütend gezischt, damit man sie drinnen in der Stube nicht verstehen konnte. Sie funkelte die Mutter zornig an und warf die Tür zu ihrer kleinen Kammer hinter sich zu. Rahel seufzte. Nach einer Weile schlich sich ein Lächeln in ihre Miene. Genauso war es bei ihr damals auch gewesen, als die Eltern ihr zuhause in Türkheim diesen ältlichen Witwer zuführten, der nun ihr Mann war.

Schlettstadt, im Hexenturm am Niedertor

»Wir, Rupert von Simmern, durch die göttliche Barmherzigkeit Bischof der Stadt Straßburg und Richter in der Hoheit des Rates, in Beachtung, dass du nach sorgfältiger Prüfung der Werte des von uns gegen dich, Anna Guntherin von Kintzheim, und der Diözese Straßburg angestrengtem Prozesses in deinen Geständnissen verschieden bist und nichtsdestoweniger viele Indizien vorhanden sind, welche ausreichen, dich den peinlichen Verhören und Folterungen auszusetzen, erklären, urteilen und entscheiden wir deshalb, damit wir die Wahrheit aus deinem eigenem Mund bekommen werden und du die Ohren der Richter in der Folge nicht mehr mit Zwischenreden beleidigst, dass du am gegenwärtigen Tage, und zwar nach der Mittagstunde, den peinlichen Verhören und Folterungen unterworfen werden sollst. Gefällt wurde dieses Urteil durch das Gericht der Stadt Schlettstadt. Wenn die peinlich zu Verhörende in all ihren Geständnissen verschieden befunden wird und zugleich andere, zum peinlichen Verhör ausreichende Indizien vorhanden sind, werde beides in das Urteil gesetzt, wie wir …«

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