Die Judenmadonna

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»Warte nur, bis du groß bist und tüchtig Geld verdienst. Wenn du lange genug sparst, dann kannst du dir vielleicht auch mal so ein Prachttier kaufen.«

»Mein Vater ist nur Schuhmacher, Jude, der verdient nicht so viel Geld. Ich soll auch Schuhmacher werden. Da wird es wohl nichts damit.«

»Sag das nicht, Junge. Gib nie die Hoffnung auf bessere Zeiten auf.«

Golda warf einen Blick über die Schulter zurück nach dem Dach der Kirche. Sie hatte es eigentlich nicht tun wollen, und doch konnte sie es nicht lassen, sich nach der Figur umzudrehen, die dort auf dem Kirchendach saß, ein steinerner Jude mit spitzem Judenhut, mit gekreuzten Beinen und einem schweren Geldsack auf den Knien.

Als ob wir es nicht schon schwer genug hätten, dachte sie. Gleich hinter dem Tempel ging die Judengasse ab, mit dem Tor in seinen schweren Angeln, dessen Instandhaltung die knapp achtzig Menschen zählende Gemeinde von Rosheim selbst bezahlen musste. Aber es bot Schutz, dieses Tor, das nach Sonnenuntergang und an allen christlichen Feiertagen geschlossen blieb, und so hatte alles seine zwei Seiten.

Jakob klopfte an das Tor zum Hof des Pfandleihers, dessen roter Sandsteinbogen eingemeißelte hebräische Lettern trug:

»Baruchim haba’im«, las Golda, und Jakob nickte dazu.

»Wir wollen doch hoffen, dass wir hier heute willkommen sind.«

Seine Fingerspitzen berührten kurz die Mesusa, die Hülse mit Versen aus der Tora, die an jeder Tür angebracht war, hinter der fromme Juden wohnten, und dann seine Lippen. Diese Worte waren halb im Ernst, halb im Scherz gesprochen, denn beim letzten Besuch hatten Jakob und sein Schwager Samuel eine Auseinandersetzung gehabt, die bis tief in die Nacht angedauert hatte. Seine Frau Lea hatte dem Lärm schließlich schimpfend ein Ende bereitet: Sie und die Kinder und Mägde gedächten, wenigstens noch eine Weile zu schlafen, bevor der nächste Tag begann!

Auf Jakobs Klopfen hin trottete die Magd, ein Mädchen mit blauen Kulleraugen und ebenholzschwarzen Haaren, das auf den Namen Vögele hörte, über die Pflastersteine und schob den Riegel zurück. Lea kam die Außentreppe herab gerannt, die in das erste Stockwerk führte und fiel ihrem Bruder um den Hals.

»Jakob, Jakob, endlich! Wie schön, dich endlich mal wieder zu sehen! Wie geht es deiner Frau? Und hier unser Goldele, wie bist du groß geworden. So ein großes Mädchen. Komm lass dich mal ansehen! Was für ein hübsches Ding. Da muss der Schadchan wohl bald nach einem passenden Bräutigam für dich suchen, was?«

Lea legte den Kopf in den Nacken und rief zum Haus hinauf: »Schnell, Samuel, komm schnell! Sieh nur, wer da ist, endlich!«

Es dauerte einen Moment, bis die schwere Gestalt des Samuel von Speyer, des Pfandleihers von Rosheim, auf der Treppe erschien und gemächlich herab in den Hof zu steigen begann.

Die Torwächter hatten nicht gelogen, als sie Samuel als fett bezeichnet hatten. Schon sein Vater war es gewesen, und dass Lea eine so vorzügliche Köchin war, hatte zu seinem Zustand beigetragen. Er blieb vor dem Schwager stehen und betrachtete ihn einen Augenblick mit undurchdringlichem Mienenspiel, bevor sich der Mund in seinem dunklen Bart zu einem breiten Lächeln verzog und er sagte: »Komm, Schwagerleben, komm. Sei willkommen in meinem Haus. Es ist schön, dich wieder bei uns zu sehen!« Samuel öffnete die Arme und drückte den Schwager herzhaft an seine breite Brust. Jakob fühlte sich, als würde er in einem warmen Federbett versinken.

»Ich grüße dich, Samuel, und Friede sei mit dir.«

»Friede sei mit Euch, mein Guter. Oh, was für herrliche Schimmel hast du da! Ich werde sie und deine Esel in den Stall bringen lassen. Komisch genug werden sie da aussehen zwischen Moses’ altem Klepper, den er längst hätte schlachten lassen sollen, und den Eseln und Maultieren. Wie zwei Prinzen im Armenspital, so werden deine Prachtpferde aussehen.«

Samuel warf den Kopf in den Nacken und lachte mit blitzend weißen Zähnen. Jakob stimmte erleichtert ein. Da kam auch endlich Jael, Goldas Kusine, die Treppe hinab. Unter Freudenschreien fielen die Mädchen sich um den Hals. Sie war ein gutes Jahr älter als Golda und in der Zwischenzeit zu einem ziemlich drallen Mädchen mit kupferfarbenem, lockigem Haar herangewachsen.

»Puh, wie bist du heiß und staubig. Komm, komm ins Haus. Lass dir ein Bad bereiten.«

»Ein Bad könnte nicht schaden nach dem langen Weg«, seufzte sie erleichtert.

»War es schlimm auf der Straße? Habt ihr Zores gehabt?«

»Nein, gar nicht, es war alles ruhig. Morgen kann es schon anders werden, wenn alles zum Markt will.«

»Wie bist du zu beneiden«, seufzte Jael. »Ich war erst einmal dort, und das ist auch schon wieder fast zwei Jahre her. Ach, Straßburg! So eine riesige Stadt. Dass du so viel herumkommst − als Mädchen!«

Jael und Vögele verschwanden hinunter in den Hof. Vorsichtig, weil sie schon Kleid und Mieder abgelegt hatte, sah Golda in den Hof hinunter, zu dem aus grauen Feldsteinen gemauerten Brunnen mit seinem von Sandsteinsäulen getragenen Dach, unter dem die Winde hing. Daneben, unter einem großen Birnbaum, standen noch immer Vater und Onkel, schon jetzt in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Sie legte die Läden an und wartete im Hemd, als die Magd und Jael mit dem restlichen Badewasser herankeuchten.

Das Wasser in dem Zuber war so kalt, dass ihr einen Moment lang die Luft wegblieb. Sie stieß mit dem Fuß an etwas Kantiges und fand einen großen, graugrünen Klumpen. Verwundert schnupperte Golda an ihrem Fund: Olivenöl und Lorbeer. Seife, echte Seife von Aleppo war es. Der Onkel und die Tante lebten beinahe wie die Fürsten im Vergleich zu ihren bescheidenen Bergheimer Verhältnissen.

Als die Tante sie in die Stube rief, war schon der gesamte Hausstand versammelt: Außer Jael und dem Onkel noch die achtjährige Schwester Jaels, Chaya genannt, ebenso rothaarig wie die ältere Schwester, sowie der Stolz und Liebling der Familie, der dreijährige, flachsblonde David, der gerade mit seinem einnehmenden Kinderlachen laut krakeelend durch die Stube rannte, wo Jakob ihn mit offenen Armen auffing und brüllte: »Na komm, Bubele, komm zu deinem Onkel Jakob!«

Der Junge warf sich in Jakobs Arme und kreischte vor Vergnügen, als der Onkel ihn im Kreis herumwirbelte. Jael lachte und stellte Krüge mit Brunnenwasser und dem würzigen Weißen aus der Gegend von Oberehnheim auf den Tisch, der heute als besondere Gabe an die Gäste ausgeschenkt werden sollte, außerdem gab es feines Brot und eine Schüssel mit einem köstlich duftenden Voressen aus grünen Zwiebeln und Kalbfleisch. Lea war durchaus imstande, aus Abfall von Rinderherz, Milz und Lungen noch ein Mahl zu zaubern, das man notfalls einem König hätte vorsetzen können. Heute allerdings hatte sie edlere Zutaten zur Hand gehabt: Als zweiten Gang trug sie ein Gericht aus zarten Flussfischen mit Gemüse und Senf auf. Den Abschluss bildeten Mandelkuchen und in süßem Wein gekochte, gedörrte Birnen, die in dieser Gegend sehr beliebt waren und von jedem Hutzeln genannt wurden. Jakob langte, von Lea wieder und wieder genötigt, kräftig zu. Auch Golda aß mit Behagen die guten Dinge, die man ihnen zur Feier ihres Aufenthaltes aufgetischt hatte, denn solche Speisen gab es im Haus des Rosshändlers nur an hohen Feiertagen. Sie bemerkte erleichtert, dass ihr Vater das Mahl zu genießen schien, ohne, so wie beim letzten Mal, heimlich den Kopf zu schütteln über diese ungehörige Zurschaustellung der besseren Verhältnisse, in denen sein Schwager und dessen Familie nun einmal lebten.

Samuel wusste zu berichten, dass seine beiden jüngsten Brüder die Gemeinde von Speyer vor knapp einem Monat verlassen hatten und mit allem, was sie an Habseligkeiten besaßen, Hausrat, Tieren, Weibern und Kindern, auf dem Wege nach Krakau im polnischen Reich des Königs Kasimir waren.

»Ach, wenn man noch jünger wäre und besser zu Fuß, glaub mir Schwager, ich würde mich auch auf den Weg machen. Endlich heraus aus diesem verfluchten Loch!«, rief Samuel begeistert.

»Man hört, dass die Juden alle davon träumen, in den großen Städten zu wohnen«, antwortete Jakob skeptisch, »du weißt schon, Warschau, Krakau, Lublin. Und dann bleiben sie am Ende irgendwo in den riesigen Wäldern stecken, wo es Bären und Auerochsen gibt, und müssen ihre Dörfer mit hohen Palisaden schützen vor diesen Viechern. Und dazu noch vor den Wölfen.«

»Vor den Wölfen?«

»Ja, sicher, den Wölfen! Die hausen da nicht weit fort oben in den Bergen, so wie hier, nein, die treiben sich in Rudeln in den Wäldern und auf den Straßen herum.«

»Nun, und wenn schon. Dann gibt es da eben mehr Wölfe. Wenn das die einzige Sorge dort ist, die ein Jude hat, dann hat er schon viel gewonnen.«

Eine Weile war es still am Tisch.

Dann unterdrückte Jakob behaglich einen Rülpser und entgegnete ruhig: »Aber das ist nun mal nicht die einzige Sorge, Schwagerleben. Die Winter zum Beispiel, die sollen lang und streng sein. Und sehr, sehr kalt. Wein kann man deshalb auch nicht anbauen. Aber die Sommer sollen dennoch so heiß sein, dass die Ernten leicht verdorren. So ein Leben in einem jüdischen Dorf, da oben im polnischen Urwald, das wird auch nicht so leicht sein.«

Die Tante drehte sich unruhig nach ihrer Tochter um und rief, mit einem Kopfnicken in Goldas Richtung: »He, ihr Mädchen, bringt doch eben Chaya und David zu Bett. Tut mir die Liebe, ja?«

Folgsam standen die beiden Jungfrauen auf. Und während der kleine David sich mit dem Daumen im Mund schon satt und müde an die üppige Brust seiner Schwester schmiegte, protestierte Chaya, als die Kusine sie vom Tisch zu ziehen begann.

Im Handumdrehen lagen die Kinder Seite an Seite in ihrem Bettchen, und auch wenn Chaya ein paar Mal beteuerte, gar nicht müde zu sein, wobei sie schon zwei-, dreimal heftig gähnte, nützte ihr der Protest wenig. Als die Mädchen die Tür zuzogen, hörten sie schon die ruhigen Atemzüge der beiden Kinder.

 

»Wie gern hätte ich auch so eine kleine Schwester«, flüsterte Golda. »Du musst so glücklich sein!«

»Das bin ich doch auch«, entgegnete Jael. »Auch wenn sie und David manchmal furchtbar anstrengend sind. Und Schmutz und Unordnung machen sie, und um ihre Wäsche muss ich mich auch immer allein kümmern. Chaya hat ihren eigenen Kopf, glaub mir, einen ordentlichen Dickkopf hat die Kleine schon. Aber wie langweilig wäre es sonst hier. Ich hüte sie trotzdem gern, und wenn wir spielen, sind sie immer so lustig. Um sich krank zu lachen! Was rennst du denn nur so?«

Denn Golda hatte es sichtlich eilig, wieder in die Stube zu kommen.

»Mal sehen, wie lange es diesmal dauert, bis sie sich wieder streiten«, wisperte sie.

»Vielleicht haben wir es schon verpasst.«

»Das haben wir wohl kaum. Wenn sie sich streiten, dann hört es nämlich die ganze Gasse.«

Rot vor unterdrücktem Gelächter schoben sich die Mädchen durch die Tür.

»Auf dem Land hier geht es uns doch noch recht ordentlich«, hörten sie Jakob gerade sagen, »gut, wir sind nicht gerade beliebt, aber andererseits kräht auch kein Hahn danach, wenn ich mit Gottfried aus der Mehlgasse mal einen Humpen Bier trinke oder mein Goldele mit ihrem Klärchen oder Rahel mit den Nachbarinnen am Brunnen schwatzt. Und wir in Bergheim haben sogar unsere eigenen Weingärten und Obstwiesen. Wo gibt es so was sonst noch für Juden?«

»Und damit gibst du dich zufrieden?«, schimpfte Samuel dazwischen.

Golda sah die Tante an und seufzte. Aber Leas Blick haftete unruhig an ihrem aufgebrachten Gatten, während Jakob weitersprach: »Ja, Samuel, damit bin ich zufrieden. Es könnte erheblich schlechter sein.«

Samuel griff nach seinem Becher, trank einen gewaltigen Schluck und entgegnete: »Nichts ist doch mehr so, wie es mal war. Es hat früher so viele gelehrte Juden gegeben, weißt du. Ärzte, Philosophen, große Rabbiner. Den Raschi von Troyes, Rabbi Mosche Ben Maimon, den Rokeach von Speyer, gepriesen sei er. In Mainz, während der Pest, da waren die Juden sogar noch wehrhaft, die Tapfersten von allen. Es haben sich alle heimlich bewaffnet. Zweihundert Judenschläger haben sie niedergemacht. Die Juden sind schon immer ein tapferes Volk gewesen. Denk nur an Juda Makkabi und Bar Kochba!«

Jakob senkte verlegen den Kopf und schwieg.

Samuel fing von neuem an: »Nein, ich sage dir, Krakau, da werden große Geschäfte gemacht, da blüht der Handel, eine Universität haben sie dort, älter als die von Basel oder Freiburg …«

»Nun, und was nützt es dir? Einen Juden kann man nicht studieren lassen, außer in Padua«, entgegnete Jakob.

Samuel lehnte sich erschöpft zurück und wischte sich mit seinem Mundtuch über sein glänzendes Gesicht. Einen Moment war es ganz still in der Stube. Dann beugte er sich vor und sagte leise: »Ich will dir mal was sagen, Schwagerleben. Solange wir hier umherziehen oder nicht, wir Juden werden nie sicher leben in Aschkenas. Denk an meine Worte. Niemals. Man wird uns immer wieder an den Kragen gehen, mal mehr, mal weniger. Sicher werden wir erst sein, wenn wir wieder in unserem eigenen Land leben.«

»In unserem eigenen Land?«, fragte Jakob belustigt, »kannst du mir verraten, wo das sein soll?«

Samuel nahm einen tiefen Zug Wein und sagte bestimmt: »Das Land, aus dem man uns immer wieder vertrieben hat, unsere Männer versklavt, unsere Frauen geschändet und unsere Kinder ermordet. Das Land, in dem der Tempel Salomons stand, und den die Juden wieder errichten werden zu Ehren des Beherrschers der Welt.«

Jakob brach in schallendes Gelächter aus: »Du hast zu viel getrunken, Schwager!«

Samuel schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Jakob. Ich weiß, wovon ich rede. Nicht umsonst beten wir an jedem Rosch Ha-Schana darum, das nächste Neujahr in Yeruschalayim feiern zu dürfen.«

Seine Frau ließ die Schultern fallen, die sie schon seit einer Weile angespannt emporgezogen hatte, und erhob sich, um dem Bruder auf der anderen Seite des Tisches noch Wein nachzuschenken. Aber Jakob drehte seinen Becher um und hob die Hand: »Genug, Schwester. Hab vielen Dank für das Mahl. Euer Wein und die vielen Köstlichkeiten hier haben schon des Guten genug getan. Wenn ich noch mehr trinke, schlafe ich unruhig, und morgen wird es ein harter Tag für uns. Und heiß, heiß wird’s obendrein werden. Golda, geh jetzt zu Bett. Wir brechen morgen früh auf.«

Jakob erhob sich ein wenig abrupt. Samuel schritt majestätisch um die Tafel herum und klopfte dem Schwager mit seinen mächtigen Pratzen auf die Schultern.

»Verzeih mir, Schwager. Ich habe dich ermüdet. So gern ich dich sehe und in meinem Hause beherberge, aber in manchen Dingen sind wir eben wie Katz und Hund.«

Golda konnte nicht einschlafen. Zu viel und zu spät gegessen hatte sie, und die Worte des Onkels gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Gab es wirklich ein Land, wo die Juden frei und ohne Zwang leben durften? War so etwas auf der Welt möglich? Ihr kleines Dasein in Bergheim schien ihr plötzlich so zerbrechlich wie eine Eierschale zu sein. Was, wenn man die Juden auch dort eines Tages vertrieb, so wie es der Onkel gesagt hatte, auch aus Bergheim?

»Ach, Unfug!«, beruhigte sie sich endlich selbst, »die Juden lebten schon vor den Christen hier. Wir werden hier auch weiterhin leben.«

Dies war der Gedanke, mit dem sie einschlief.

Als Jael sie am anderen Morgen weckte, platzte Golda mit lautem Gelächter heraus, nur um fast im selben Moment verblüfft innezuhalten. Sie trug eine Haube, so wie jede Frau, das war nicht anders zu erwarten. Aber was für eine Haube – eine, die auf den ersten Blick wie eine Narrenkappe aussah, aber auf den zweiten überraschend kleidsam schien.

»Ja, lach mich nur aus!«, sagte Jael, »aber so bindet man die Hauben jetzt in Straßburg. Du wirst sehen, kaum ein Mädchen läuft dort anders herum. Und da lassen sie sogar ihr Haar ein wenig sehen … so … siehst du…«, und sie zupfte ein paar Strähnen ihres kupferfarbenen Haares unter dem Tuch hervor, dass sie wie unabsichtlich in ihr Gesicht fielen.

»Das sieht hübsch aus!«, rief Golda begeistert.

Jael schob die Strähnen mit raschen Bewegungen wieder an Ort und Stelle.

»Ach, warum tust du das?«, fragte Golda.

»Nun, weil der Vater nicht erlaubt, dass ich mich so auf den Gassen zeige.«

»Du musst mir zeigen, wie das geht!«

»Aber gern. Wenn’s dir so viel Freude macht. Wo ist dein Tuch?«

Golda gab ihr das weiße Haubentuch. Jael faltete es zum Dreieck und schlug es schnell und geschickt um Goldas Kopf, so dass ein Zipfel links, ein Zipfel rechts knapp über den Schultern hing. Sie nahm eine Nadel und steckte das Tuch in der Mitte über ihrer Stirn zusammen.

»Schön. Wie hübsch das aussieht!«, rief Golda aus und drehte ihr Gesicht hin und her.

»Hält das auch den ganzen Tag über?«

»Natürlich hält das. Wirf nur den Kopf nicht zurück und wild herum und bücke dich nicht zu tief, dann wird es schon gehen.«

Jakob warf beim Abschied von Schwester und Schwager nur einen schiefen Blick auf den Kopf seiner Tochter. Als sie die Mauern von Rosheim hinter sich gelassen hatten, fragte er plötzlich: »Sag mal, was ist das denn? Wie siehst du aus? Denkst du, ich ziehe mit einer Tochter umher, die sich wie eine Närrin kleidet? Setze sofort das Ding wieder richtig auf, wie zu Hause!«

»Aber Vater, so tragen die Straßburgerinnen jetzt ihre Hauben. Das hat mir Jael gesagt, und sie muss es wissen. Du sagst doch immer, eine Jüdin soll möglichst nicht auffallen in der Menge.« Schließlich musste Jakob lachen. »Du hast Recht, mein Kind. Möge der Himmel mir antworten, warum mir kein Sohn geboren wurde, ich aber dafür mit so einer klugen Tochter gesegnet bin!«

Bald gab es keine Möglichkeit mehr, den Weg nach Straßburg zu verfehlen. Von weitem ragte der hohe Turm des Münsters schwarz in den Frühlingshimmel wie ein drohend erhobener Zeigefinger. Vorbei an den in der Ebene gelegenen Dörfchen, die sich wie Perlen an der Schnur die Straße hinzogen, ging es auf der Landstraße, die nach der Stadt hin und mit steigender Sonne immer voller von Reisenden zu Fuß und zu Pferde, auf Eseln und Maultieren wurde, bis sie bei Lingelsheim tatsächlich die allmählich eintrocknenden Schlammmassen vorfanden, die Simeon von Rufach geschildert hatte. Sie mussten einen kleinen Umweg querfeldein einschlagen und dort kurz beiseite springen, als ein Zug von Edlen in scharfem Trab vorbeisprengte.

Jakob musterte mit Kennermiene und leuchtenden Augen die schlanken, braunen Wallache, deren Felle glänzten wie flüssiger Honig und die die herrlichsten Geschirre trugen, während Golda sich nicht satt sehen konnte an den schweren Seidenroben der Frauen, ihrem Schmuck und den juwelenbesetzten, mit bunt gefärbten Reiherfedern geschmückten Haarnetzen.

Um das Judentor zu erreichen, mussten sie einen Umweg, der sie beinahe eine halbe Stunde kostete, durch die Krautenau über Obstgärten und Kohlfelder machen, die riesige, mit spitzen Türmen bewehrte, von hohen Mauern mit kreuzförmigen Wehrschlitzen umgebene Stadt zu ihrer Linken. Schon sahen sie von nahem die Dächer mit den vielen Reihen der Dachgauben, die hohen Giebel der Straßburger Häuser, die Türme der Christentempel und der Klöster, in denen sich christliche Männer und Frauen einem Leben in Gebet und gotteslästerlicher Keuschheit hingaben, unbegreiflich für einen Juden. Hieß es nicht in der Tora, seid fruchtbar und mehret Euch und füllet die Erde?

Der Viehhandel auf dem Rossmarkt hatte längst begonnen, als sie endlich auf das Judentor zuritten. Sie stiegen von ihren Eseln und führten sie an den Zügeln hinter sich her. Über dem Vortor hingen hoch oben an Seilen seltsame Brocken, deren Herkunft schwer zu erkennen gewesen wäre, wäre da nicht das gierige Krächzen der Raben gewesen: ein Gevierteilter. Obwohl Golda nicht hinsehen wollte zu dem Gräuel, tat sie es schließlich doch und sah aus dem Augenwinkel noch deutlich, dass der Hingerichtete männlichen Geschlechts gewesen sein musste.

Jakob zahlte den Leibzoll für sich und Golda, alsdann je acht Schillinge für jedes Pferd, das Doppelte, was man einem Christen abverlangt hätte.

»Lass dir das als Warnung dienen. Jüdische Rosstäuscher, die hier ehrbare christliche Bürger übers Ohr zu hauen wagen, werden scharf gerichtet!«, riefen sie und wiesen grinsend hoch zu dem Leichnam.

Jakob behandelte sie so, wie es sich in seiner Erfahrung stets bewährt hatte: mit einer Mischung aus Humor und Gleichmut.

»Jaja«, sinnierte Jakob, als sie sich außer Hörweite der Brücke über die Ill näherten, die man den Judestej nannte und die für ihresgleichen den einzigen Weg hinein in die Stadt bedeutete, »Gojim naches! Wenn sie wüssten, dass unsere Parnassim denjenigen Juden aufs strengste bestrafen, der es wagt, einen Christen zu betrügen!« Er beugte sich zum Wasser hinab und spuckte wütend in den Fluss.

Unten im seichten, rasch dahinströmenden Wasser standen halbnackte Frauen mit hoch geschürzten Röcken und hieben klatschend ihre Wäsche auf die Steine.

»Schamlos, sowas«, murmelte Jakob, »wenn ich dich jemals so unter den Leuten sehen würde, ich schlüge dich tot!«

Golda versuchte, ihrem Vater zuzulächeln, aber es stieg eine zarte Röte in ihr Gesicht, so sehr sie sich auch bemühte, sie zu unterdrücken. Jakob blieb abrupt stehen und rief: »Was wirst du jetzt wieder so rot, verflucht noch mal? Du hast doch irgendwas?«

»Nein, gar nichts, Vater!«

»Los, los, raus damit, du führst doch was im Schilde. Ich kenne dich zu gut, Mejdele!«

»Vater, was denkst du nur? So würde ich mich doch niemals zeigen, mit nackten Schenkeln im Fluss.«

»Das will ich dir auch geraten haben«, brummte Jakob.

Sie war froh, dass ihr Gesicht wieder abgekühlt war. Denn sie führte wirklich etwas im Schilde. Aber lieber würde sie auf der Stelle vom Blitz erschlagen werden, als dass sie dem Vater etwas verraten hätte.

Es war bereits das dritte Mal, dass Golda mit ihm diese Stadt besuchte. Sie wusste durchaus, dass es noch größere Städte gab, Paris und Rom, Prag und Byzanz, aber wie konnten diese wirklich größer sein? Immer wieder war ihr so, als sei die Luft hier dichter, die Sonne dunkler, der Himmel ferner. Über dicken, steinernen Fundamenten, wie für die Ewigkeit gebaut, ragten die Häuser empor, dicht an dicht und Stockwerk über Stockwerk, eines immer noch weiter in die Gasse ragend als das andere, so dass die Leute unten auf der Straße kaum noch den Himmel sahen. Und schmutzig war es, ja, an regnerischen Tagen watete man durch Schlamm und Unrat, quiekende Schweine und Scharen von Federvieh liefen überall herum und verbreiteten Mist und Gestank. In Bergheim hielt man dagegen auf strenge Sauberkeit, schon um sich der Ratten zu erwehren, und jeder Bürger wurde dazu angehalten, das Gassenstück vor der eigenen Haustür täglich von Mist und Abfall zu befreien.

 

Am anderen Ufer der Ill hätten sie nun den kürzesten Weg zum Rossmarkt einschlagen können, indem sie schnell durch die Judengasse liefen. Aber das tat kein Jude. Es gab keinen einzigen Juden mehr in dieser Gasse, denn dort, wo einmal die Schul, die Synagoge, gestanden hatte, hatte man während der Pest ein Haus aus Holz errichtet, um dort tagelang tausende von Juden zu verbrennen. Abergläubische munkelten sogar, dass am St. Veltinstag, an dem dies geschehen war, an diesem Ort, den man noch immer die Brandgasse nannte, um Mitternacht manches Mal Schreie der geschundenen Seelen zu hören sein sollten.

So liefen sie am Ufer entlang bis zum Rossmarkt. Der riesige Platz beim Klarissenkloster war erfüllt vom Wiehern der Pferde, Muhen der Kühe, Blöken der Lämmer, Gänsegeschnatter und Entengequak, die tierischen Laute noch übertönt vom Geschrei der Händler.

Es stank infernalisch nach Mist, und ein paar Betrunkene lieferten sich bereits ein Maulgefecht, nicht, ohne von der johlenden Menge zu Handgreiflichkeiten angefeuert zu werden.

»Wird Zeit, dass du von hier fortkommst, Golda. Los, gib mir die Zügel.«

Jakob wusste, dass es auf den Viehmärkten in den großen Städten nicht immer fein zuging.

»Und bleib nicht zu lange weg, hörst du? Sonst komm ich dich holen, und dann kannst du was erleben!«

Zwei Gassen weiter, als sie das Getriebe des Rossmarktes hinter sich gelassen hatte, fand sie einen Durchschlupf zwischen zwei Häusern, wo kein Mensch mehr in Sicht war. Sie streifte mit einem Ruck den Mantel mit dem gelben Judenfleck von den Schultern und schlug ihn zusammen. Eine Magd kam plötzlich auf hölzernen Trippen laut die Gasse hinuntergeklappert, der lange, weiße Hals einer toten Gans baumelte unter ihrem Arm hervor. Aber sie hastete vorbei, ohne das Mädchen im Durchgang zu bemerken. Golda nahm ihren ganzen Mut zusammen und schob die Haube ein wenig aus der Stirn, dass der Haaransatz zu sehen war. Dann zupfte sie links und rechts ein paar Strähnen hervor, dass sie wie unabsichtlich in ihr erhitztes Gesicht fielen. Trunken von der eigenen Kühnheit löste sie noch das oberste Knöpfchen ihres engen Mieders, das ihre gerade aufgeschossenen Brüste stramm umschloss.

Nur kurz, kaum eine halbe Stunde, wollte Golda einmal ein Mädchen wie jedes andere sein. Danach, so schwor sie, würde sie so etwas nie wieder tun. Gott würde ihr schon verzeihen.

Und wirklich, als sie weiterging, glaubte sie zu träumen: Kein Bürger, kein Bauer spuckte vor ihr aus, kein dreister Gassenjunge versuchte, mit seinen schmutzigen Händen in ihre Schürzen zu langen. Vor niemandem musste sie die Augen niederschlagen, sie versuchte nicht mehr, sich unsichtbar zu machen, so wie sonst immer.

Bald war sie vor dem riesigen Münster angelangt, wo die vielen Stände des Marktes aufgebaut waren. Der erdig-würzige Duft des am frühen Morgen aus den Gärten geschnittenen Grünzeugs mischte sich mit dem milchigen der hoch aufgestapelten, goldenen, weißen und marmorierten Käselaibe, mit dem appetitanregenden Gerüchen bei den Zuckerbäckern und den Brotschrangen. Zum ersten Mal in ihrem Leben buhlten die Händler auch um ihre Gunst als Kundin, anstatt sie nur kurz und widerwillig zu bedienen und ihr dann den doppelten und dreifachen Preis für die Ware abzunehmen.

Eine Bäuerin, von den vielen Stunden unter freiem Himmel fast so braun wie eine Mohrin, bot ihr mit einem zahnlosen Lächeln eine Schote frischer Zuckererbsen an, ein Fischer ließ sie von seinen geräucherten Forellen kosten, ein junger Christenbursche mit blonden Locken und munteren blauen Augen schenkte ihr sogar eine getrocknete Dattel, die fast so schmeckte wie diese Himmelsspeise, die sich Marzipan nannte und die Golda nur ein einziges Mal in ihrem Leben auf einer großen Hochzeit in Hagenau gekostet hatte. Als sie, überwältigt von all der ungewohnten Güte um sie herum, ein paar Dankesworte stammelte, zwinkerte der Händler ihr zu und rief sogar: »Wer würde dir nicht gern eine kleine Freude machen?«

Endlich stand sie auch vor dem großen Tisch eines Kramhändlers, wo sie nicht lange suchen musste, um das zu finden, was Rahel ihr aufgetragen hatte: einen hübschen Fingerhut aus getriebenem Silber, einen breit gezahnten, kräftigen Hornkamm und ein halbes Dutzend Docken bunten Seidengarns.

»Was meint Ihr, Jungfer, wie prachtvoll Euch die Stickerei mit diesen herrlichen Farben gelingen wird. Seht nur dieses Rot, wie es leuchtet. Es wird sich nicht herauswaschen, nicht verblassen oder verfärben, da könnt Ihr beruhigt sein. Und der Fingerhut ist gerade gut genug für solche schlanken, zarten Fingerchen. Weil Ihr es seid, nur sechs Pfennige.«

Mit einem zufriedenen Lächeln steckte sie die Waren in ihren Beutel und sah sich seufzend um.

Golda mochte kaum den Blick abwenden von den mit aufwendigem Schnitzwerk verzierten Häusern, deren Fenster wie durch Zauberhand aus zartbunten, apfelgroßen Glasscheiben zusammengefügt waren, kunstvoll in Blei gefasst, und sie funkelten in der Sonne wie Edelsteine.

Und erst die Bewohner! Es war ein warmer Maientag, aber dennoch liefen manche Bürger in pelzverbrämten Mänteln mit goldgesäumten, geschlitzten Ärmeln umher, so lang, dass sie fast den Boden streiften, mit den sonderbarsten bunten Hüten auf dem Kopf, und junge Männer in Beinkleidern nach der neuesten Mode in zwei Farben, das eine rot, das andere grün, und so eng, dass sie auf die schamloseste Art und Weise ihre Männlichkeit zur Schau stellten. An den Füßen trug mancher Schnabelschuhe von solcher Länge, dass es unbegreiflich schien, wie man damit gehen konnte. Nein, dachte Golda, so bunt traten ja draußen auf dem Land nur die Gaukler, Spielleute und Narren in Erscheinung, wenn sie im Spätsommer zum Pfeifertag nach Rappoltsweiler zogen!

Unversehens trat sie zwischen den eng stehenden Ständen auf die Schmalseite des Marktes heraus, wo sich längsseits des Christentempels das Bettelvolk herumtrieb. Entsetzlich Entstellte sah man, ohne Füße und Beine, die sich qualvoll auf hölzerne Böckchen stützten und den Vorübergehenden die offene Hand hinhielten, Blinde, von mageren Kindern geführt, laut jammernde Greise, denen der Speichel das Kinn hinunterlief, so lungerten sie vor den Türen der Christentempel und der Klöster, um dort einmal am Tag ihre dünne Armensuppe in Empfang zu nehmen. Am schlimmsten war der Anblick der jüdischen Frauen, die zur Plage der Armut noch den Hohn der Christen ertragen mussten. Es sollte hier schon geschehen sein, dass die Menge achtlos an Jüdinnen vorüberging, die gestorben waren, und deren Brustkind noch in den Armen der Mutter hing und vor Hunger schrie.

Von dort oben blasen sie ihr Grüselhorn, damit die Juden abends ihre schöne Stadt verlassen, dachte Golda, als ihr Blick dem hohen Turm des Münsters folgte. Es sollte obendrein wie ein Schofar geformt sein, wie das Widderhorn, das der Rabbiner an Neujahr blies.

Sie war noch nie auf dieser Seite der Liebfrauenkirche gewesen. Dort war ein Portal, mit der Fülle von Figuren geschmückt, mit der die Christen ihre Tempel zu überladen pflegten. Von G’tt durfte sich der Mensch kein Abbild machen, es war von Übel für Juden, diese Figuren zu betrachten, dennoch blieb Goldas Blick an zwei Figuren hängen, zwei schlanken, hochgewachsenen Mädchengestalten aus mattrotem Sandstein.