Der NSU Prozess

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Am 6. Mai 2013 beginnt in München der größte Strafprozess in Deutschland seit der Wiedervereinigung. Am 11. Juli 2018 wird das Urteil gesprochen. Eine Frau und vier Männer werden beschuldigt, die Terrororganisation NSU gegründet oder unterstützt zu haben – eine rechtsradikale Gruppe, die zehn Menschen ermordet, drei Sprengstoffanschläge verübt einen Brandstiftung und 15 Raubüberfälle begangen haben soll. Das Verfahren wird mehr als fünf Jahre dauern, mehr als 600 Zeugen und Sachverständige kommen zu Wort, über 60 Anwälte vertreten die fünf Angeklagten und 93 Nebenkläger an 437 Prozesstagen.

Annette Ramelsberger, Wiebke Ramm, Tanjev Schultz und Rainer Stadler gehören zu den wenigen Journalisten, die Zutritt zum Gerichtssaal hatten und die Verhandlung vom ersten Tag an lückenlos verfolgt haben. Aus ihren täglichen Mitschriften ist ein umfangreiches Protokoll entstanden, das in diesen fünf Büchern dokumentiert wird: Ein Stück deutscher Geschichte.

Es handelt sich um Originaltöne aus der Verhandlung, die gekürzt, aber sonst unverändert wiedergegeben werden. Durch die Stimmen des Richters, der Zeugen, der Sachverständigen, der Anwälte und der Angeklagten entsteht ein Gesamtbild von zehn Jahren Terror, dem nicht endenden Schmerz der Opfer, dem eiskalten Vorgehen der Täter, dem Dilettantismus der Ermittler und der schwierigen Suche nach der Wahrheit, die doch so offensichtlich zu sein scheint.

Über die Autoren

Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der Süddeutschen Zeitung, hat die Deutsche Journalistenschule besucht und Jura, Politik und Journalistik studiert. Sie war Redakteurin des Spiegel und der Berliner Zeitung in München und Berlin und DDR-Korrespondentin der Nachrichtenagentur AP zur Zeit des Mauerfalls. Seit 1997 ist sie bei der Süddeutschen Zeitung als Ressortleiterin und politische Reporterin. In der Berliner Parlamentsredaktion war sie jahrelang die Expertin für politischen Extremismus und Terrorismus.

Wiebke Ramm, geboren 1976 in Hamburg, hat Psychologie in Berlin mit Schwerpunkt Rechtspsychologie am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité studiert. Nach Diplom und Volontariat arbeitete sie mehrere Jahre als Redakteurin. Seit 2011 schreibt sie als freie Journalistin über bedeutsame Strafprozesse in ganz Deutschland. Über den NSU-Prozess berichtete sie unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin und Spiegel Online.

Tanjev Schultz, geb. 1974, ist Professor für Journalismus an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor war er innenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Für seine journalistischen Arbeiten ist er mit etlichen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Goethe-Medienpreis und dem Universitas-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem über Bildungspolitik und über die Plagiatsaffäre des Politikers Karl-Theodor zu Guttenberg.

Rainer Stadler, geboren 1967, studierte Informatik und absolvierte die Journalistenschule in München. Er arbeitete als freier Journalist und Auslandskorrespondent (Los Angeles) und schrieb u.a. für die Süddeutsche Zeitung, den Focus und den Spiegel. Seit 2001 ist er Redakteur beim SZ-Magazin.

Ramelsberger | Ramm | Schultz | Stadler

DER NSU-PROZESS

DAS PROTOKOLL

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

Vorwort

Der NSU-Prozess. Das Protokoll

Beweisaufnahme Tag 1–374

Plädoyers und Urteil Tag 375–438

Materialien

DER NSU-PROZESS

Das Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund ist einer der wichtigsten Prozesse der Nachkriegsgeschichte und gleichzeitig eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft. Die Protokolle sind ein historisches Dokument.

Der Prozess gegen die rechtsradikale Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) war einer der größten und längsten Prozesse der Nachkriegszeit. Doch das ist nicht der Grund, warum er nun in einer Reihe mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, dem Auschwitz-Prozess und den RAF-Verfahren steht, die alle Abgründe einer Epoche aufgearbeitet haben. Nicht seine Länge von 438 Verhandlungstagen war dafür ausschlaggebend und auch nicht die bloßen Zahlen: fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, rund 90 Nebenkläger und mehr als 600 Zeugen. Das, was das Verfahren von München zu einem wirklich historischen Prozess machte, war etwas anderes.

Dieser Prozess war ein Lehrstück deutscher Geschichte. Eine Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft, die gefährliche Sedimente unter der Oberfläche wirtschaftlich blühender Landschaften und einer scheinbar gefestigten Demokratie zutage förderte: brave Bürger, die im Keller unterm Hitlerbild sitzen; fleißige Angestellte, die nichts dabei finden, ihren Pass und ihren Führerschein untergetauchten Neonazis zu überlassen; eifrige Verfassungsschützer, die ihre rechtsextremistischen V-Männer mit Steuergeld unterstützen, ohne wirklich Wichtiges zu erfahren; Polizisten, die die Witwe eines türkischen Opfers anlogen und sagten, ihr toter Mann habe eine deutsche Geliebte gehabt – nur um ihr angeblich verstocktes Schweigen zu brechen. Vor Gericht traten dann die wirklich Verstockten auf: eine Phalanx schweigender Rechtsradikaler, die auch durch zehn heimtückische Morde nicht zu erschüttern war.

Der NSU-Prozess sollte zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle klären und die individuelle Schuld der fünf Angeklagten. Doch er gab auch den Blick frei in die Seele von Demokratiefeinden, legte die Fehler des deutsch-deutschen Zusammenwachsens bloß und sezierte die Verwerfungen nach dem 9. November 1989. Wie unter einem Brennglas zeigte er die dunklen Seiten von fast 30 Jahren Nachwendezeit.

Als der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) sich im November 2011 selbst enttarnte, da blickte die scheinbar wohlgeordnete Republik plötzlich in einen Abgrund, den sie nicht für möglich gehalten hatte. Über Nacht wurde klar, dass eine bis dahin unbekannte rechtsradikale Terrorzelle für viele Verbrechen im Land verantwortlich war, die seit dem Jahr 2000 für Aufsehen gesorgt hatten, aber nicht aufgeklärt werden konnten: für die Morde an acht Männern mit türkischen und an einem mit griechischen Wurzeln in München, Nürnberg, Hamburg, Rostock, Dortmund und Kassel, auch für den ungeklärten Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße und einen Anschlag auf einen Lebensmittelladen in der Kölner Probsteigasse, zuletzt für den Mord an einer Polizistin in Heilbronn. Für alle diese Taten hatte die Terrorzelle NSU die Verantwortung übernommen – mit einem Bekennervideo. Dieses über Jahre hinweg immer wieder überarbeitete Video zeigte die toten und sterbenden Opfer des NSU aus nächster Nähe, die Trickfilmfigur Paulchen Panther machte dazu menschenverachtende Witze. Die Republik war entsetzt.

Bundespräsident Christian Wulff traf sich mit den Opferfamilien, sein Nachfolger Joachim Gauck lud sie in seinen Amtssitz Bellevue. Arbeitgeber und Gewerkschaften verabredeten eine Schweigeminute in den Betrieben. Bundeskanzlerin Angela Merkel lud die Angehörigen der Ermordeten zur Trauerfeier nach Berlin. Dort bat sie um Verzeihung dafür, dass die Terrorzelle so lange nicht gefunden worden war. Die Morde des NSU seien ein Anschlag auf die Grundwerte Deutschlands, sie seien »ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land.«

Und Merkel verpflichtete sich und die Regierung: »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Nach Ende des Prozesses bleibt das Fazit: Das ist nicht gelungen.

Politische Konsequenzen

Selten hat ein Verbrechen das Land so aufgewühlt wie die Mordserie des NSU. Denn der NSU stellte auch alle Gewissheiten der Sicherheitsbehörden infrage. Die hatten jahrelang die Überzeugung zur Schau gestellt, dass es in Deutschland keinen Terror von rechts gibt. Die Taten, so erklärten sie wiederholt, mussten auf die türkische Mafia zurückgehen oder auf Revierkämpfe im Rauschgiftmilieu. Die Medien nannten die Morde an den neun Migranten auch abfällig »Dönermorde« – allein dieses Wort zeigte schon, wer im Verdacht stand. Die immer drängenderen Fragen der Angehörigen, ihre Hinweise, dass es sich bei dem Serienmörder um einen »Türkenhasser« handeln musste, wurden nicht ernst genommen.

Der Verfassungsschutz hatte Fragen nach der Existenz einer braunen RAF (der linksextremen Rote Armee Fraktion, die in den 70er, 80er und 90er Jahren mordete) stets abgetan: Zu dumm seien die Rechten, zu sehr seien sie von Staatsspitzeln umstellt, als dass sich Terrorzellen unbemerkt entwickeln könnten. Zu sehr fehle es ihnen auch an einer intelligenten Führungsfigur. Dabei brauchten die Radikalen gar keinen Führer mehr. In der rechten Szene kursierte längst das Buch »Die Turner Tagebücher« des amerikanischen Rechtsradikalen William L. Pierce, wonach es zu einem Kampf der Rassen gegeneinander kommen werde und die Weißen Terrorzellen bilden müssten, um »leaderless resistance« (führerlosen Widerstand) zu leisten – aber das hatten die Verfassungsschützer nicht ernst genommen. Auch auf den Computern etlicher Angeklagter im NSU-Prozess wurden die »Turner Tagebücher« gefunden.

 

Auf die Selbstenttarnung des NSU folgte in den Monaten darauf der Rücktritt des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes und der Präsidenten der Landesverfassungsschutzämter von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin. Fast ein Dutzend Untersuchungsausschüsse machten sich an die Arbeit, Behördenleiter wurden vernommen, Verantwortlichkeiten hinterfragt, Beamte ins Kreuzverhör genommen. Entdeckt wurden: lähmende Bürokratie, Dienst nach Vorschrift, ein Gegeneinander in den Ämtern, Abschottung der Dienste, gravierende Fehleinschätzungen. Und der nach Aufklärung drängende Verdacht, dass bei manchem Verfassungsschützer auch das rechte Auge zugedrückt wurde. So erklärte zum Beispiel ein Verfassungsschützer aus Thüringen noch vor Gericht, er habe seinen Spitzel »gut im Griff« gehabt – er meinte jenen V-Mann, der einen Großteil seines Honorars von rund 200 000 Mark an seine Neonazi-Freunde weitergeleitet hatte. Und ein Beamter des Bundesverfassungsschutzes schredderte noch nach der Enttarnung des NSU geheime Akten zur rechten Szene in Thüringen. Er wusste, wie viele V-Leute sein Dienst dort hatte und wollte, so sagte er, unbequeme Nachfragen dazu verhindern, warum die Geheimdienste dennoch nichts über den NSU wussten. Der Mann wurde in eine andere Behörde versetzt, ein Verfahren gegen ihn nach einer Geldzahlung eingestellt.

Am Ende des zweiten Untersuchungsausschusses des Bundestags im Sommer 2017 waren sich viele Prozessbeobachter sicher: Polizei und Verfassungsschutz hätten die Morde verhindern können, wenn sie die Hinweise ihrer V-Leute ernst genommen und schnell eingegriffen hätten.

Viele Stunden parlamentarischer Kontrollarbeit, Tausende Seiten Papier. Aber nirgendwo gelang die Tiefenbohrung in die deutsche Gesellschaft so präzise wie im Gerichtssaal A 101 des Oberlandesgerichts München. Nirgendwo kam man den Tätern, ihren Helfern, ihren Sympathisanten und ihren Motiven so nah wie hier.

Die Angeklagten

Auf der Anklagebank saßen eine Frau und vier Männer: Beate Zschäpe (geboren 1975), Ralf Wohlleben (1975), Carsten Schultze (1980), Holger Gerlach (1974) und André Eminger (1979). Die Bundesanwaltschaft warf den Männern vor, Waffen, Wohnungen, Geld oder Ausweise für die Terrorzelle besorgt zu haben. Die Anklage gegen Beate Zschäpe lautete, sie sei gleichberechtigtes Mitglied des NSU gewesen, und habe – obwohl sie wohl an keinem Tatort war – die Morde ihrer Gefährten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erst möglich gemacht. Als sie am 4. November 2011 erfuhr, dass sich ihre Freunde nach einem Banküberfall in ihrem Wohnmobil erschossen hatten, verschickte sie das Bekennervideo für die Morde. Sie zündete den gemeinsamen Unterschlupf in Zwickau an und stellte sich nach einer tagelangen Odyssee durch die Republik in ihrer Heimatstadt Jena der Polizei. Seitdem saß sie in Haft.

Die Angeklagten zeigten geradezu exemplarisch die verschiedenen Spielarten des deutschen Rechtsradikalismus: Ralf Wohlleben, der politische Funktionär, der eine Karriere in der NPD anstrebte und sich als treusorgender Familienvater und friedliebender Patriot gab, der nur Angst vor Überfremdung habe; Holger Gerlach, der fleißige, aber spielsüchtige, etwas naive Lagerarbeiter, der wie ein Handlanger seinen Freunden bis zuletzt Pässe und Führerscheine zur Verfügung stellte, aber vorgab, nichts von deren Morden gewusst zu haben. André Eminger, der überzeugte Neonazi, der seinen Körper über und über mit Hass-Parolen tätowiert hat, Weihnachtskarten mit germanischen Runen verschickte und im Prozess kein Wort sagte – selbst als er im September 2017 im Gerichtssaal überraschend in Haft genommen wurde. Und Carsten Schultze, der als junger Mann von der rechten Gemeinschaft und dem Männlichkeitskult angezogen war und dann merkte, dass Homosexuelle wie er dort abgelehnt wurden. Schultze stieg schon im Herbst 2000 aus der Szene aus. Zuvor hatte er dem NSU noch die Tatwaffe für neun Morde überbracht. Seine Tat holte ihn elf Jahre später wieder ein.

Beate Zschäpe

Im Mittelpunkt des Prozesses aber stand die Hauptangeklagte. Je nach Sichtweise ist Beate Zschäpe die rechtsextreme Terroristin. Oder die Stellvertreterin, die nur für ihre toten Neonazi-Freunde vor Gericht stand. Oder das verführte, abhängige Mädchen. Oder gar die Marionette der Geheimdienste, so eine beliebte Deutung rechtsextremer Kreise. Es gab viele Prozessbeteiligte, die sagten, es sei doch klar, dass Zschäpe nicht die Geisel des NSU war, sondern eher die Kraft, die alles zusammenhielt. Dass ein heimliches Leben, bei dem man so aufeinander angewiesen ist wie Zschäpe und ihre Männer, nur aufrechtzuerhalten ist, wenn ein gemeinsames Ziel die drei zusammenschweißte. Geselliges Prosecco-Trinken mit den Nachbarn oder Radfahren im Urlaub, so wie Zschäpe das erzählte, konnte es kaum gewesen sein, so sah es auch der psychiatrische Gutachter Henning Saß, der Zschäpe vier Jahre lang beobachtet und ihr Verhalten analysiert hat. Er hielt sie für eine selbstbewusste, eigenständige Frau, die andere manipulieren konnte. Saß sah sie als voll schuldfähig an und sagte, sie sei auch noch immer gefährlich.

Der von der Verteidigung Zschäpes aufgebotene psychiatrische Gutachter Joachim Bauer dagegen diagnostizierte bei ihr eine Persönlichkeitsstörung, die sie krankhaft abhängig von ihren Gefährten gemacht habe und deswegen auch unfähig, sich von ihnen zu lösen, obwohl sie immer wieder von ihrem Freund Uwe Böhnhardt geschlagen worden sei. Psychiater Bauer sah Zschäpe als vermindert schuldfähig an und erklärte sogar, sie habe 13 Jahre lang in »verschärfter Geiselhaft« bei ihren Freunden gelebt. In einer E-Mail an eine Zeitung verglich er das Verfahren und dessen mediale Begleitung mit einer Hexenverbrennung und erklärte, man wolle in Zschäpe »das nackte Böse in einem weiblichen Körper« sehen. Die Nebenkläger beantragten, den Psychiater für befangen zu erklären. Das Gericht erklärte ihn tatsächlich für befangen – es war der einzige Befangenheitsantrag im gesamten Prozess, der Erfolg hatte.

Die Anklage sah die Rolle von Zschäpe völlig anders. Die 1975 geborene Frau aus Jena war für die Bundesanwaltschaft ein unverzichtbarer Teil der Terrorzelle – weil sie die Tarnung für die Männer lieferte. Weil bei ihr der sichere Rückzugsort war, an den Mundlos und Böhnhardt nach den Morden zurückkehren konnten. Für den Generalbundesanwalt galt: Die Frau war nicht nur Helferin, sie war gleichberechtigte Mittäterin ihrer Männer, selbst wenn sie nicht selbst getötet hatte und an keinem Tatort beobachtet worden war. Das ist nichts wirklich Neues: Bereits in etlichen Prozessen gegen die RAF hatten Gerichte Angehörige der Terrororganisation wegen der Mittäterschaft bei Anschlägen verurteilt, obwohl sie nicht selbst geschossen hatten. Sie galten als Mittäter, weil sie einem Kommando angehört und den Anschlag gewollt hatten. Um als Mörder verurteilt zu werden, muss man nicht selbst den Finger am Abzug gehabt haben – das hat die Rechtsprechung gegen die Kommandos der Rote Armee Fraktion gezeigt.

Das Gericht hat das am Ende ähnlich gesehen und Zschäpe zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt – für die Richter war sie gleichberechtigte Mittäterin ihrer Männer. Götzl zeichnete in seinem Urteil das Bild einer Terrorbande, die sich von Anfang an dazu verabredet hatte, eine Mordserie gegen Ausländer und Repräsentanten des Staates zu begehen, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu schaffen. Die Taten sollten aber verübt werden, ohne sich dazu zu bekennen. Und zwar aus einem besonderen Grund: Man wollte erst später ein Bekennervideo veröffentlichen, weil die Gruppe »die Machtlosigkeit des Sicherheitsapparats und die Schutzlosigkeit der angegriffenen Bevölkerungsgruppe zeigen wollte.« Richter Götzl erklärte, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hätten von vorneherein die Absicht gehabt, im Untergrund eine terroristische Vereinigung zu bilden und ihre ausländerfeindliche Gesinnung durch Gewalttaten zum Ausdruck zu bringen. Zschäpe hatte nach Überzeugung des Gerichts die Aufgabe, die Videos nach dem Auffliegen der Bande zu verschicken und die Hinweise auf die Taten und mögliche Helfer im gemeinsamen Unterschlupf zu vernichten, indem sie in der Wohnung Feuer legen sollte. Um diesen Auftrag zu erfüllen, musste sie sich während der Straftaten ihrer Freunde in der Nähe der Wohnung aufhalten.

Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts München bestätigen, stehen Beate Zschäpe noch mindestens 20 Jahre Haft bevor – zusätzlich zu den sechseinhalb Jahren, die sie bis zum Urteil bereits abgesessen hatte. Denn die besondere Schwere der Schuld bedeutet, dass sie nicht schon nach 15 Jahren im Gefängnis Aussicht auf ein Leben in Freiheit hat. Das Gericht blieb bei Zschäpe nur in einem Punkt hinter den Forderungen der Bundesanwaltschaft zurück: Es verhängte nicht die Sicherungsverwahrung gegen sie. Das fand Richter Götzl »nicht unerlässlich«.

Die lebenslange Haftstrafe für Beate Zschäpe überdeckte zunächst die aus Sicht vieler Prozessbeobachter erstaunlich milden Strafen für die anderen Angeklagten. Ralf Wohlleben, der den NSU wie die Spinne im Netz unterstützt und die Tatwaffe für neun Morde vermittelt hatte, erhielt zehn Jahre – zwei Jahre weniger als von der Bundesanwaltschaft gefordert. Er hatte schon sechs Jahre und acht Monate abgesessen und kam bereits eine Woche nach dem Urteil vorläufig frei. Der bekennende Neonazi André Eminger, für den die Bundesanwaltschaft ebenfalls zwölf Jahre Haft gefordert hatte, wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Das Gericht hob seinen Haftbefehl auf, er verließ das Gericht als freier Mann. Seine Freunde und Unterstützer, die am Tag der Verkündung auf der Besuchertribüne saßen, klatschten und johlten dazu. Auch Holger Gerlach, der seinen Freunden jahrelang den Pass und seinen Führerschein überlassen hatte, bekam drei Jahre Haft – zwei weniger als gefordert. Nur der Angeklagte, der seine Taten offen bereut hatte, der Aussteiger Carsten Schultze, erhielt keine mildere Strafe als von der Anklage beantragt. Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Jugendhaft. Er war der einzige, der auf alle Fragen geantwortet und sich selbst schwer belastet hatte. Einige Familien der Opfer hatten das Gericht gebeten, ihn milde zu bestrafen, weil sein Gewissen ihn schon genug strafe.

Viele Angehörige der Opfer hatten bereits zu Beginn des Prozesses betont, es gehe ihnen nicht um eine möglichst hohe Strafe für die Angeklagten. Was sich aber die Angehörigen unbedingt erhofften – dies machten ihre Anwälte immer wieder deutlich – war die Antwort auf eine quälende Frage: die Frage, warum ausgerechnet ihr Mann, ihr Bruder, ihr Sohn getötet wurde. Doch Zschäpe hatte als Angeklagte das Recht, zu schweigen. Dieses Recht hat sie 248 Tage lang in Anspruch genommen. Am 249. Tag hat sie eine Erklärung abgegeben, 54 Seiten lang, vorgelesen von ihren Anwälten. Darin stellte sie sich als Opfer des NSU dar, emotional erpresst von ihren Freunden, die damit drohten, sich zu erschießen, wenn Zschäpe sie verließe. Sie selbst habe die Morde abgelehnt und auch immer erst hinterher davon erfahren, ließ sie vortragen. Das Motiv für die Taten: Mundlos und Böhnhardt hätten gesagt, ihr Leben sei ohnehin »verkackt« gewesen. Für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter hat es laut Zschäpe nur einen Grund gegeben: Die Männer wollten eine moderne Polizeipistole erbeuten. Und die Raubüberfälle – die habe sie in Kauf genommen, ließ Zschäpe erklären, schließlich habe die Gruppe während der mehr als 13 Jahre im Untergrund ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Die Bekennervideos habe sie nach dem Tod ihrer Gefährten nur deswegen verschickt, weil sie es den beiden einst versprochen hatte.

Im Herbst 2016 hatte Zschäpe schließlich selbst das Wort ergriffen und erklärt, sie verurteile die Taten von Mundlos und Böhnhardt. Sie beurteile Menschen nicht nach ihrer Herkunft oder ihrer politischen Einstellung, sondern nach ihrem »Benehmen«. Sie bedauere ihr eigenes Fehlverhalten. Dann schwieg sie erneut fast zwei Jahre – bis zu ihrem letzten Wort am 3. Juli 2018. Bei dieser Gelegenheit äußerte sie, ihr täten die Taten ihrer Freunde leid, sie empfinde Mitleid mit den Angehörigen der Opfer und habe sich von der rechten Szene abgewandt. Gleichzeitig erklärte sie, sie akzeptiere die politische Gesinnung ihrer Mitangeklagten. Sie ignorierte dabei, dass genau diese Gesinnung erst das Leid verursacht hatte, das sie nun beklagte.

Zschäpes Worten stehen Aussagen Hunderter Zeugen entgegen, die im Gerichtssaal gehört wurden. Sie sprachen darüber, wie Zschäpe mit ihnen über »Germanenkunde« debattierte, mit ihnen ihr selbstgemachtes rassistisches Spiel »Pogromly« spielte, in dem auf die Gräber von Juden »gekackt« wurde, wie sie ihnen ihre Schreckschusswaffe zeigte, die sie liebevoll »Wally« nannte. Im Gerichtssaal traten auch Nachbarn und Freundinnen auf, mit denen sie sich zum Prosecco zusammengesetzt hat, unter einem Hitlerbild im Keller. Urlaubsfreunde berichteten als Zeugen von ungetrübter Harmonie unter den drei Freunden Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Und ihr Cousin, mit dem Zschäpe aufgewachsen war, erklärte, seine Cousine habe ihre Jungs »im Griff« gehabt. Sie selbst hat sich während des Prozesses mit ihren drei ursprünglichen Verteidigern zerstritten und sich einen neuen, vierten Pflichtverteidiger vom Gericht erkämpft, der sie seit Sommer 2015 vertrat. Zusätzlich wurde sie von einem Wahlverteidiger beraten. Ihre alten Verteidiger grüßte sie nicht, beachtete sie nicht, schwieg sie an, obwohl die sich weiter für ihre Rechte einsetzten. Sie hielt das drei Jahre lang durch, bis zum Urteil.

 

Doch vor dem Oberlandesgericht München ging es nicht nur um Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten. Es ging um die Republik. Um ihre Sicherheitsbehörden. Um die Justiz. Um die Demokratie. Es ging um Hass und Gewalt und die Grundfesten des Staates.