Einführung in die Ethik

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2.2.3 LogikLogik

AndersAnders, G. als die Anthropologie und die MetaphysikMetaphysik, die sich mit dem Wesen des MenschenMensch bzw. mit den Prinzipien des Seienden befassen und insofern materiale Disziplinen sind, als sie über bestimmte Gegenstände oder Objektbereiche des Wissens Aussagen machen, ist die LogikLogik eine formale Wissenschaft, der es weder um bestimmte Gegenstände noch um Gegenständlichkeit überhaupt geht, die also nicht die möglichen oder wirklichen Objekte des Wissens, sondern die Form des Wissens untersucht, indem sie die in den materialen Disziplinen vorliegenden Aussagen auf ihre Urteils- und Argumentationsstruktur hin überprüft und von daher als wahr (= in sich folgerichtig, konsistent, widerspruchsfrei) oder falsch erweist.

Die moderne LogikLogik hat nicht nur eine propädeutische, sondern auch eine instrumentale Bedeutung für die Wissenschaften. Sie stellt die Erkenntnisse und Verfahren zur Verfügung, um die logischen Grundlagen des theoretischen Aufbaus wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien zu erforschen. … Die moderne LogikLogik wird zunehmend methodologisches Instrument jeder Wissenschaft zum Zwecke rationeller und exakter Theorienbildung. …

Die LogikLogik (ist) die Wissenschaft von den allgemeinsten Strukturen des richtigen Denkens. (K. BERKABerka, K. / L. KREISERKreiser, L. (Hrsg.): Logik-Texte, X, XIV)

LogikLogik ist danach jene Disziplin, die für jede Wissenschaft das formale Instrumentarium bereitstellt, vermittels dessen Aussagen nicht beliebig oder willkürlich, sondern als konsistente, systematische Argumente formuliert werden, d.h. mit den Mitteln der LogikLogik werden Aussagen, Sätze, Thesen, Urteile etc. allererst wahrheitsfähigWahrheit und wissenschaftlich relevant.

Für die Ethik ist die Logik in zweierlei Hinsicht von Bedeutung.

 Zum ersten hat es die Ethik mit moralischen Urteilen über geschehene oder geplante Handlungen zu tun.

Beispiele:

Du solltest deinem Sohn trotz allem, was er dir angetan hat, noch eine Chance geben.

Du hast deinen Freund ungerecht behandelt.

Biete dem alten Herrn mit dem Stock deinen Platz an.

Die Aufgabe der Ethik besteht hier als »ethische LogikLogikethische« darin, die Eigenart solcher Urteile zu klären: ob sie logischen Kriterien genügen und somit wahrheitsfähig sind oder nicht. So hat z.B. bereits ARISTOTELESAristoteles in seiner Analyse der Struktur menschlichen Handelns die formale Denkfigur des praktischen Syllogismus verwendet.

Beispiel:

A erstrebt Z.

Zur Erreichung von Z ist M das geeignetste Mittel.

A muss M tun, um Z zu erreichen.

Diese Denkfigur des praktischen Syllogismus wird heute vielfach in der deontischen LogikLogikdeontische (auch imperativische oder Normenlogik genannt (vgl. Kap. 6.2.1)) zur Ableitung einer Handlungsanweisung aus einem allgemeinen Gebot und einer auf eine bestimmte Situation bezogenen Tatsachenaussage benutzt.

Beispiel:

Versprechen soll man halten. Du hast B gestern versprochen, ihm das geliehene Geld morgen zurückzugeben. Du sollst B das geliehene Geld morgen zurückgeben.

Hier wird schon durch die Formulierung deutlich, dass der Schlusssatz im praktischen Syllogismus aus zwei (oder auch mehr) Prämissen gewonnen wird, von denen mindestens eine – in unserem Beispiel ist es der Obersatz – ein normativer Satz ist. Allgemein gilt also: Beinhaltet die conclusio ein Sollen, so muss sich unter der Prämissenmenge, aus der die conclusio gefolgert wird, mindestens ein Sollenssatz befinden. In der Regel ist der Obersatz ein solcher Sollenssatz, während der Mittelsatz eine empirische Aussage ist.

Ein weiteres Beispiel:

Wer ernsthaft den Frieden will, soll gegen Waffen jeder Art protestieren.

Morgen findet in H eine Friedensdemonstration statt. Peter ist Pazifist.

Peter soll morgen an der Friedensdemonstration in H teilnehmen.

Die Ethik bedient sich also zum ersten als ethische Logik der allgemeinen Logik, um die Struktur moralischer Urteile zu systematisieren.

 Zum zweiten bedarf die Ethik der LogikLogik, um ihre eigenen ethischen Aussagen auf ihre WahrheitWahrheit hin zu überprüfen.

Beispiele:

Freiheit ist ein unhintergehbares ethisches Letztprinzip.

Moralische Urteile behaupten nicht eine Tatsache, sondern gebieten eine in einer bestimmten Weise qualifizierte Handlung.

Die Aufgabe einer »Logik der EthikLogikder Ethik« besteht im Wesentlichen in einer Methodenkritik. Sie untersucht die von ihr gemachten Aussagen im Hinblick darauf, wie sie methodisch gewonnen und argumentativ begründet werden.

Sofern die Ethik sich selbst kritisch auf ihr eigenes Verfahren zurückwendet und mit den Mitteln der Logik die Form ihrer Urteile über das Verhältnis von Moral und Moralität analysiert, wird sie nicht mehr als Ethik im eigentlichen (normativen) Sinn, sondern vielmehr als MetaethikMetaethik betrieben, d.h. sie reflektiert vorrangig nicht ihren Gegenstand – das Verhältnis von Moral und Moralität im Kontext menschlichen Handelns –, sondern untersucht die Art und Weise, wie sie ihren Gegenstand reflektiert. Sie analysiert die logischen Bedingungen, unter denen sie als Ethik möglich ist, und erst durch diese metaethische Kritik oder ethische Selbstkritik erweist sie als Logik der EthikLogikder Ethik ihre Aussagen als wahr.

2.3 Teildisziplinen der Ethik

Als Ergebnis unserer bisherigen Überlegungen ist festzuhalten: Die Ethik, sofern sie das Verhältnis von Moral und Moralität im Kontext menschlicher Praxis bedenkt, ist eine eigenständige Disziplin der Philosophie. Gleichwohl greift die Ethik auf die Erkenntnisse anderer praktischer wie theoretischer Disziplinen der Philosophie zurück, was bestimmte, an sich selber nicht ethische, aber ethisch relevante Aspekte ihres Gegenstandes bzw. des Wissens über ihren Gegenstand anbelangt.

Beispiele:

 die äußere Regelung des zwischenmenschlichen Verhaltens im Zusammenhang einer Gemeinschaft von Handelnden (Politik, Rechtsphilosophie)

 die Natur der Handelnden (Anthropologie)

 die Gemeinschaft von Handelnden übergreifende Sinnentwürfe (Metaphysik)

 die formale Struktur moralischer und ethischer Argumente (Logik).

Durch Einbeziehung derartiger Überlegungen versucht die Ethik, sowohl ihr materiales als auch ihr formales Wissen so zu vervollständigen, dass sie in der Lage ist, im Anschluss an ethische Grundlagenreflexionen die zur Ethik hinzugehörenden Teildisziplinen PragmatikPragmatik und Metaethik auszubilden. Zur wirksamen Durchsetzung ihrer Ziele in einer konkreten Praxis bedarf die Ethik der PragmatikPragmatik als einer Lehre vom richtigen Handeln, so wie sie zur Kritik ihrer selbst als Wissenschaft der Metaethik bedarf.

2.3.1 Pragmatik

Wir gebrauchen den Ausdruck PragmatikPragmatik hier nicht im semiotischen Sinn wie etwa Charles W. MORRISMorris, Ch.W., für den die PragmatikPragmatik »der Teil der Semiotik [= Zeichenlehre] ist, der sich mit dem Ursprung, den Verwendungen und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt« (Zeichen, Sprache und Verhalten, 325). Damit hat ›PragmatikPragmatik‹ für uns eine eingeschränktere Bedeutung als für Karl-Otto APELApel, K.-O., der im Anschluss an den »Pragmatismus« von Charles Sanders PEIRCEPeirce, Ch.S. eine sprachpragmatische Ethikkonzeption entwickelt hat, der zufolge die Gültigkeit von Normen in praktischen Diskursen überprüft werden soll. Wir hingegen sprechen von ›PragmatikPragmatik‹ in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: PragmatikPragmatik im ethischen Sinn ist die Lehre vom richtigen HandelnHandeln/Handlung (von griech. pragma – Handeln, Tun, Tätigkeit).

Pragmatische Überlegungen zielen nicht auf die von der Ethik als Moralität begriffene Qualität einer Praxis, sondern auf eine singuläre HandlungHandeln/Handlung, die auf optimale Weise geeignet ist, das erstrebte Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Pragmatische VernunftVernunft ist instrumentelle VernunftVernunft, die die zur Verfügung stehenden Mittel bezüglich ihrer Wirksamkeit zur Durchsetzung des Gewollten, d.h. des erstrebten Ziels oder Zwecks durchgeht und das beste Mittel als die gesollte HandlungHandeln/Handlung auswählt.

Pragmatisch gesehen ist eine HandlungHandeln/Handlung immer dann gut, wenn sie zum gewünschten Erfolg führt, unabhängig davon, ob das Ziel moralisch ist oder nicht. So ist z.B. Arsen ein ebenso gutes Mittel, um jemanden, den man umbringen will, zu töten, wie ein Boot ein gutes Mittel ist, um einen Nichtschwimmer, der ins Wasser gefallen ist, vor dem Ertrinken zu bewahren.

Daher hat KANTKant, I. alle pragmatischen und technischen Handlungsweisen als hypothetische ImperativeImperativhypothetischer (der Klugheit bzw. der Geschicklichkeit) bezeichnet, die keine unbedingte (kategorische) Gültigkeit haben, sondern nur bedingt als verbindlich gelten:

Wenn du A willst, musst du x tun. Erst wenn das Wollen des Ziels A selber noch einmal kritisch daraufhin hinterfragt wird, ob man wollen kann, jedermann solle Ziel A erstreben, ist die HandlungHandeln/Handlung sowohl moralisch gut als auch pragmatisch richtig.1

Eine PragmatikPragmatik ohne Ethik wäre ebenso inhumanHumanität, wie eine Ethik ohne PragmatikPragmatik wirkungslos bliebe und damit ihren Sinn – nämlich dazu beizutragen, die Welt durch eine veränderte Praxis zu verbessern – verlöre. Die ethische Reflexion auf das moralische Ziel und die pragmatische Reflexion auf die angemessenen Mittel gehören in der Praxis untrennbar zusammen, soll nicht die Ethik eine praktisch folgenlos bleibende reine Theorie des menschlichen WillensWille und die PragmatikPragmatik eine hinsichtlich der Moralität der gesetzten Ziele unkritische Theorie des durch menschliches Tun Machbaren sein. Moralität der Zielsetzung und Wahl der richtigen HandlungHandeln/Handlung ergänzen einander, d.h. ein moralisch gutes Ziel und ein pragmatisch gutes Mittel zur Erreichung des Ziels machen zusammen eine vollkommene HandlungHandeln/Handlung aus.

 

2.3.2 MetaethikMetaethik

Die MetaethikMetaethik könnte man als die WissenschaftstheorieWissenschaftstheorie der Ethik bezeichnen, sofern unter MetaethikMetaethik nicht nur die seit Beginn dieses Jahrhunderts im angloamerikanischen Sprachraum unter diesem Namen bekannt gewordene Richtung in der Ethik verstanden wird, sondern in einem umfassenderen Sinn jede Reflexion, die sich nicht unmittelbar auf den Gegenstand der Ethik, sondern auf die Struktur der ethischen Reflexion selber sowie auf die Art und Weise bezieht, wie die Ethik über ihren Gegenstand spricht. Diese die ethische Reflexion in kritischer Absicht auf ihren Anspruch und ihre Grenzen hin untersuchende Reflexion ist meta-ethisch im eigentlichen Sinn.

Die angelsächsische MetaethikMetaethik dagegen, die die Bedeutung von den im alltäglichen Sprachspiel der MoralSprachspielder Moral verwendeten Wörtern (z.B. sollen, dürfen, Pflicht, gut, Gewissen u.a.) zu analysieren versucht, verfährt nicht eigentlich meta-ethisch, sondern metamoralisch, wenn man den anfangs erläuterten Unterschied zwischen Moral und Ethik (als Wissenschaft von der Moral) beachtet.

Metamoralische Aussagen über moralische Urteile sind neutrale (nicht wertende) Aussagen über Normen als Tatsachen.

Beispiele:

Unter einem guten Menschen versteht man bei uns in der Regel jemanden mit den Charaktereigenschaften x, y, z.

Bei den Sizilianern gilt die Blutrache bei bestimmten Ehrverletzungen als moralische Pflicht.

Die christliche Moral verbietet Unzucht.

Solche Aussagen sind insofern für eine Ethik relevant, als sie das empirische Material beibringen, dessen die Ethik bedarf, um den Begriff der Moral inhaltlich zu füllen. Doch können metamoralische Aussagen auch in anderen Wissenschaften vorkommen (z.B. in der PsychologiePsychologie, SoziologieSoziologie oder Historie), wenn dort im Kontext einer Handlungsanalyse von moralischen NormenNorm oder WertenWert die Rede ist.

Beispiele:

Frau L. Ieidet seit dem Tod ihres Mannes an einem Schuldkomplex.

Die Griechen betrachteten Sklaven als Untermenschen.

Wo immer also Aussagen gemacht werden, die nicht werten oder normative Forderungen enthalten, gleichwohl aber etwas über WerteWert und NormenNorm behaupten, handelt es sich um metamoralische Aussagen. In solchen Aussagen werden WerteWert und NormenNorm – sei es eines Individuums, sei es einer Gemeinschaft – wie Tatsachen behandelt, und derjenige, der die Aussage macht, enthält sich dabei seines persönlichen Urteils bezüglich der Gültigkeit der in seiner Aussage vorkommenden WerteWert und NormenNorm. Er behauptet lediglich, dass sie für Person X oder Gemeinschaft Y de facto Geltung haben, nicht aber, dass sie Geltung haben sollen.

Metaethische Aussagen dagegen behaupten nicht etwas über die Moral und die damit zusammenhängenden Gegenstände, sondern über ethische (wissenschaftliche) Sätze, Theorien, Systeme; d.h. wie die Moral Gegenstand der Ethik ist, so ist die Ethik Gegenstand der MetaethikMetaethik. Die Ethik wird zur MetaethikMetaethik, wenn sie sich in kritischer Selbstanalyse auf ihre methodisch-systematischen Bedingungen hin befragt und ihrer Prinzipien vergewissert. Zusammenfassend sollen die vier unterschiedenen, für die Ethik wesentlichen Aussagenhorizonte und logischen Reflexionsniveaus noch einmal gegeneinander abgegrenzt werden:

 Moralische Aussagen sind normative (wertende) Sätze erster Ordnung, die singuläre oder allgemeine Gebote und Werturteile beinhalten, wie sie in der Alltagspraxis mit dem Anspruch auf allgemeine VerbindlichkeitVerbindlichkeit auftreten und zu einem bestimmten Handeln auffordern.

Beispiele:

Du musst jetzt die Wahrheit sagen, um schlimmere Folgen zu verhüten.

Ehrlich währt am längsten.

 Metamoralische Aussagen sind deskriptive Sätze erster Ordnung, vermittels deren nicht zu einem Handeln aufgefordert wird, sondern tatsächliche moralische oder moralisch relevante Verhaltensweisen unter Enthaltung eines persönlichen moralischen Urteils beschrieben, analysiert, rekonstruiert, erklärt werden.

Beispiele:

Bei den Indianern gilt der Skalp als Zeichen der Tapferkeit und des Sieges.

Othello glaubte, Desdemona habe ihn betrogen.

 Ethische Aussagen sind normative Sätze zweiter Ordnung, die nicht unmittelbar zu einem Handeln auffordern, sondern auf einen Maßstab zur Beurteilung der Moralität von Handlungen rekurrieren und insofern generell zu einer kritischen Willensbildung vor jedwedem Handeln auffordern.

Beispiele:

Es soll immer und überall Freiheit um der Freiheit willen realisiert werden.

»Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (I. KANTKant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke, Bd. 6,61)

 Metaethische AussagenMetaethik sind deskriptive Sätze zweiter Ordnung, vermittels deren keine Handlungen, sondern ethische Theorien und Systeme beschrieben, analysiert, rekonstruiert, erklärt und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten kritisch beurteilt werden.

Beispiel:

Die utilitaristische Ethik behauptet das Prinzip der Nützlichkeit als Moralkriterium, gerät aber in Schwierigkeiten, wenn es darum geht, den für alle Betroffenen größtmöglichen Nutzen aus den möglichen Folgen einer Handlung quantitativ exakt zu ermitteln.

Wir haben durch die Unterscheidung zwischen moralischen, metamoralischen, ethischen und metaethischenMetaethik Aussagen vier SprachebenenSprache gegeneinander abgegrenzt, die häufig miteinander verwechselt werden, was zu Missverständnissen führt. Es ist schon eine ganze Menge für die Klarheit gewonnen, wenn man sich beim Nachdenken über Angelegenheiten der Moral erst einmal vergewissert, auf welcher SprachebeneSprache die Frage anzusiedeln ist, die man behandeln möchte, damit bei der Suche nach einer Antwort nicht die Ausgangsfrage verfehlt wird. Wer in einem bestimmten Konfliktfall jemanden um Rat bittet, wird eine normative Handlungsanweisung erster Ordnung erwarten, vielleicht noch nach Gründen fragen, die für oder gegen eine bestimmte Handlung sprechen. Aber er wird sich ganz gewiss nicht für eine Antwort metaethischenMetaethik Typs interessieren, die etwa die logische Struktur eines praktischen Syllogismus erläutert. Oder wenn jemand wissen will, was es überhaupt bedeutet, moralisch zu handeln, und damit auf der ethischen Ebene nach einer normativen Begründung für das Sollen fragt, wird sich nicht mit einer Antwort auf der metamoralischen Ebene zufriedengeben, die ihn z.B. an den bestehenden MoralkodexMoralkodex oder an die zehn Gebote verweist.

Das bedeutet nun aber nicht, dass man die Ebenen nicht wechseln darf; ganz im Gegenteil: wenn man eine die Moral betreffende Frage voll und ganz durchdenken will, stößt man sehr schnell an die Grenze der jeweiligen Sprach- und Reflexionsebene, sodass ein Weiterfragen in einem anderen kategorialen Rahmen sich von selbst ergibt. Aber man muss dann auf die veränderte Fragestellung achten und die neu entworfenen Antworten gegebenenfalls wieder auf die Ebene der Ausgangsfrage zurückübersetzen.

Nehmen wir ein Beispiel. Stellen Sie sich ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Vertretern der Naturwissenschaften, der Medizin, der Jurisprudenz, der Psychologie, Theologie, Soziologie usf. vor. Es soll geklärt werden, ob ein bestimmtes Experiment, das bei Tieren die gewünschten Ergebnisse gebracht hat, auch an Menschen durchgeführt werden darf. Die Gefahren sind groß, aber der zu erwartende Nutzen wird noch höher veranschlagt. Ohne die Gründe, die in den folgenden Argumenten stecken, im Einzelnen zu gewichten, soll das Augenmerk ausschließlich auf die jeweilige Sprachebene gerichtet werden, zu der sie gehören.

A sagt also: Unser Rechtsstaat verbietet Humanexperimente, sofern sie das Leben der Versuchsperson gefährden. B unterstützt dies noch mit dem Hinweis, dass auch die Kirche lebensgefährliche Eingriffe ablehne – sei der experimentelle Zweck auch noch so gut. C fügt hinzu, dass man in gewissen Staaten Schwerverbrecher als Versuchspersonen heranziehe. Alle drei Personen – A, B und C – haben deskriptive Aussagen erster Ordnung gemacht, also metamoralische Aussagen. Selbst wenn ersichtlich ist, dass alle drei Gesprächspartner mit der von ihnen vorgetragenen staatlichen, kirchlichen oder gesetzlich sanktionierten RegelRegel einverstanden sind, haben sie mit ihrem Beitrag lediglich beschrieben, was der Fall ist, d.h. welche RegelRegel faktisch befolgt wird. Nun äußert sich D und sagt: Ein Wissenschaftler, sei er auch noch so qualifiziert, habe nicht das Recht, über fremdes Leben zu verfügen. E kontert, indem er erwidert, er fühle sich als Arzt verpflichtet, seinen Patienten zu helfen, auch wenn es einen gewissen Preis koste. D und E fällen somit normative Urteile erster Ordnung, also moralische Urteile. Nun tritt F auf und erklärt: Menschliches Leben ist schlechthin unantastbar. G schränkt ein: Jeder hat jederzeit das Recht, im Rahmen seiner autonomen Selbstverfügung darüber zu entscheiden, ob er den Tod einem nicht mehr lebenswerten Leben vorzieht. Mit diesen grundsätzlichen Aussagen, die jederzeit kategorisch formuliert werden können, befinden sich F und G auf der normativen Ebene zweiter Ordnung, auf der ethischen Ebene also, auf der universalisierbare bzw. für universalisierbar gehaltene Grundsätze problematisiert werden. Nun lassen wir abschließend noch H und I zu Wort kommen. H sieht sich genötigt, den Begriff AutonomieAutonomie zu klären, und schlägt vor, AutonomieAutonomie mit KANTKant, I. als ein selbst gegebenes Gesetz der FreiheitFreiheit um der FreiheitFreiheit willen aufzufassen. I wendet dagegen ein, dass AutonomieAutonomie eigentlich ein politischer Begriff sei und daher völlig ungeeignet sei, ein Tun- und Lassen-Können im Sinne von WillkürWillkür zu umschreiben. Überhaupt wäre es viel vernünftiger, anstatt der Philosophen die Psychologen zu befragen, was genau unter FreiheitFreiheit zu verstehen ist, und ob dieser Begriff überhaupt operationalisierbar sei. H und I reden auf der deskriptiven Ebene zweiter Ordnung, der metaethischen EbeneMetaethik.

Man könnte dieses fingierte Gespräch ins Unendliche fortsetzen. Die Argumente haben alle etwas miteinander zu tun, und es wird zweifellos schwierig sein, zu einem KonsensKonsens zu gelangen. Aber es sollte immerhin deutlich geworden sein, dass aus deskriptiven Aussagen (gleich ob erster oder zweiter Ordnung) ohne zureichende Begründung keine normativen Aussagen gewonnen werden können. Die Tatsache, dass die Kirche lebensgefährliche Humanexperimente verbietet, ist noch keine zureichende Begründung dafür, dass solche Verfahren prinzipiell verboten sind. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass in bestimmten Staaten Schwerverbrecher als Versuchskaninchen benutzt werden, schon ein Freibrief dafür ist, dass man dies überall darf. Aber auch auf den normativen Ebenen ist die behauptete Rechtmäßigkeit eines Geltungsanspruchs nicht ohne zureichende Begründung zuzugestehen. Daraus folgt, dass auf allen vier Ebenen die Aussagen grundsätzlich problematisierbar sein müssen und jeder Ebenenwechsel deutlich kenntlich gemacht werden muss, damit der am Ende erzielte KonsensKonsens – wenn er denn zustande kommt – für jeden Gesprächsteilnehmer dasselbe (deskriptiv) beinhaltet und dieselbe (normative) Verbindlichkeit hat.