Einführung in die Ethik

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1.4 Der Vorwurf des RelativismusRelativismus

Mit dieser kurzen Charakterisierung des Verhältnisses von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit als dem zentralen Gegenstand der Ethik wird bereits einer der Haupteinwände gegen die Möglichkeit einer philosophischen Ethik gegenstandslos. Gemeint ist der sogenannte RelativismusRelativismusvorwurf – der besagt, aufgrund der Vielzahl von MoralenMoral, deren konkrete, materiale NormenNorm einander nicht selten geradezu widersprechen und sich überdies im Verlauf der Zeit ständig ändern, sei es unmöglich, eine allgemeingültige NormNorm zu finden, die unbedingte VerbindlichkeitVerbindlichkeit beanspruchen könne. Gut und BöseGut und Böse als die in moralischen Urteilen verwendeten Grundprädikate seien schlechterdings relativ, sodass jeder Versuch, eine Ethik als Wissenschaft von der MoralMoral zu begründen, mangels gültiger Letztprinzipien von vornherein zum Scheitern verurteilt sei.

Dieser Einwand trifft nur das variable inhaltliche Moment an der MoralMoral (z.B. nach dem PrinzipPrinzip der Polygamie zu leben oder – wie in der Eskimo-MoralMoral – alte Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, Arbeit zu leisten und sich selbst zu versorgen, zu töten), übersieht aber, dass sich in echten moralischen Geltungsansprüchen auch ein invariables Formmoment mit zum Ausdruck bringt (z.B. nach dem PrinzipPrinzip zu leben, immer und überall unbedingt gut zu handeln), das in keiner speziellen MoralMoral aufgeht, sondern als PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit jedweder Konkretion von Freiheit zugrunde liegt. Da menschliches Miteinander ein nie abschließbarer Prozess ist, der nur utopisch oder ideologisch als unüberbietbarer, statischer Letztzustand gedacht werden kann, ist die das Miteinander regelnde MoralMoral auch gleichsam immer unterwegs, wobei MoralitätMoralität/Sittlichkeit, das FreiheitsprinzipPrinzip der treibende Motor ist, zu immer besseren und menschenwürdigeren NormenNorm zu gelangen. Was zunächst also als bloße Relativität erscheint, erweist sich bei näherem Zusehen als die aufgrund unterschiedlicher sozio-kulturellerKultur Randbedingungen voneinander abweichende Ausprägung eines Freiheitsverständnisses, das sich in gemeinsamen BasisnormenBasisnorm wie GerechtigkeitGerechtigkeit, GleichheitGleichheit, HumanitätHumanität etc. artikuliert, die sich ihrerseits in bestimmten, durch die Anerkennung einer Handlungsgemeinschaft bezeugten Geltungsregeln materialisieren bzw. konkret werden.

Von einem alles relativierenden, die gesamte MoralMoral aufhebenden Widerspruch könnte letztlich nur dann die Rede sein, wenn eine und dieselbe Regel einer von einer Handlungsgemeinschaft anerkannten MoralMoral eine und dieselbe Handlung in einer und derselben Hinsieht zugleich gebieten und verbieten würde. Dass jedoch aus einer und derselben BasisnormBasisnorm (z.B. der NormNorm der Menschenwürde) in verschiedenen KulturkreisenKultur unterschiedliche, ja gelegentlich entgegengesetzte Regeln als allgemeine Handlungsanweisungen abgeleitet werden, ist kein Einwand gegen die Gültigkeit der NormNorm, sondern fordert gerade dazu heraus, nach immer vollkommeneren Formen einer gemeinsamen Lebensordnung, nach einer immer besseren, humaneren MoralMoral zu suchen.

Die Verschiedenheit moralischer Verhaltensregeln in konkreten Gesellschaften kann meist auf unterschiedliche Umstände, Vorstellungen und Informationen bei gleichen moralischen Prinzipien zurückgeführt werden; und wo das nicht gelingt, da ist immer noch eine rationale Prüfung der konkurrierenden moralischen Prinzipien möglich. (G. PATZIGPatzig, G.: RelativismusRelativismus und Objektivität moralischer NormenNorm, a.a.O., 100)

Wer also aus der kulturellen VerschiedenheitKultur von NormenNorm den Schluss zieht, in der Moral sei letztlich alles relativ, daher dürfe und könne man keine normativ verbindlichen ethischen Aussagen über die Gültigkeit von moralischen NormenNorm machen, übersieht zwei Dinge. Erstens hat er den Unterschied zwischen BasisnormenBasisnorm und den aus diesen abgeleiteten FolgenormenNorm nicht beachtet. Zweitens ist er nicht in der Lage, seine eigene normative Schlussfolgerung zu begründen, denn wenn in der Moral schlechthin alles relativ ist, kann niemand beanspruchen, ein gültiges normatives Urteil darüber abzugeben, wie man sich in moralischen Angelegenheiten generell verhalten soll. Um dies noch einmal an HERSKOVITSHerskovits, J.’ Thesen zu verdeutlichen: HERSKOVITS folgerte ja daraus, dass moralische NormenNorm und WerteWert relativ im Blick auf die KulturKultur sind, aus der sie stammen bzw. zu der sie gehören – weshalb es nicht erlaubt sei, sich zu diesen kritisch zu äußern – man müsse sie so achten, wie sie seien, also ToleranzToleranz in Bezug auf fremde Verhaltensweisen üben, seien sie nach unserem Verständnis auch noch so unmenschlich. Wie aber lässt sich diese NormNorm der ToleranzToleranz selbst als allgemeingültige Forderung begründen? Inwiefern beinhaltet sie mehr als eine ebenfalls bloß kulturspezifische WertvorstellungWertKultur, die dem Relativitätsverdikt verfällt?

Nehmen wir als Beispiel den Fall des Schriftstellers Salman RUSHDIERushdie, S., den Khomeini 1988 wegen der angeblichen Blasphemie seines Buches »Die Satanischen Verse« (dt. 1989) zum Tode verurteilte. Wie steht es mit unserer ToleranzToleranz in Bezug auf den weltweiten Aufruf, RUSHDIE zu töten?

Nach christlicher und ethischer Auffassung in den westlichen Ländern ist ein Menschenleben das größte Gut und damit ein WertWert, der als unverletzlich gilt. Wer – und noch dazu im Namen eines Gottes – zur Tötung eines Menschen aufruft, muss nach unseren Maßstäben schärfstens als widermoralisch verurteilt werden. Bei uns wird nicht nur der Mörder, sondern auch der, der andere zum Mord anstiftet oder sich eines für seine Dienste bezahlten Mörders bedient, vor Gericht gestellt und so beurteilt, als hätte er die Tat selbst begangen. Bei RUSHDIERushdie, S. handelt es sich zudem nach unseren Maßstäben nicht um einen Verbrecher, räumen wir doch Schriftstellern die FreiheitFreiheit des Wortes ein und beurteilen ihre Werke nach künstlerischen Kriterien, wobei allerdings auch wir der künstlerischen FreiheitFreiheit durchaus Grenzen setzen. Die Verherrlichung von GewaltGewalt, Brutalität, Grausamkeit und Pornographie tolerieren wir keineswegs. Und wenn man sich daran erinnert, wie viele Werke z.B. die katholische Kirche auf den Index gesetzt hat und auch heute noch setzt, so zeigen sich hier deutliche Toleranzgrenzen. Immerhin beinhaltet ein Leseverbot keine Aufforderung zur physischen Vernichtung des Autors.

Aus islamischer Sicht hingegen gibt es einen höheren WertWert als den eines Menschenlebens: das ist der WertWert der Religiosität. Wer das religiöse Gefühl eines Menschen verletzt und damit Gott beleidigt, der hat damit sein Recht auf Leben verwirkt. Ein solcher Frevel kann nicht anders als durch den Tod gesühnt werden – so steht es auch im Koran. Der Bezirk des Heiligen ist somit schlechthin sakrosankt, und dass RUSHDIERushdie, S. in seinem Roman einen Zentralnerv des islamischen Selbstverständnisses getroffen hat, zeigen die Reaktionen auch gemäßigter Moslems, die in unserem Kulturkreis leben. Sie beurteilen RUSHDIEs Werk nicht als ein literarisches Opus, das künstlerischen Gesetzen gehorcht, sondern als einen verbalen Angriff auf einen Eckpfeiler ihrer Religion.

Die Fronten stehen sich also unversöhnlich gegenüber, und es ist zu fragen, ob wir uns ethisch richtig verhalten, wenn wir uns über den Mordaufruf empören. Sind wir vielleicht sogar verpflichtet, ihn und letztlich sogar RUSHDIEs Tod zu dulden? Diese Frage ist mit Nein zu beantworten. Wir sind ganz im Gegenteil nach den für uns verbindlichen Maßstäben zu kritischer Intoleranz aufgerufen und können dies auch rechtfertigen. Zunächst einmal haben wir das Recht, uns dagegen zu wehren, dass die Prinzipien einer regional gültigen religiösen Moral über die Grenzen ihres Geltungsbereichs hinaus ausgedehnt werden. In Europa gelten andere ethische Maßstäbe als im Iran. Wir müssen also auf unserem Boden nicht die Ausübung eines Rechts dulden, das in unseren Augen als ein Verbrechen an Leib und Leben gilt, auch wenn wir religiöse Gefühle grundsätzlich respektieren und als unverletzlich erachten.

Aber wie steht es umgekehrt mit dem Anspruch auf Geltung unserer Normen außerhalb ihres Geltungsbereichs? Müssen wir grundsätzlich alles tolerieren, was nicht auf unserem Boden geschieht; dürfen wir uns z.B. in die nach unseren Maßstäben ungerechtfertigten Hinrichtungspraktiken in anderen Ländern nicht einmischen, weil sie möglicherweise nach deren Anschauung legitim sind? Auch hier lautet die Antwort: nein. Aber diesbezüglich gilt es zu differenzieren. Wir dürfen uns nicht deshalb einmischen, weil wir meinen, eine bessere Moral oder Religion zu haben, die absolut gilt, sondern weil wir davon ausgehen, dass es auf einer übergeordneten, neutralen Ebene möglich sein muss, über solche Praktiken vernünftig miteinander zu reden. Ohne eine solche Annahme stünde eine Organisation wie Amnesty International nicht nur moralisch auf verlorenem Posten, sondern wäre sogar illegitim. Aber gerade solche Institutionen haben ja ihre Legitimation darin, dass es so etwas wie einen überregionalen Bereich gibt, in dem man sich über das, was wir als Menschenrechte bezeichnen, die jedem Menschen unangesehen seiner Rasse, Religion und Volkszugehörigkeit unverbrüchlich zustehen, verständigen kann. Wer die Rede und damit jede Kommunikation verweigert, also jeglichen Verständigungswillen vermissen lässt, muss sich Kritik gefallen lassen und Protest dazu. Kritische Intoleranz, die im Protest manifest wird, will zum Miteinanderreden herausfordern und damit zum gewaltlosen Miteinander – auch und gerade dort, wo die Gegensätze unaufhebbar zu sein scheinen. Wo jedes Gespräch abgelehnt wird, wird die eigene Position in unzulässiger Weise dogmatisch verabsolutiert, anstatt sie dem Diskurs auszusetzen und mit guten Gründen zu verteidigen, bei gleichzeitiger Offenheit für die Argumente der Gegenpartei.

 

Unkritische Intoleranz ist Argumenten nicht zugänglich und bedient sich nur noch der Mittel der GewaltGewalt, um die eigene Ansicht durchzusetzen. Wer unbedingte Geltungsansprüche gewaltsam durchsetzt, disqualifiziert sich eben dadurch aus ethischer Sicht und lässt erkennen, dass der von dem Betreffenden angemaßte Absolutheitsanspruch maß-los ist, d.h. sich der Haltung des Fanatikers annähert, der blind und taub für die Rechte anderer lieber den Untergang der Menschheit in Kauf nimmt als sich auf eine kritische Auseinandersetzung einzulassen. Hier wird der Protest wenig nützen, aber dennoch ist er das einzige ethisch legitime Mittel, um sich zur Wehr zu setzen.

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht nur Gegensätze zwischen den aus einer BasisnormBasisnorm abgeleiteten praktischen Regeln, sondern auch zwischen den BasisnormenBasisnorm selbst faktisch gibt

Beispiel:

 Es ist moralisch richtig, erlittenes Unrecht

 auf gleiche Weise zu vergelten (zu ahnden)

 zu verzeihen (nicht zu ahnden),

so lässt sich aus dieser Tatsache noch nicht schließen, dass beide Seiten der Alternative gleichwertig bzw. in gleicher Weise berechtigt sind. Vielmehr muss die Frage gestellt werden, ob nicht die eine oder die andere Seite Moralität in einer dem Menschen angemesseneren – humaneren – Weise zum Ausdruck bringt und daher vorzuziehen ist.

Der RelativismusRelativismusvorwurf wird aber auch häufig von Leuten erhoben, die der Meinung sind, die MoralMoral sei etwas bloß Subjektives, das dem Objektivitätsanspruch der Wissenschaft nicht genüge und daher wissenschaftlich auch nicht erforschbar sei. Gegen diese These hat Bernard WILLIAMSWilliams, B. das Wesentliche gesagt:

Der Subjektivist überlässt uns … dem Gefühl, dass Tatsachenmeinungen etwas Bestimmtes haben, was moralischen Einstellungen fehlt, und dass es sich dabei um etwas besonders Erstrebenswertes handelt, kurz: dass Tatsachenmeinungen und die Wissenschaft irgendwie solider sind als die MoralMoral. …

Was der Subjektivismus besagt, ist, dass Tatsachenmeinungen und wissenschaftliche Einsichten objektiv sind – aber dass wir nach ihnen streben sollten, ist keineswegs selbst eine Tatsachenmeinung oder eine wissenschaftliche Einsicht. …

Natürlich besteht dieser Gegensatz, die Moral ist etwas anderes als die Wissenschaft oder das Tatsachenwissen, und es ist absolut wesentlich, dass sie etwas anderes ist. Bei der MoralMoral kommt es nicht darauf an, die Welt widerzuspiegeln, sondern sie zu verändern; es geht bei ihr um Grundsätze des Handelns, um Entscheidungen und Verantwortlichkeit. Die Tatsache, dass gleich intelligente und gleich gut informierte Menschen in der gleichen Situation moralisch verschieden urteilen können, besagt etwas über das Wesen der MoralMoral – nämlich, dass man hier nicht einfach alles der Verfassung der Welt in die Schuhe schieben kann. Aber es besagt nicht …, dass mit der MoralMoral irgend etwas nicht stimmt. …

Der entscheidende Unterschied ist der, dass es bei moralischen Streitfragen darum geht, was getan werden sollte, und dass jede Seite sich auf die eine oder andere Weise engagieren muss. Sobald man diesen Unterschied sieht, sieht man auch, dass es unmöglich vernünftig sein kann, eine Sache nur deshalb auf sich beruhen zu lassen, weil jemand anderes mit einem selbst nicht einverstanden ist. (Der Begriff der Moral, 37, 39, 42, 43)

Nach diesen Erläuterungen der Begriffe MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit erledigt sich der RelativismusRelativismusvorwurf von selbst. Von RelativismusRelativismus kann nur die Rede sein, wenn man nur die eine Seite des Verhältnisses von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit untersucht, nämlich alles das, was unter den Ordnungsbegriff ›Moral‹ fällt, unter Abstraktion vom Prinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit.

MoralenMoral und ihre praxisregulierenden Normen sind Teil des kulturellen Selbstverständnisses einer Interaktionsgemeinschaft. Als Ensemble von gewachsenen und tradierten, mit einem Verbindlichkeitsindex versehenen Handlungsmustern sind sie ebenso vielfältig wie die KulturenKultur, die sich unter historischen, wirtschaftlichen, geographischen und geistig-religiösen Bedingungen als soziale Lebensformen herausgebildet haben. Kulturelle Vielfalt wird heute im Zeitalter einer globalen Vernetzung und eines erdumspannenden Tourismus fast nur noch als folkloristische Besonderheit wahrgenommen. Darüber gerät jedoch ein Aspekt aus dem Blick, den NIETZSCHENietzsche, F. verschiedentlich betont hat: die Abgrenzungsfunktion moralischer Wertschätzungen:

Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt. Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s. Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt. Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit. (Also sprach Zarathustra, Teil I; Von tausend und Einem Ziele)

Was NIETZSCHENietzsche, F. zur Genealogie der Pluralität von MoralenMoral anführt, ist deshalb wichtig, weil dadurch in Erinnerung gerufen wird, dass das Gruppenethos ursprünglich der Abwehr fremder KulturenKultur diente, deren prägender Kraft ein entschiedenes Andersseinwollen entgegengesetzt wurde. Man darf somit das Feindbild nicht vergessen, welches gerade jede Gemeinsamkeit zwischen den KulturenKultur verhindern sollte und dem Ethnozentrismus Vorschub leistete. Dies erklärt manche der Schwierigkeiten, die heute eine Verständigung der Menschen über die Grenzen hinweg behindern oder gar unmöglich machen, obwohl die Menschheit immer näher zusammenrückt und in einer Welt, deren Ressourcen immer knapper werden, auf faire Kooperation angewiesen ist. Wie tief die Gräben zwischen den Kontinenten sind, hat die Kontroverse um die MenschenrechteMenschenrechte exemplarisch gezeigt, in welcher die unterschiedlichen Vorstellungen vom WertWert und von der Würde menschlicher IndividuenMenschenwürde zum Vorschein kommen.

Es bedarf jedoch eines Minimalkonsenses bezüglich des normativen Fundaments, auf welchem Interaktionen in globalem Maßstab erfolgen können. Hier ist vor allem die Ethik gefordert, die einen wesentlichen Beitrag zur Herbeiführung eines Konsenses über universal gültige Prinzipien menschlichen Handelns und die existentiellen Bedingungen guten Lebens argumentativ leisten kann. Die Voraussetzung dafür ist jedoch eine gründliche Kenntnis der in anderen KulturenKultur anerkannten und als legitimiert geltenden NormenNorm resp. WerteWert, deren praxisorientierende und handlungswirksame Kraft daraufhin zu problematisieren ist, inwieweit sie universelle Gültigkeit beanspruchen kann.

Beschreibt man also nur die Vielzahl von MoralenMoral mitsamt ihren regional unterschiedlichen NormenNorm und Wertvorstellungen, dann entsteht der Eindruck, dass im Bereich der MoralMoral letztlich alles relativ ist: Was die einen für gut halten, lehnen die anderen als unzumutbar ab. Was bei den einen als Pflicht gilt, erscheint anderen als lächerlich. Was die einen als hochstehendes Verhaltensmuster auszeichnen, das belegen die anderen mit Sanktionen. Besonders kraß treten diese Unterschiede hervor, wenn man die MoralMoral eines Westeuropäers mit der eines Kannibalen vergleicht. Materiale NormenkatalogeNorm, die Binnen- oder GruppenmoralenGruppenmoral, sind insofern relativ, als sich ihr Gültigkeitsbereich immer nur auf die Gruppe erstreckt, in der sich die jeweilige MoralMoral als natürlich gewachsene herausgebildet hat. Keine MoralMoral ist absolut und allgemeingültig. Aber daraus zu schließen, dass moralisches HandelnHandeln/Handlungmoralische(s) überhaupt relativ und letzten Endes beliebig ist, scheint mir ein Fehlschluss zu sein. Selbst wenn sich auf der Ebene der MoralMoral keine einzige materiale Form, kein einziger WertWert finden ließe, der in jeder Gesellschaft VerbindlichkeitVerbindlichkeit beansprucht, so würde das nicht bedeuten, dass in Sachen MoralMoral am Ende alles gleich-gültig ist. Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man die ethische Prinzipienebene wegstreicht und damit den unbedingten Anspruch auf MoralitätMoralität/Sittlichkeit, der sich in jeder MoralMoral, die diesen Namen verdient, als SinnanspruchSinn zum Ausdruck bringt.

Die Tatsache, dass in moralischen Disputen oft kein KonsensKonsens erzielt wird, kann somit nicht als Beleg dafür angeführt werden, dass mit der MoralMoral etwas nicht stimmt, denn:

Faktisches Verhalten kann in keiner Weise über die normative Gültigkeit einer RegelRegel oder NormNorm entscheiden.

Selbst wenn die meisten Menschen es für richtig hielten, immer dann zu lügen, wenn damit ein Vorteil für sie verbunden wäre, kann daraus noch nicht geschlossen werden, dass dieses Verhalten auch an sich richtig, also moralisch zu rechtfertigen ist. Die EthikEthik geht somit davon aus, dass Meinungsverschiedenheiten in Angelegenheiten der MoralMoral zwar nicht immer de facto, wohl aber prinzipiell entscheidbar sein müssen, nämlich durch eine Überprüfung des jeweils vertretenen moralischen Grundsatzes am PrinzipPrinzip der MoralitätMoralprinzip.

Insofern hat die EthikEthik es durchaus nicht mit einem Gegenstand zu tun, der der Beliebigkeit das Wort redet. Ihre bleibende AufgabeEthikAufgabe der besteht vielmehr darin, die Begriffe MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit so aufeinander zu beziehenMethodeBegriff der, dass das Bedingte vom Unbedingten, das Veränderliche vom Unveränderlichen, faktische Geltung von normativer Gültigkeit her begriffen und umgekehrt das Unbedingte, Unveränderliche, Normative auf das Bedingte, Veränderliche, Faktische bezogen wird. Der Begriff der MoralMoral bezieht sich auf etwas Relativierbares, nicht so der Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit, der als PrinzipienbegriffMoralprinzip den Anspruch der MoralMoral begründen soll, und zwar im Sinne einer Letztbegründung durch Rekurs auf ein Unbedingtes, hinter das per definitionem nicht mehr zurückgegangen werden kann.

Die Ebene der MoralMoral ist jene Ebene, auf der wir uns vor allem bei unseren alltagssprachlichen Diskursen befinden, wenn wir uns die Frage stellen, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, wenn wir mit bestimmten Geboten und Verboten konfrontiert werden, die uns im Konfliktfall das Handeln erleichtern oder erschweren können. Auf der Ebene der MoralMoral beurteilen wir somit singuläre Handlungen im Licht jenes Moralkodex oder Regelkanons, den wir als für die Gesellschaft, zu der wir gehören, verbindlich erachten. Auf der ethischen Metaebene hingegen werden die Normen des geltenden Moralkodex bezüglich ihrer Gültigkeit problematisiert und daraufhin befragt, ob sie als Normen auch dann noch Bestand haben, wenn man davon abstrahiert, dass sie bereits seit vielen Generationen gelten, oder dass sie von einer großen Anzahl von Menschen tatsächlich befolgt werden. Die Frage nach dem Geltungsgrund von Normen ist mithin eine ethische Frage, was nicht bedeutet, dass man nicht auch in moralischen Diskursen seine Probleme so radikalisieren kann, dass man unversehens auf die Ebene des ethischen Diskurses gerät, allerdings meistens, ohne dies zu bemerken.

Wenn Ethik das Verhältnis von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit zu reflektieren hat, dann lassen sich von vornherein zwei Fehlformen einer ethischen Theorie charakterisieren, die aus einer einseitigen Perspektive hervorgehen. Eine Ethik, die bloß Phänomene der MoralMoral untersucht und dabei das PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit außer acht lässt, verliert sich im RelativismusRelativismus. Sie hat es nur mit Variablen, d.h. mit geschichtlich sich verändernden Handlungsmustern zu tun, für deren OrdnungOrdnung ihr die Konstanten, ein feststehendes Koordinatensystem sinnbegründender Prinzipien fehlen. Es würde sich um eine Ethik handeln, die sich ausschließlich auf der metamoralischen Ebene artikuliert, also letztlich deskriptive Aussagen erster OrdnungOrdnung macht. Umgekehrt wäre eine Ethik, die sich ausschließlich mit dem PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit beschäftigt und dabei die Phänomene der MoralMoral aus den Augen verliert, realitätsfern und verbliebe im Abstrakt-Spekulativen, ohne Bezug auf das, was Menschen – wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise – wirklich tun, indem sie moralisch handeln und urteilen. Eine solche Ethik würde ausschließlich normative Sätze zweiter OrdnungOrdnung formulieren und sich nicht darum kümmern, in welcher Beziehung solche Sätze zu Menschen als endlich geschichtlichen Wesen stehen, die unter gegebenen Bedingungen handeln müssen. Gegenstand einer umfassenden Ethik kann also weder die MoralMoral noch die MoralitätMoralität/Sittlichkeit jeweils isoliert für sich sein, sondern nur das Verhältnis von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit im Kontext menschlicher PraxisPraxis. PrinzipienPrinzip ohne Anbindung an eine MoralMoral, deren Sinn sie verbürgen sollen, bleiben eine unverbindliche Gedankenspielerei; MoralenMoral ohne Bezug auf ein ihre Geltungsansprüche legitimierendes normatives PrinzipPrinzip bleiben relativ und ebenfalls unverbindlich. Daher gehören MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit untrennbar zusammen.