Einführung in die Ethik

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Bei allen TabusTabu muss grundsätzlich immer wieder gefragt werden, inwieweit sie in der Tat noch dem Schutz wirklicher WerteWert wie MenschenwürdeMenschenwürde und persönliche FreiheitFreiheit dienen, oder ob sie nicht zu bloßen Druckmitteln entartet sind, um missliebiges Verhalten einzuschränken und Kontrollfunktionen über das erlaubte Maß hinaus auszudehnen. Tabus können veralten und aufgehoben werden, wenn sich herausstellt, dass die Menschen inzwischen einen natürlicheren oder aufgeklärteren Zugang zu dem ursprünglich tabuisierten Bereich gefunden haben, sodass die alten Verbote hinfällig werden oder einer Modifikation bedürfen. Als Beispiele wären hier die veränderte Beurteilung des Inzests und der Homosexualität zu nennen.

Die bisher skizzierten MoralsystemeMoral spielen in der Alltagspraxis, im Umgang mit den Mitmenschen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, eine große Rolle, ohne dass sich die meisten ausdrücklich darüber klar sind, wie weit ihre kommunikativen Verhaltensweisen von solchen MoralenMoral bestimmt, ja reglementiert sind. Erst wenn im Privatbereich persönliche (GewissenGewissens-) KonflikteKonflikt entstehen oder in der öffentlichen Diskussion Probleme erörtert werden, die sich aus einer Normen- resp. WertekollisionWert ergeben, wird sich der einzelne zum einen der Selbstverständlichkeit bewusst, mit der er bestimmten internalisierten moralischen Regeln fraglos folgt, zum andern aber auch seiner persönlichen Verantwortung, derer er durch die Befolgung von Vorschriften der geltenden MoralMoral keineswegs enthoben ist.

Es lassen sich drei Hauptklassen solcher NormenNorm- oder WertekollisionenWert, die zu einem GewissenGewissenskonfliktKonflikt führen können, unterscheiden:

 Es kann erstens passieren, dass NormenNorm, die zu ein und demselben MoralsystemMoral gehören, miteinander kollidieren.

 Dies ist z.B. der Fall, wenn sich die Regel, immer wahrhaftig zu sein, in einer bestimmten Situation mit der Regel, niemandem Leid zuzufügen, nicht in Einklang bringen lässt, sodass das Sagen der WahrheitWahrheit mit der Zufügung großen Leids verbunden ist, das Verschweigen der WahrheitWahrheit aber zu ständigem Lügen zwingt.

 Ein anderer Fall liegt vor, wenn das Leben eines Menschen nur durch den Bruch eines Versprechens oder durch Verrat gerettet werden kann.

 Es kann zweitens der Fall eintreten, dass NormenNorm, die zu verschiedenen MoralsystemenMoral gehören, miteinander kollidieren.

 Für den Pazifisten ist z.B. die Forderung, keine Waffen zu tragen und sich aus Kriegshandlungen herauszuhalten, mit der Forderung des Staates, sein Vaterland notfalls mit Waffen zu verteidigen, unvereinbar.

 Das katholische Verbot einer Schwangerschaftsverhütung durch »die Pille« kann mit einer ärztlichen oder sozialen Indikation zusammenstoßen, der gemäß eine Schwangerschaft schwerste leibliche und seelische Schäden zur Folge haben würde.

 Es kann schließlich drittens eine bestimmte, allgemein anerkannte NormNorm oder WertvorstellungWert das Selbstverständnis eines einzelnen so tiefgreifend beeinträchtigen, dass ihre Befolgung seine freie Selbstverwirklichung, auf die er einen moralischen Anspruch hat, in unzulässiger Weise behindern würde. Hier entsteht der KonfliktKonflikt nicht durch die Unvereinbarkeit von allgemeinen NormenNorm oder NormensystemenNorm, sondern durch den Zusammenstoß einer allgemein anerkannten mit einer in bestimmter Weise ausgelegten Individualnorm.

  Dies ist z.B. der Fall, wenn jemand homosexuell veranlagt ist und mit einem gleichgeschlechtlichen Partner zusammenlebt, was gegen die Institution der Ehe verstößt.

Das Gemeinsame der oben geschilderten KonfliktsituationenKonflikt liegt darin, dass sie nicht durch irgendeine öffentliche Autorität oder Instanz allgemein verbindlich für jeden Einzelfall a priori gelöst werden können, sondern von dem betroffenen Individuum selbstverantwortlich entschieden werden müssen. Zwar können öffentliche oder private Diskussionen dazu beitragen, in Pro- und Contra-Argumenten gute Gründe für die eine oder die andere Lösung zu formulieren und auf die möglichen Folgen der jeweiligen Entscheidung aufmerksam zu machen; außerdem können gesetzliche Regelungen den Entscheidungsraum einschränken, aber treffen muss die Entscheidung der einzelne, der sich in der KonfliktsituationKonflikt befindet, und er muss sie im Bewusstsein seiner moralischen Verantwortung treffen, d.h. nicht nach Gutdünken und ausschließlich persönlichem Wunsch und Willen, sondern unter Berücksichtigung dessen, was in der Gemeinschaft gilt, zu der er gehört. Er muss somit bereit sein, sich vor dieser Gemeinschaft bezüglich seiner Entscheidung zu rechtfertigen, mithin die Gründe offenzulegen, die ihn bewogen haben, so zu handeln, wie er gehandelt hat bzw. handeln möchte. Ganz gleich wie seine Entscheidung de facto ausfällt, sie wird in den exemplarisch geschilderten Fällen immer gegen die eine oder die andere NormNorm verstoßen und insofern mit einem gewissen Maß an moralischer SchuldSchuld verbunden sein. Doch ist die grundsätzliche Bereitschaft, eine solche Entscheidung zu rechtfertigen, vor anderen zu verantworten, ein Indiz dafür, dass die betreffende Person nicht unmoralisch ist, sondern dass es vielmehr in Ausnahmefällen und Extremsituationen rechtens sein kann, den Anspruch einer bestimmten moralischen NormNorm zugunsten einer höher geschätzten NormNorm nicht zu erfüllen.

Eine geltende MoralMoral bzw. eine moralische Regel kann aus Moralität in Frage gestellt oder negiert werden.

In den verschiedenen historisch entstandenen Moralsystemen kommt ein NormenpluralismusNorm zum Ausdruck, durch den die Alltagspraxis und damit zugleich das Freiheitsverständnis von Menschen bestimmt wird. Das spiegelt sich in einer Vielzahl von inhaltlich differierenden Geboten, Verboten, Handlungsanweisungen, Regeln, Vorschriften und dergleichen mehr. Es fragt sich nun, ob es sich bei der Mannigfaltigkeit dieser NormenNorm um eine heterogene Vielfalt handelt, oder ob sie sich nicht trotz aller inhaltlichen Differenz doch allesamt auf einen als Moralkriterium fungierenden formalen Grundsatz zurückführen lassen. Ein solcher Grundsatz, der auf die Bibel zurückgeht, ist z.B. als »Goldene RegelRegelGoldene« allgemein bekannt:

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu;

oder positiv formuliert:

Behandle deine Mitmenschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst. (Vgl. AT: Tobias 4, 16; NT: Matth. 7, 12; Luk. 6,31)

Diese Regel verlangt somit vor jeder konkreten Einzelentscheidung, dass man sich in die Lage des oder der von ihr Betroffenen versetzen soll, um zu prüfen, ob man die Entscheidung auch dann gutheißen würde, wenn ein anderer sie fällen würde und ich dadurch unmittelbar oder mittelbar betroffen wäre.

Die Goldene RegelRegelGoldene ist nicht selber eine moralische NormNorm, sondern soll als Maßstab von moralischen NormenNorm fungieren, d.h. sie schreibt nicht inhaltlich vor, was im Einzelnen getan werden soll; sie gebietet vielmehr rein formal, wie generell gehandelt werden muss, damit die Handlung als moralischHandeln/Handlungmoralische(s) anerkannt werden kann. Die HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) gilt dann als moralisch, wenn sie nicht Folge eines bloß subjektiven, unmittelbaren WollensWollen (BedürfnissesBedürfnis oder Interesses) ist, sondern Ausdruck eines sich von seinem unmittelbaren Begehren distanzierenden und auf den WillenWille anderer Subjekte beziehenden, intersubjektiv vermittelten WillensWille.

Allerdings gibt es ein Problem, das auch die Goldene RegelRegelGoldene nicht zu lösen vermag, nämlich das Problem des Fanatikers, der dem Grundsatz huldigt: fiat iustitia, pereat mundus – Gerechtigkeit muss sein, auch wenn die Welt daran zugrunde geht. Der Fanatiker wäre also grundsätzlich bereit, Gewalt und Tod zu erleiden, wenn er selber in der Rolle des Betroffenen wäre. Die Goldene RegelRegelGoldene versagt in diesem Fall; sie funktioniert nur, solange es um ›normales‹ moralisches Verhalten geht. Sobald jemand die katastrophalen FolgenFolgen einer unmenschlichen Tat für sich selbst akzeptiert und zu tragen bereit ist, endet nicht nur die Plausibilität der Goldenen RegelRegelGoldene, sondern die Wirksamkeit jedes noch so vernünftigen Arguments, da moralische Eiferer und Fanatiker sich auf keinen echten Dialog einlassen.

Lenkt die Goldene RegelRegelGoldene den Blick auf die Qualität des Willens, durch den eine Tat zu einer moralischen HandlungHandeln/Handlung wird, so bezieht sich eine andere Formulierung des Maßstabs der Moral, der in der Alltagspraxis ebenfalls häufig Verwendung findet, auf die möglichen FolgenFolgen einer HandlungHandeln/Handlung: Nach dem Prinzip der VerallgemeinerungPrinzip der Verallgemeinerung (umgangssprachlich in dem Argument enthalten: »Stell’ dir vor, was passieren würde, wenn alle so handelten wie du.«) gilt eine HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) dann als unmoralisch, wenn ihre generelle Ausführung unzumutbare Konsequenzen nach sich zöge.

In einem sehr trockenen Sommer herrscht Wasserknappheit, und jeder ist gehalten, seinen Wasserverbrauch einzuschränken. Herr X füllt seinen Swimmingpool neu auf. Frau Y lässt den ganzen Tag den Rasensprenger laufen. Nachbar Z weist beide auf die katastrophalen FolgenFolgen hin, die sich ergäben, wenn jeder die gleichen Wassermengen verbrauchte.

Das Prinzip der Verallgemeinerung appelliert somit an das VerantwortungsbewusstseinVerantwortung des Handelnden, indem es ihn dazu verpflichtet, die Zukunft mitzuberücksichtigen und nicht um der Befriedigung eines aktuellen Bedürfnisses willen die eventuellen FolgenFolgen einer HandlungHandeln/Handlung außer Acht zu lassen. Dieses Problem stellt sich heute in besonderem Maß im Zusammenhang mit Umweltfragen. Können wir es moralisch verantworten, unseren Nachkommen eine durch Abgase, Müll und atomare Verseuchung zerstörte Welt zu hinterlassen, nur um uns einen möglichst hohen Lebensstandard zu ermöglichen?

 

1.3 Der Ansatz ethischen Fragens

Im Anschluss an die Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen der MoralMoral, wie sie uns im Alltag begegnet, lässt sich nun der Begriff der MoralMoralBegriff der bestimmen und gegen den Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit abgrenzen. Zugleich kann in einem ersten Anlauf die Aufgabe der EthikEthikAufgabe der umrissen werden, die sich weniger mit Einzelphänomenen und Spezialproblemen der MoralMoral als mit der begrifflichen Struktur des Verhältnisses von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit befasst.

Im Wesentlichen sind es drei Momente, die den Begriff der MoralMoralBegriff der (im Sinne von ἔθοςEthos) charakterisieren:

 Der Begriff der MoralMoralBegriff der umfasst alle teils naturwüchsig entstandenen, teils durch Konvention vereinbarten, teils durch TraditionTradition überlieferten, aus wechselseitigen AnerkennungsprozessenAnerkennung hervorgegangenen OrdnungOrdnungs- und Sinngebilde (RegelRegelsysteme), die in Form eines Katalogs materialer Normen und WertWertvorstellungen einerseits die BedürfnisbefriedigungBedürfnis einer menschlichen Handlungsgemeinschaft regeln und andererseits in dem, was von dieser allgemein als verbindlich (als Pflicht) erachtet wird, Auskunft über das jeweilige FreiheitsverständnisFreiheit der Gemeinschaft geben.1

 Der Begriff der MoralMoralBegriff der ist ein OrdnungOrdnungs-, kein Prinzipienbegriff. Ordnungsbegriffe (wie z.B. »Staat«, »Erkenntnis«, »Kunst«) fassen mannigfaltige empirische Gegebenheiten und Tätigkeiten unter einem bestimmten Aspekt zu einem SinnganzenSinn zusammen. So könnte man den Begriff ›Staat‹ als Inbegriff rechtlich-politisch-ökonomischer Verhältnisse bestimmen, durch die eine Gesellschaft ihren Interaktionszusammenhang regelt. Erkenntnis wäre der Inbegriff der durch wissenschaftliche Forschung und intellektuelle Tätigkeit erzielten Ergebnisse. Kunst ließe sich als Inbegriff der durch menschliche Phantasie und Kreativität hervorgebrachten Produkte definieren.

Die vermittels solcher Ordnungsbegriffe unterstellte Ordnung setzt fraglos und unausdrücklich einen SinnSinn voraus, der allererst noch der Begründung bedarf. Eine derartige Begründung geschieht durch PrinzipienbegriffePrinzip, Begriffe also, die die logische Voraussetzung, die Bedingung nennen, unter der das vermittels des Ordnungsbegriffs zusammengefasste Gebilde als ein sinnvolles Ganzes aufgefasst werden kann. In unseren Beispielfällen ›Staat‹, ›Erkenntnis‹ und ›Kunst‹ würden etwa die Begriffe GerechtigkeitGerechtigkeit, WahrheitWahrheit und Schönheit als PrinzipienbegriffePrinzip fungieren, durch die der SinnanspruchSinn der Ordnungsbegriffe eingelöst wird.

Was folgt aus dieser Unterscheidung zwischen Ordnungs- und PrinzipienbegriffenPrinzip für den Gegenstand der Ethik? Auch durch den Begriff »MoralMoralBegriff der« wird etwas zusammengefasst, das mit einem allgemeinen Geltungsanspruch verbunden ist, der gleichwohl geschichtlich veränderbar, revidierbar ist, denn mit dem FreiheitsverständnisFreiheit von Menschen ändert sich auch die MoralMoral. Eine veraltete, zu bloßen Zwangsmechanismen erstarrte, kein freiheitliches Selbstverständnis mehr begründende MoralMoral kann, ja muss durch eine neue MoralMoral abgelöst werden. MoralenMoral differieren somit nicht nur in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Gruppe zu Gruppe, von Land zu Land, von Volk zu Volk etc., sondern machen auch selber im Verlauf kultureller, sozio-ökonomischer, politischer, wissenschaftlicher und anderer Entwicklungen einen dem sich verändernden menschlichen Selbstverständnis entsprechenden Wandel durch.

 Der Begriff der MoralMoralBegriff der bezieht sich auf etwas, das seinem Inhalt nach veränderlich, seinem Anspruch nach aber unveränderlich ist. Der Inhalt oder die Anwendung von Geltungsansprüchen kann veralten, unzeitgemäß werden, aber das bedeutet nicht, dass es irgendwann einmal überhaupt keine moralischen Geltungsansprüche mehr geben wird, vielmehr treten an die Stelle alter Sollensforderungen neue, als »zeitgemäßer« anerkannte NormenNorm, die jedoch ebenfalls keineswegs »ewig« gelten, sondern in der PraxisPraxis ständig hinterfragbar, kritisierbar, modifizierbar bleiben müssen. RegelnRegel gelten nur so lange, wie sie von der Mehrheit der Handlungsgemeinschaft anerkannt und befolgt werden. Sie sind somit Produkt einer gemeinsamen freien Willensentscheidung, und solange sie als solches bestätigt werden, sind sie sinnvoll.

MoralenMoral können sich ändern und von Gruppe zu Gruppe variieren; dennoch ist menschliches HandelnHandeln/Handlung ohne eine den SinnSinn solchen HandelnsHandeln/Handlung bestimmende MoralMoral kein humanes HandelnHandeln/Handlung, d.h. dass HandlungenHandeln/Handlung sich an selbstgesetzten NormenNorm orientieren, ist ein Indiz für die dem Menschen wesentliche FreiheitFreiheit, die keine Willkürfreiheit, sondern durch AnerkennungAnerkennung intersubjektiv vermittelte Freiheit ist und als solche den Namen MoralitätMoralität/Sittlichkeit erhält. Eine MoralMoral heißt daher so lange zu Recht eine Moral, als sie Ausdruck von MoralitätMoralität/Sittlichkeit ist und die Realisierung eines Unbedingten im Bedingten fordert.

Eine MoralMoral ist eine endlich-geschichtliche Gestalt der dem Menschen wesentlichen FreiheitFreiheit und bedarf als solche der ständigen Begründung und Legitimation durch den Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit.

Der Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit ist im Unterschied zum Begriff der MoralMoralBegriff der kein Ordnungs-, sondern ein PrinzipienbegriffPrinzip: Durch ihn wird eine Mannigfaltigkeit von Phänomenen nicht als eine Einheit begriffen, sondern in ihrem SinnanspruchSinn begründet. Im Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit wird FreiheitFreiheit als das Unbedingte gedacht, als der unbedingte Anspruch, FreiheitFreiheit um der FreiheitFreiheit willen als das höchste menschliche GutGut, höchstes zu realisieren. Dieser unbedingte Anspruch ist keinem geschichtlichen Wandel unterworfen; er hält sich als das Unwandelbare im Wandelbaren, als das Unveränderliche im Veränderlichen durch und fordert zu jeder Zeit eine dem jeweiligen Selbstverständnis des Menschen angemessene Verwirklichung des Unbedingten im Bedingten. Durch den Terminus »das Unbedingte« soll zum Ausdruck gebracht werden, dass PrinzipienbegriffePrinzip keine empirischen Begriffe sind, sondern VernunftVernunftbegriffe. Sie fassen weder empirische Phänomene zusammen, noch sind sie aus solchen ableitbar. Insofern beziehen sie sich auf etwas Un-bedingtes = nicht empirisch Bedingtes. PrinzipienbegriffePrinzip wie GerechtigkeitGerechtigkeit, WahrheitWahrheit, Schönheit, MoralitätMoralität/Sittlichkeit stammen aus der VernunftVernunft, d.h. die VernunftVernunft entwickelt solche Ideen im Hinblick auf begründungsbedürftiges Empirisches, das aufgrund seiner Bedingtheit nicht fähig ist, sich selber einen Sinn zu geben.

MoralitätMoralität/Sittlichkeit (im Sinne von ἦθος) ist das zur festen Grundhaltung gewordene Gutseinwollen, das sich den unbedingten Anspruch der FreiheitFreiheit zu eigen und zum Sinnhorizont jedweder PraxisPraxis gemacht hat. Wer aus dieser Grundhaltung heraus handelt, besitzt moralische KompetenzKompetenz, moralische. Was aus MoralitätMoralität/Sittlichkeit geschieht, gilt zu Recht als moralisch, selbst wenn eine solche Konkretisierung von FreiheitFreiheit im Grenzfall gegen NormenNorm einer faktisch geltenden MoralMoral verstößt. Im Begriff der moralischen KompetenzKompetenz, moralische, der Einsicht und Besonnenheit im Bereich des Praktischen meint sowie Entschlusskraft und Verantwortungsbewusstsein, vermitteln sich MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit.

Moralische KompetenzKompetenz, moralische im eigentlichen Sinn besitzt somit nicht derjenige, der den geltenden MoralkodexMoralkodex und das gängige WertWertesystem fraglos internalisiert hat – so jemand wäre mit NIETZSCHENietzsche, F. gesprochen nicht viel mehr als ein gut abgerichtetes Tier –, moralische KompetenzKompetenz, moralische besitzt vielmehr ausschließlich derjenige, der sich MoralitätMoralität/Sittlichkeit zum PrinzipPrinzip seiner WilleWillensbildung und PraxisPraxis gemacht hat. Moralisch kompetentKompetenz, moralische kann man nur aus sich selbst und durch sich selbst sein – analog wie man jemandem nur dann eine mathematische Kompetenz zuschreibt, wenn er nicht bloß rechnen kann, sondern darüber hinaus die Grundlagen der Mathematik kennt und von dorther jede einzelne Rechenoperation erklären kann. Wer aus moralischer KompetenzKompetenz, moralische moralisch handelt, vermag Rechenschaft abzulegen über die Gründe seines Tuns, wobei der letzte Grund aller Gründe eben das PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit qua Freiheitsprinzip im Sinne von AutonomieAutonomie ist: FreiheitFreiheit, die sich um der Freiheit aller willen an NormenNorm und WertWerte bindet, durch die der größtmögliche Freiheitsspielraum ermöglicht wird. Moralisch kompetentKompetenz, moralische ist der mündige Mensch, der seine Entscheidungen nicht nur gegenüber sich selbst, sondern auch gegenüber seinen Mitmenschen zu verantworten vermag. Moralische KompetenzKompetenz, moralische und VerantwortungVerantwortung gehören untrennbar zusammen, sie sind die beiden Seiten einer FreiheitFreiheit, die sich als MoralitätMoralität/Sittlichkeit versteht. Diese FreiheitFreiheit ist nicht WillkürWillkür. WillkürWillkür hat die Beliebigkeit auf ihr Panier erhoben, und im Gefolge der WillkürWillkür – unter dem Motto: alles ist erlaubt; wir tun, was uns gefällt – entsteht immer Ungerechtigkeit, Unterdrückung anderer, Unfreiheit. FreiheitFreiheit im Sinne von MoralitätMoralität/Sittlichkeit hingegen stellt sich freiwillig unter die Pflicht der VerantwortungVerantwortung und Rechtfertigung, denn auch einer, der guten WillensWilleguter ist und moralische KompetenzKompetenz, moralische besitzt, ist nicht frei von Irrtum und SchuldSchuld. Wer sich jedoch Moralität zum PrinzipPrinzip seines Handelns gemacht hat, bekundet damit auch die Absicht, seine Handlungsstrukturen so durchsichtig wie möglich zu machen, um Irrtümern und SchuldSchuld möglichst wenig Raum zu geben.

Der Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit ist somit das PrinzipPrinzip aller Moral(en), der eine Moral als Moral legitimierende Sinngrund. Die Begriffe Moralität und Moral weisen daher wechselseitig aufeinander zurück:

Wie eine Moral sich nur im Rückgriff auf das PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit rechtfertigen kann, indem sie ihre materialen NormenNorm als Ausdrucksformen des Unbedingtheitsanspruchs der FreiheitFreiheit erweist, so ist das PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit zur Erfüllung seines Anspruchs auf eine Moral angewiesen, in der es sich konkretisiert und als handlungsbegründendes Prinzip wirksam wird.

Dieses Wechselverhältnis von Moral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit, das die menschliche PraxisPraxis als eine humane PraxisPraxis fundiert, ist der zentrale Gegenstand der Ethik: Die Ethik reflektiert das Verhältnis von Moral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit. Indem sie die Dialektik von Moral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit in Gang setzt, erfüllt die Ethik ihre kritische Absicht, nämlich im Hin- und Hergehen zwischen den bedingten Ansprüchen der Moral einerseits und dem unbedingten Anspruch des Moralitätsprinzips andererseits einen Aufklärungsprozess in Gang zu setzen, durch den dogmatische Fixierungen, Vorurteile und Handlungszwänge transparent gemacht bzw. aufgelöst werden.

Ethische Fragen haben sich aus dem Problembereich der Alltagspraxis durch Radikalisierung moralischer Fragen entwickelt. Moralische Gebote treten z.B. meistens – wenn auch nicht notwendig – in Sätzen mit imperativischer FormImperativ auf:

Versprich mir, dass du mich nicht belügen wirst!

Schwöre mir ewige Treue!

Tu deine Pflicht und mach’ deine Arbeit ordentlich!

 

Hilf mir in der Not!

Du solltest dich gegenüber älteren Leuten höflicher benehmen!

Aber auch indikativische Formulierungen enthalten in versteckter Form eine Handlungsaufforderung:

Lügen haben kurze Beine.

Hilfsbereitschaft ist eine menschliche Tugend der Nächstenliebe.

Ohne Fleiß kein Preis.

Die in derartigen Sätzen ausgesprochenen Aufforderungen zu einer bestimmten Handlung sind dann erfüllt, wenn der durch sie Aufgeforderte entsprechend handelt: sich wahrhaftig bzw. höflich und treu verhält, ordentlich arbeitet, nach Kräften hilft.

Häufig wird jedoch die Berechtigung einer solchen Aufforderung bestritten, und die geforderte Handlung bleibt aus, sei es aus mangelnder Einsicht, aus Trotz oder Mutwillen, sei es aus besserer Einsicht oder persönlicher Überzeugung. Hier liegt der Ansatz für allgemeinere, grundsätzliche Fragestellungen, wie sie dann in der Ethik eingehend thematisiert werden:

 Warum müssen Versprechen gehalten werden?

 Weshalb darf man nicht lügen, die Treue brechen?

 Wieso muss man immer seine Pflicht tun?

 Gehört es zu den Pflichten eines Menschen, ordentlich zu arbeiten?

 Muss man anderen in der Not helfen?

Diese und ähnliche Fragen gipfeln allesamt in der Frage:

Warum soll der Mensch überhaupt moralisch und nicht vielmehr nicht moralisch handeln?

Wenn die Ethik von solchen Fragen ihren Ausgang nimmt, so interessiert sie sich primär nicht für Antworten, die auf ein Bedingtes (d.h. empirische Bedingungen) rekurrieren, wie z.B. Antworten des Typs:

 weil die anderen ein bestimmtes Verhalten von einem erwarten, das man selber in einer ähnlichen Lage von den anderen ebenfalls erwartet,

 weil Respektpersonen und Autoritäten (wie Eltern, Kirche, Staat u.a.) hinter den Sollensforderungen stehen,

 weil man sich in seinem Wirkungskreis Achtung und Wertschätzung erwerben will,

 weil es, wie Erfahrung und Geschichte lehren, ohne moralische Regeln und Pflichten keine Sozietät, sondern nur Chaos, KriegKrieg, H. aller gegen alle geben würde.

Solche Antworten, die sich auf empirische Bedingungen beziehen und Material über das Selbstverständnis von Menschen liefern, sind zwar im Einzelfall durchaus informativ und werden bis zu einem gewissen Grad auch als ausreichend anerkannt; sie befriedigen aber ethisch nicht, weil sie selbst noch einmal hinterfragbar sind und insofern keine grundsätzlichen Antworten darstellen. Man kann ja weiterfragen:

 Warum soll man denn nur solche Erwartungen an andere stellen, die man auch an sich selbst zu stellen bereit ist?

 Inwiefern sind Autoritäten in moralischen Angelegenheiten kompetenter als man selbst?

 Weshalb soll man sich überhaupt um die Wertschätzung der Mitmenschen kümmern?

 Warum soll man nicht dem Prinzip der GewaltGewalt folgen und sich darum bemühen, MachtMacht über andere Menschen zu erlangen?

Auch diese Fragen lassen sich wieder durch Rückführung auf ein Bedingtes beantworten und so fort bis ins Unendliche. Ein solcher regressus in infinitum erbringt zwar eine Fülle von Teilantworten, aber keine letztgültige Antwort, hinter die sinnvollerweise mit keiner weiteren Frage mehr zurückgegangen werden kann. Um eine solche letztgültige Antwort aber geht es der Ethik, und diese kann sie nur im Rekurs auf ein Unbedingtes, dem per definitionem nichts mehr als seine Bedingung vorausliegt, formulieren. Die Ethik, sofern sie eine zureichende Begründung der Moral liefern will, muss auf ein Unbedingtes, Letztgültiges rekurrieren, das ihren normativen Anspruch verbürgt. Dieses Unbedingte begreift die Ethik im Prinzip der Moralität als FreiheitFreiheit, und zwar als FreiheitFreiheit, die keinen Grund außerhalb ihrer selbst hat, sondern sich selbst begründet. Wo immer menschliches HandelnHandeln/Handlung mit einem Anspruch auf Moralität auftritt, wird behauptet, unbedingt gut gehandelt zu haben oder handeln zu wollen. Unbedingt gut kann aber nur eine HandlungHandeln/Handlung heißen, die sowohl aus FreiheitFreiheit geschieht als auch FreiheitFreiheit (des Handelnden und der durch die HandlungHandeln/Handlung Betroffenen) zum Ziel hat.