Flammenreiter

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Kapitel 4

M

it dem inzwischen in die Jahre gekommen Fernsehgerät ging die Familie O’Sullivan recht sparsam um. Nur selten wurde das Gerät eingeschaltet, denn nur selten gab es etwas Besonderes, das ihrer Meinung nach überhaupt ein Anschauen wert war. In der Regel saßen sie erst gemeinsam in der geräumigen Wohnküche, anschließend wechselten sie ins Wohnzimmer, unterhielten sich oder gingen ihren Hobbys nach.

Auch an diesem Abend war es nicht anders und der Fernseher blieb ausgeschaltet. Mehr als genug gab es zu besprechen. Es ging um den Brand der Stallung, die qualvoll verendeten Milchkühe, die Frage der Instandsetzung und natürlich auch um Elliot Abercrombies ständige Versuche sich ihre Farm unter den Nagel zu reißen.

»Elliot Abercrombie!«

Der Name stand plötzlich laut im Raum. Adam O’Sullivan hatte den Namen wütend ausgesprochen. Seine Frau sah zu ihm hinüber und legte den Stopfpilz aus der Hand, mit dem sie einige Socken gestopft hatte.

»Ist der Mann nicht schon reich genug?« Er nahm die Kaffeekanne vom Stövchen und füllte sich noch einmal seine Tasse. »Ich verstehe nicht, wieso der seit einigen Wochen wie ein Verrückter alle alten Farmen aufkauft.« Er nahm keine Milch und keinen Zucker. Kaffee musste schwarz sein, sagte er immer. »Und noch weniger verstehe ich, warum die auch noch froh sind, an ihn verkaufen zu können.« Der alte Mann nahm einen Schluck und blickte seine Frau an. »Verstehst du das, Liebes?«

Kate O’Sullivan schüttelte den Kopf. Sie zupfte einen weiteren Strumpf aus dem kleinen Korb neben ihrem Stuhl. Betrachtete das Loch in der Spitze. Dann nahm sie den Stopfpilz wieder auf und widmete sich ihrer Arbeit.

»Wir werden jedenfalls bleiben!« Er sagte es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Abercrombie hat seine Finger doch überall drin«, begann Logan. Er klopfte zum Nachdruck auf den Holztisch. »Fängt bei Tankstellen an, geht über diverse Fabriken bis zu Warenhausketten. Keine Ahnung wo der noch mitmischt. Der gehört zu der Sorte, die den Hals nicht voll genug bekommen können.«

Kenneth legte die Gabel beiseite mit der er die letzten Kuchenkrümel aufgesammelt hatte.

»Und mit diesem Graham Hamilton hat er den richtigen Handlanger gefunden«, meinte er. »So wie ich diesen Typen einschätze, schreckt der vor nichts zurück.«

Dafür hielt sich Kate O’Sullivan zurück. Sie war schon den ganzen Abend über auffallend schweigsam.

»Wir sollten jetzt schlafen gehen«, meinte sie nach einer Weile. Den Strumpf hatte sie unfertig zurückgelegt. Aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht mehr richtig darauf konzentrieren. »Morgen gibt es wieder viel zu tun. Da wartet eine Menge Arbeit auf uns.«

Ihr Gesicht wirkte steinern. Sie erhob sich langsam und wollte damit beginnen den Tisch abzuräumen, als ein stetig anschwellendes Brausen ertönte. Dann begann das Haus in seinen Grundfesten zu beben.

»Das sind die Flammen ...«, entfuhr es Adam O’Sullivan erschrocken.

»Nein, Adam!«, schrie seine Frau sofort. Entsetzt sprang sie auf ihn zu und verschloss ihm den Mund mit ihrer zitternden Hand. »Sprich das Wort nicht aus!«

Kate O’Sullivan bekreuzigte sich. Schreckensbleich wandte sie sich an ihre Kinder.

»Ihr bringt euch sofort in Sicherheit! Schnell!«, rief sie panisch.

Alle starrten die kleine, rundliche Frau mit dem silbergrauen Pferdeschwanz verständnislos an. Keiner von ihnen rührte sich auch nur einen Millimeter von der Stelle.

»Ja, begreift ihr denn nicht?«

Kate O’Sullivan begann heftig zu schluchzen. Gehetzt sah sie sich nach ihren Familienangehörigen um, während sich das Brausen des Sturmes zunehmend verstärkte.

»Sie sind! Sie sind es wirklich! Sie überfallen uns!«, rief sie. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit geöffnet. »Könnt ihr das Böse denn nicht fühlen?«

Ihre Tochter Hannah lief auf sie zu und wollte sie beruhigen, als es passierte. Die hölzernen Fensterläden, mit denen die Fenster und Türen gesichert waren, flogen krachend auf. Fensterscheiben zerbarsten. Sofort drang eisige Luft in die wohlig geheizte Wohnstube. Die Deckenlampe begann zu schwanken. Das Licht warf gespenstische Schatten auf die Wände. Dann wurde das Bild einer heiligen Madonna von seinem Nagel an der Wand gerissen. Es segelte quer durch das Wohnzimmer. Klirrend zerbrach das Glas beim Aufschlag an der gegenüberliegenden Wand.

Von Draußen ertönte plötzlich ein schauerliches, ein wahrhaft teuflisches Lachen, gefolgt von einem gellenden Schrei. Kreischende Stimmen waren zu hören. Es schien als würden sie von allen Seiten kommen, als würden sie auf etwas antworten.

Dann wieherten und schnaubten Pferde. Hufe scharrten. Hunde bellten. Und immer wieder krachten harte Schläge auf das Farmhaus nieder. Die Zimmerdecke vibrierte und Putz bröckelte herunter. Das Licht der Deckenlampe flackerte. Nach einer Weile ging es völlig aus. Im Raum wurde es stockdunkel.

Starr, vor Schrecken wie gelähmt standen die O’Sullivans im Wohnzimmer. Vor Angst zitternd sahen sie sich nach den Angreifern um. Aber nichts passierte. Noch blieben sie unsichtbar.

Wieder schnaubten die Pferde vor dem Haus. Dumpfe Rufe drangen in die Stube. Dann schmetterte ein Jagdhorn. Es war ein schauriger Ton.

Es war Kate O’Sullivan, die sich als erste wieder rührte.

»Sie sind es! Sie sind da!«, schrie sie völlig außer sich. »Lauft um euer Leben! Lauft endlich!«

Ihre Aufforderung kam zu spät!

Plötzlich drangen sie in das Haus ein - die Flammenreiter! Sie kamen durch die Fenster und die Türen. Einige brachen durch das zerschmetterte Dach ein. Andere rissen mächtige Breschen in die alten Natursteinwände.

All das wurde begleitet von einem Leuchten, das die Wohnstube gespenstisch ausleuchtete. Aus Boden und Wänden schien ein blassblaues Licht zu dringen. Um das Haus schlugen heftige elektromagnetische Entladungen in den Boden. Der die Blitze begleitende Donner betäubte die fünf im Haus gefangenen Menschen. Die Erde erbebte unter der höllischen Gewalt.

Kate O’Sullivan schrie qualvoll auf, als sich zwei Flammenreiter gleichzeitig vom Flur aus durch die Tür ins Wohnzimmer hineindrängten und auf ihren ältesten Sohn zustürzten. Sie trugen Wappenröcke der Ritterschaft des Mittelalters. In den schweren Rüstungen jedoch steckten Skelette, die bedrohlich ihre knochigen Finger nach dem jungen Mann ausstreckten.

Schreiend wollte Logan vor ihnen zurückweichen, doch sie waren schneller. Ohne Gnade packten sie ihn.

Als Kate O’Sullivan das sah, brach sie zusammen. Dem Sterben ihres ältesten Sohnes beizuwohnen war zu viel für sie. Die nun ins Haus stürmende wilde Meute von riesigen, skelettierten Hunden, die sich auf ihren Mann stürzten, nahm sie nicht mehr wahr. Und auch nicht, wie ihr Sohn Kenneth unter dem tödlichen Biss eines Hundes sein Leben aushauchte.

Die Hundedämonen sahen Wölfen ähnlich, waren aber deutlich größer und in ihren Augen loderte das ewige Feuer der jenseitigen Welt, dem Reich der Toten. Mit ihren Zähnen und Krallen verbreiteten sie die Schrecken und Qualen der Unterwelt.

Für Kate O’Sullivan war es fast eine Erlösung, als sich aus der Schar der höllischen Gestalten ein bärengroßer Dämon löste, unter dessen Pfoten Funken hervorsprühten. Er hatte unterarmlange Eckzähne und aus seinem Rücken wuchsen nadelspitze Knochen. Das säbelzahntigerähnliche Tier bestand nur aus dem Skelett, in dessen leeren Augenhöhlen es unheimlich glühte.

Der Dämon warf sich direkt auf die schluchzende und wimmernde Frau. Mit einem kräftigen Stoß eines Eckzahnes beendete er ihr Entsetzen.

Kate O’Sullivans letzter Gedanke galt ihrer Tochter Hannah. Die alte Frau hatte aber keine Kraft mehr sich aufzurichten. Sie konnte nicht mehr sehen, was mit dem Mädchen geschah.



Kapitel 5

K

einer der Familie Cavanaugh schaffte es in dieser Nacht auch nur ein Auge zu schließen. Zwar wurde die Laoghaire-Farm nicht von der vollen Wucht des Sturmes getroffen, aber es war auch so schlimm genug. Mehrmals sprangen die Fensterläden auf. Edward Cavanaugh und sein Sohn Callum mussten nach draußen und gegen das Unwetter ankämpfen. Sie hatten Sorge, dass der Sturm die Fensterscheiben bersten lassen könne. Die beiden schafften es endlich die Holzläden festzuzurren, mussten aber gleich feststellen, dass es damit noch lange nicht getan war. Inzwischen hatte das Unwetter einen Teil des Scheunendaches angehoben und Dachpfannen waren heruntergefallen. Damit bot das Dach eine Angriffsfläche. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann weitere Teile abgedeckt wurden.

Sie waren kaum hinübergelaufen und versuchten gerade über eine herbeigeschaffte Leiter nach oben zu gelangen, als eine weitere Sturmbö weitere Teile des Daches in die Nacht hinauswirbelte. Hilflos mussten sie dabei zuschauen. Einem anderen Windstoß gelang es sogar das schwere Scheunentor aus den Angeln zu reißen.

In diesem Augenblick war beiden klar, dass sie damit den größten Teil der Wintervorräte verloren hatten.

Der alte Mann und sein Sohn gaben auf und kehrten ins Haus zurück. Draußen gab es nichts mehr, was sie gegen das Unwetter hätten ausrichten können.

»Das ganze Futter!« Edward Cavanaugh knirschte mit den Zähnen, während er sich einen Pott Kaffee auf dem Gasherd in der Küche heiß machte. »Wie sollen wir nur den kommenden Winter überstehen? Wir ...«

 

Hollie war hinter ihn getreten, schmiegte sich an ihn und legte ihre Arme um seinen Bauch.

»Lass gut sein, Ed«, sagte sie leise. »Wie lange sind wir nun schon zusammen?« Sie erwartete keine Antwort. »Wir haben schon so viel durchgestanden. Meinst Du nicht, dass wir es auch diesmal zusammen durchstehen?«

Callum Cavanaugh hatte den Fensterladen in der Küche geöffnet. Er starrte in den rabenschwarzen Nachthimmel und beobachtete den Sturm. Immer wieder zuckten vereinzelte verästelte Blitze auf.

»Ihr müsst euch das unbedingt ansehen«, sagte er nach einer Weile. »Gewöhnliches Unwetter sieht anders aus. Da stimmt was nicht!«

Edward und Hollie Cavanaugh traten an die Seite ihres Sohnes und blickten hinaus.

Wieder erhellten die Blitze den Nachthimmel. Bizarre Wolkengebilde, die in atemberaubender Geschwindigkeit dahinzogen, zeichneten sich ab.

Plötzlich schrie Hollie Cavanaugh überrascht aus.

»Die Flammenreiter!« Es klang wie ein heiseres Krächzen. Ihre Stimme war kurz davor den Dienst völlig zu versagen. »Seht ihr! Dort!« Die Endsechzigerin streckte ihren rechten Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf einen Punkt am Horizont. »Da sind sie!«

Jetzt sahen es auch die beiden.

Die Wolken nahmen tatsächlich das Aussehen von überdimensionalen Reitern an. In den Händen schienen sie Fackeln zu tragen und an den Hufen der Pferde schlugen Flammen empor. Dann veränderten sich die Gebilde. Blitzschnell zeigten sie ein dahinjagendes Hunderudel, das am Himmel den ganzen Horizont überzog. Gleich darauf folgte wieder eine Horde skelettartiger Reiter.

Sekunden später war der Spuk vorbei. Die Bilder verschwanden hinter den dicht stehenden Bäumen auf den fernen Hügeln. Nur vereinzelt vernahmen die Cavanaughs noch einen Knall, der sich nach einem gewaltigen Kanonenschuss anhörte.

Das Schauspiel hatte keine Minute gedauert. Callum Cavanaugh war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er brauchte einige Zeit um seinen Blick endgültig vom Horizont zu lösen.

»Das waren die Flammenreiter!«, bestätigte er mit kalter Stimme.

»Es gibt sie also tatsächlich«, stellte sein Vater kopfschüttelnd fest. »Die Überlieferungen stimmen! Ich hätte das nie für möglich gehalten.«

»Ich habe die Legende von den Flammenreitern immer für abergläubischen Unsinn gehalten«, sagte Callum leise und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

Er bemerkte den erschrockenen Blick seiner Mutter.

»Du darfst ihren Namen niemals aussprechen, Callum!«, warnte sie eindringlich. »Die Legende erzählt, dass sie diejenigen heimsuchen werden, die es wagen ihren Namen aussprechen!«

Callum schwieg. Aufmerksam sah er sie an.

Sie wirkte nachdenklich, geradewegs so, als hätte sie eine Vorahnung dieser Nacht gehabt. Er hatte den Eindruck, als hätten die dämonischen Mächte der Finsternis die Angst als Vorboten vorausgesendet.

Es war sein Vater, der ihn aus seinen Gedanken riss.

Edward Cavanaugh deutete auf eine Schneise zwischen den fernen Bäumen.

»Da!«, rief er aufgeregt. »Seht ihr die Wolkenformation? Sie ... sie zieht genau in diese Richtung!«

Auch ohne das Wort auszusprechen, wussten seine Frau und sein Sohn genau, was er meinte. Mit Wolkenformation meinte er die Flammenreiter!

Hollie und Callum Cavanaugh starrten hinaus.

Es stimmte!

Es sah tatsächlich danach aus, als hätten die dämonischen Wesen bestimmtes Ziel!

Und die Cavanaughs wussten genau welches das war!

»Die sind auf dem Weg zu den O’Sullivans!«, flüsterte Hollie Cavanaugh. Es lief ihr kalt über den Rücken hinunter. »Möge Gott Erbarmen mit Ihnen haben und ihnen gnädig sein.«

Die gläubige Frau begann zu beten. Sie empfand es als ein großes Geschenk beten zu können. Im Gegensatz zu ihrem Mann. Den hatte sie nie wirklich davon überzeugen können. Ihm war es immer schwergefallen, weil er ihrer Meinung nach zu wenig vom Gebet erwartete. Zumindest vermutete sie das. Leise konnte man Wortfetzen aus dem allen Christen vertrauten Vaterunser vernehmen.

»Vater unser im Himmel ... dein Name ... Wille geschehe, wie im H ...«

Callum Cavanaugh vernahm es mit halbem Ohr. Er hörte nicht genau hin. Mit seinen Gedanken war er bei den O’Sullivans. Er stürmte zur Tür, schlüpfte in seine Gummistiefel, riss seine Jacke vom Kleiderhaken und warf sie sich über.

Erschrocken drehten sich seine Eltern zu ihm um.

»Wo willst du hin!«, rief sein Vater. »Du kannst jetzt auf keinen Fall da hinaus!«

»Bleib hier!«, reagierte seine Mutter panisch. »Das überlebst du nicht, mein Junge!« Sie hastete zu ihm und versuchte ihren Sohn am Ärmel festzuhalten. »Du kannst nichts tun, Callum! Gegen diese Dämonen bist du machtlos! Geh‘ bitte nicht!«

Der junge Cavanaugh schüttelte sie ab. Seine Mutter begann zu schluchzen.

»Bitte, Callum!«, bettelte sie voller Verzweiflung. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Bitte! Sei vernünftig!«

»Fünf Menschen schweben in Lebensgefahr! Ich kann doch nicht einfach still dasitzen und zuschauen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten riss Callum Cavanaugh die Haustür auf, trat auf die Veranda und rannte in die finstere Nacht hinaus.

Er schaffte knapp sechzig Yard, da packte ihn bereits mit unvorstellbarer Kraft eine erste Sturmbö und drückte ihn heftig zu Boden. Der junge Mann rang nach Luft. Mühsam stemmte er sich wieder nach oben und stolperte weiter.

Callum Cavanaugh hatte die herrschenden Naturgewalten völlig unterschätzt. Aber nicht nur die, auch die Wildheit und Skrupellosigkeit der Flammenreiter. Er hatte nicht den Hauch einer Vorstellung wie wild und skrupellos sie waren. Noch gab er sich der Auffassung hin, sie würden den Menschen nur einen gewaltigen Schrecken zufügen. Wieviel Brutalität und Grausamkeit sie an den Tag legten, überstieg seine Fantasie um ein Vielfaches.

Beklommen und mit einem unguten Gefühl sahen ihm seine Eltern dabei zu, wie er auf dem Weg zum Waldstück vorwärtskämpfte, langsam, Schritt auf Schritt. Hollie O’Sullivan gab sich keiner Hoffnung hin, ihren Sohn noch einmal lebend wiederzusehen. Sie weinte bitterlich.

Der junge Cavanaugh hatte die halbe Strecke zum Waldrand geschafft. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber ihm war bewusst, dass er das auf keinen Fall tun durfte. Konnte er sich mit seinen Eltern auf Laoghaire verkriechen, während die O’Sullivans um ihre Zukunft oder schlimmer noch, um ihr Leben kämpften? Er konnte es nicht. Auf keinen Fall wollte er deswegen sein Leben lang mit einem schlechten Gewissen herumlaufen.

Er machte seinen Eltern daraus keinen Vorwurf, dass sie sich nicht aus dem Haus wagten, auch wenn er seinen Vater gern an seiner Seite gehabt hätte. Aber Callum Cavanaugh wusste auch, dass sein alter Herr nicht mehr so kräftig war, es mit einem Ansturm entfesselter Gewalten aufzunehmen. Letztlich war es auch besser so, denn jetzt konnte sich sein Vater um seine Mutter kümmern.

Endlich hatte der junge Cavanaugh den Rand des Waldes an den Hügel erreicht. Die Situation wurde zunehmend gefährlicher. Losgerissene Zweige flogen wie gefährliche Geschosse durch die Luft. Der Sturm trieb sie vor sich her.

Mehrfach wurde Callum Cavanaugh von dünnen Zweigen im Gesicht getroffen. Er fühlte es warm über die Finger rinnen, als er sich an die Wange griff. Er blutete. Er wollte nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, hätten sie seine Augen getroffen.

Der junge Mann hatte ein ungutes Gefühl. Nie zuvor hatte er ein derartiges Unwetter in dieser Gegend erlebt. Und er fragte sich unweigerlich, wer diese höllischen Gewalten entfesselt hatte? Waren es diese Flammenreiter? Und was suchten sie hier? Kamen sie von allein? Hatte sie jemand geschickt? Und wenn ja, wer? Verzweifelt suchte er nach Antworten.

Einem inneren Gefühl folgend machte er einen gewaltigen Sprung nach vorn. Keine Sekunde zu spät, wie er gleich darauf feststellte. Er hatte die Gefahr nicht erkannt. Er hatte sie instinktiv erahnt und rechtzeitig reagiert. Haarscharf war er einem abgebrochenen Baumwipfel entgangen, der unmittelbar hinter ihm auf dem Boden aufschlug, und die Erde leicht erbeben ließ.

Callum Cavanaugh drehte sich um und hielt die Luft an. Er hatte unendliches Glück gehabt. Hätte ihn der abgebrochene Wipfel des riesigen Baumes getroffen, er wäre auf der Stelle tot gewesen, schoss es ihm durch den Kopf und lie0 ihn erschauern. Er versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und lief weiter. Vom naturbelassenen, recht verwilderten Wald erhoffte er sich einen gewissen Schutz. Er ging davon aus, dass die Bäume hier so dicht wuchsen, dass abgebrochene Äste und Baumkronen im Geäst der anderen Bäume hängenbleiben würden.

Dann hatte er es endlich geschafft. Er befand sich im Windschatten des Waldes. Callum Cavanaugh konnte seine eigene Hand vor Augen nicht erkennen. Er ärgerte sich darüber keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Andererseits kannte er den Weg ausgezeichnet und so kam er rasch voran.

Längst hatte der junge Mann jedes Zeitgefühl verloren. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er den Wald schließlich durchquert und näherte sich dessen Rand. Als er aus den dicht beieinanderstehenden Baumreihen heraustrat, sah er überrascht nach oben.

Das Unwetter war verschwunden. Groß und weich stand der mild strahlende Mond in seiner ganzen Pracht am jetzt wolkenlosen Himmelszelt. Unzählige Sterne funkelten am dunklen Firmament. Der zuvor herrschende orkanartige Sturm hatte sich im Nichts aufgelöst. Alles wirkte friedlich. Stille war eingekehrt ... eine merkwürdige, gespenstische Ruhe.

Als Callum Cavanaugh seinen Blick abwandte und in Richtung des Farmhauses der O’Sullivans sah, zeigte sich, dass dieses Bild des Friedens so gar nicht zu dem grauenhaften Anblick passte, der sich ihm bot. Er brauchte mehrere Sekunden, um das entsetzliche Szenerie in sich aufzunehmen.

Gellend schrie er auf.

Einem unheimlichen Echo gleich, wurde sein Schrei von der schweigenden Wand des Waldes zurückgeworfen.

Die Farm der O‘Sullivans, beziehungsweise das, was davon noch übrig war, erinnerte Callum Cavanaugh an Bilder von Kriegsschauplätzen. Es sah aus, als hätte eine Bomberflotte ihre todbringende Fracht über dem Stück Land entladen, um vorrückenden gepanzerten Einheiten Platz zu schaffen. Bizarr zeichneten sich die Ruinen der Gebäude im fahlen Mondlicht ab. Wie mahnende stählerne Finger erhoben sich die weggebrochenen Freimasten der Strom- und Telefonleitungen in den Himmel. Sie wirkten wie geknickte Streichhölzer und ihre Leitungen bildeten ein unentwirrbares Knäuel.

So weit wie er sehen konnte, waren die Drahtzäune, die die Weiden begrenzt hatten, aufgerollt und zerfetzt. Er konnte kaum glauben, als er sah, dass sie förmlich um die Baumstümpfe, nicht mehr vorhandener Bäume, geschlungen waren. Alle Bäume waren dicht über dem Boden abgeknickt. Wie die Leitungsmasten streckten sich die noch frischen, hellen Stümpfe anklagend dem schwarzen Himmel entgegen.

Einem inneren Impuls folgend ging Callum Cavanaugh wie betäubt auf die Farm der Nachbarn zu. Es fiel ihm schwer das Grauen auch nur Ansatzweise zu erfassen. Aus den Augenwinkeln heraus registrierte er die zahllosen Tierkadaver auf den Weiden. Nicht ein Tier war von den entfesselten Gewalten verschont geblieben.

Von der Scheune und den Stallungen zeugten nur noch verkohlte Rechtecke im Boden, wo sie zuvor gestanden hatten. Sie existierten nicht mehr. Überall fanden Holzreste und Mauersteine, weit bis über die Weiden verstreut. Alles war dem orkanartigen Sturm und den Blitzeinschlägen zum Opfer gefallen.

Nur von einer Stallung fand sich noch ein hüfthohes gemauertes Fundament. Callum Cavanaugh warf einen Blick auf die vom Ruß geschwärzten Mauerreste. Auch in diesem Stall war alles Leben vernichtet worden.

Hilflos blieb er stehen. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, sich der Stelle zuzuwenden, an der sich das Wohnhaus der O’Sullivans befand.

Nach all dem Grauen, das er gesehen hatte, fragte er sich, wie es wohl der Familie ergangen sein musste.

Minutenlang starrte er mit leeren Augen auf das Unfassbare. Dann endlich brachte er den Mut auf sich umzudrehen.

Nach dem was er bisher gesehen hatte, konnte er kaum glauben, dass nicht ein einziger Blitz in das Haupthaus eingeschlagen hatte.

Callum Cavanaugh schöpfte einen Hauch an Hoffnung.

Wie ein Skelett ragte das Dach des Wohnhauses auf. Kein Ziegel lag mehr auf. Der Sturm hatte alle abgedeckt. Einige Balken der Dachkonstruktion waren eingeknickt, die anderen zeigten tiefe Risse. Zum Teil waren armlange Späne herausgerissen, gerade so, als hätten gewaltige Krallen im Holz eingeschlagen und versucht die Balken herauszureißen.

 

Unwillkürlich dachte er an riesige Flugsaurier mit großen tragflächenartigen Flughäuten, die zeitgleich mit den Dinosauriern die Erde bevölkert hatten. Es machte auf ihn den Eindruck als hätten sich diese Jäger und Fleischfresser auf das Haus gestürzt.

Noch schlimmer war es mit den massiven Natursteinmauern. Nicht nur, dass sämtliche Holzfenster herausgerissen waren, die Öffnungen waren um ein Vielfaches vergrößert. Steine und Fensterstürze lagen verstreut herum. Noch schlimmer hatte es die Eingangstür erwischt. Sie zeigte die doppelte Größe.

Fassungslosigkeit zeichnete sich auf dem Gesicht des jungen Mannes ab.

Unweigerlich fragte er sich, was hier nur geschehen war? Es war für ihn unbegreiflich, welche Kräfte hier gewütet haben mussten. Für Callum Cavanaugh stand fest, dass dieses Ausmaß an Zerstörung nicht allein auf den Sturm zurückzuführen war. Hier mussten andere Einflüsse eine Rolle gespielt haben!

»Hallo!«, rief er mehrmals laut hintereinander in die Stille. »Hört mich jemand? Hallo!«

Er lauschte. Niemand reagierte.

»Wo steckt ihr?«, rief er und lief einige Schritte weiter auf das Haus zu. »Mr. und Mrs. O’Sullivan! Logan! Kenneth! Hannah!«

Seine Stimme klang belegt und drohte zu versagen. Er kannte die Kinder der O’Sullivans gut. Mit Logan hatte er die Schulbank gedrückt. Und die kleine Hannah hatte ihm im letzten Jahr eine Zeit lang verliebte Augen gemacht. Natürlich wussten beide, dass daraus nichts werden konnte und es sich um die Schwärmerei eines jungen Mädchens handelte.

Noch einmal rief er nach ihnen, als er keine Antwort bekam.

Mit bleischweren Füßen näherte er sich langsam der zerstörten Veranda, in deren Boden riesige Löcher klafften. Plötzlich spürte er, dass er mit einem Fuß gegen etwas gestoßen war, fast wäre er darüber gestolpert. Er hatte den Lichtkegel seiner kleinen Taschenlampe nicht gegen den Boden gerichtet, sondern auf die Tür. Als er den Blick senkte, stockte ihm der Atem. Es war ein einzelnes menschliches Bein, abgerissen, noch fetzenartig bekleidet, dem der Schuh fehlte und das wie achtlos weggeworfen auf ihn wirkte. Übelkeit stieg ihn ihm auf. Schnell wandte er sich ab und konzentrierte sich wieder auf die Veranda. Achtsam setzte er einen Fuß vor den anderen, kontrollierte nun auch laufend den Boden und schob sich vorsichtig durch das klaffende Loch, an dem sich zuvor die Tür befunden hatte.

Er blieb stehen. Es schüttelte ihn. Eiskalt lief es ihm über den Rücken, als er seinen Blick schweifen ließ. Von den Zwischendecken zum Dachboden war nichts mehr vorhanden. Das ungehindert einflutende Mondlicht verstärkte sein Entsetzen noch zusätzlich.

Im fahlen Licht des Erdtrabanten erblickte Callum Cavanaugh den alten Adam O’Sullivan. Noch im Tod sah es aus, als habe er vor seinen Feinden fliehen wollen. Steif streckte er seine Arme der Tür entgegen. Seine glanzlosen starren Augen waren ungläubig geweitet.

Der junge Mann nahm all seinen Mut zusammen und beugte sich über den Toten.

Als er dessen Wunden sah, zuckte er aufstöhnend zurück. Er hatte gute Nerven und als ehemaliger Soldat der britischen Streitkräfte hatte er in Afghanistan vieles gesehen. Doch was er jetzt sah, war für ihn zu viel. Am Hals des alten Mannes bemerkte er eine starke livide Einfärbung, die auf eine Strangulation hindeutete. Er war zwar ein medizinischer Laie, aber dennoch glaubte er den Beweis in den Augen des alten Mannes zu finden – Einblutungen. Sein aufgerissener Brustkorb bot ein grauenvolles Bild. Es sah aus als habe man ihn ausgeweidet. Die Gedärme lagen verstreut neben ihm und sein Genital war abgeschnitten. Ächzend wankte er hinaus ins Freie und sank zu Boden. Ihm war schwindelig. Callum Cavanaughs Magen rebellierte. Er hatte das Gefühl sich jeden Augenblick übergeben zu müssen.

Er wusste nicht, wie lange er zusammengesunken dort gelegen hatte. Erst allmählich brachte er die Kraft auf, noch einmal in die Ruine zurückzukehren. Er bemühte sich seine Gefühle zu kontrollieren. Aber es fiel ihm schwer. Das Grauen, welches sich seinem Auge bot, war eine tabellarische Auflistung der Folter und des Todes.

Unter Trümmern fand er den völlig zerquetschten Körper seines ehemaligen Klassenkameraden. Ihm hatte man den Kopf abgetrennt und wie zur Zurschaustellung auf der Sitzfläche eines noch intakten Holzstuhles drapiert. Ein paar Minuten später entdeckte er auch Kenneth O’Sullivan, dem ein herabgestürzter Deckenbalken durch den Brustkorb gedrungen war. Auch er war zuvor ausgeweidet worden. Arme und Beine hatte man ihm abgerissen.

Gleich darauf sah er das silbergraue, zu einem Pferdeschwanz geknotete Haar und den Kopf von Kate O’Sullivan. Mehr war von ihr nicht zu sehen. Sie lag verschüttet unter einem Haufen aus Mauersteinen und Gebälk. Ein Blick in ihr Gesicht zeigte, dass man ihr die Augen entfernt hatte.

Er versuchte jetzt gar nicht mehr die Leiche freizulegen. Ihm war schwindelig und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Dann erbrach er sich. Es dauerte einige Zeit bis sich sein Magen komplett entleert und wieder etwas beruhigt hatte.

Wie konnte es bloß zu dieser Katastrophe gekommen sein? Er hatte viele Verletzungen und schwere Kriegsverletzungen gesehen. Doch was er hier sah, wollte so gar nicht zu einem Zusammenbruch eines Hauses passen. Das sah schon mehr nach Verletzungen durch Tiere aus. Aber selbst damit waren die Wunden nicht wirklich zu erklären. Und welche Meute wilder Bestien sollte das auch angerichtet haben ... die gab es in ganz Großbritannien nicht!

Soweit er das beurteilen konnte stammten sie von Krallen und Zähnen riesiger Raubtiere und ihm unbekannten Waffen.

Bei dem Gedanken daran lief es ihm wieder kalt den Rücken herunter. Er spürte, wie er zu frösteln begann. Unweigerlich dachte er an die Legende der Flammenreiter, und das, was man sich in der Bevölkerung über sie hinter vorgehaltener Hand erzählte. Er wusste um die alten Geschichten, über deren wilde Jagden und wie sie in früheren Zeiten gewütet haben sollten. Das was er hier auf der Farm der O’Sullivans vorgefunden hatte, deckte sich genau mit dem abscheulichen Bild, wie es die Überlieferung von ihnen zeichnete. Exakt so hatten zu Beginn des Mittelalters die dämonischen Flammenreiter getötet und hatten ihre Hundebestien unter der Bevölkerung gewütet. Wie Beutetiere hatten sie die Menschen unter sich niedergetrampelt und niedergebissen.

Nur schwer konnte sich Callum Cavanaugh von den Einrücken und seinen Gedanken lösen.

Die O’Sullivans waren tot.

Sie waren alle niedergemetzelt worden!

Ein schmerzvoller Aufschrei bemächtigte sich seiner und gellte in die Nacht. Er sank auf die Knie und presste seine Hände gegen die Schläfen. Das alles konnte niemals wahr sein! Soviel Grauen konnte es einfach nicht geben! Es war surreal, wie ein nicht enden wollender Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

So oft Callum Cavanaugh auch um sich sah und auf die Leichen starrte, es änderte nichts. Hier hatten unheimliche, höllische Mächte der Finsternis ihre Finger im Spiel. Auf unvorstellbar grausame und bestialische Weise hatten sie sich ihrem Blutrausch hingegeben.

Der junge Cavanaugh wollte sich schon abwenden, als er zusammenzuckte.

Er hatte nur vier Leichen gefunden. Es hätten aber fünf sein müssen! Hannah fehlte!

Hatte sie fliehen können?

Hatte sie das Blutbad überlebt?

Wo steckte Hannah O’Sullivan?