Heliosphere 2265 - Der komplette Fraktal-Zyklus

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

»Wir sind schon auf dem Weg, Sir«, meldete der Navigator gelassen.

»Lieutenant Nurakow«, wandte er sich an den Ortungsoffizier, »wie lange noch bis zum Eintreffen des feindlichen Verbandes?«

»Bei gleichbleibendem Vektor und konstanter Geschwindigkeit erreichen uns die Schiffe in einer Stunde und vierzig Minuten.«

»Bedenken Sie dabei bitte, dass wir nicht wissen, welche Reichweite die feindlichen Torpedos und Strahlenwaffen besitzen, Sir«, warf Lieutenant Commander Akoskin ein. »Unter Umständen können die schon lange vor uns das Feuer eröffnen.«

»Haben wir noch Kontakt zu den ÜL-Plattformen?«, fragte Jaydens I.O.

»Achtzig Prozent der Plattformen sind ausgefallen«, sagte McCall anstelle von Nurakow, der gerade eifrig Daten in seine Konsole eingab. Die beiden Offiziere erwiesen sich als dynamisches Team, das sich die Arbeit flexibel und schnell, auf die Situation eingestellt, aufteilte. »Einige sind aber noch aktiviert. Ich habe die, die uns am nächsten ist, mit den gültigen Codes angesprochen und um 24 Grad gedreht. Die feindliche Flotte befindet sich dadurch im 'Blickfeld' der Plattform und wir erhalten die Daten durch ein gebündeltes Phasenfunk-Signal in Echtzeit.«

»Gute Arbeit«, sagte Jayden beeindruckt. Er vergaß über die Schüchternheit der Ortungsoffizierin viel zu oft deren Kompetenz. »Wie sieht es mit dem Rest der Flotte aus? Gab es bereits Feindkontakte?«

»Captain Coen hat den Aufbau eines Schiffssensornetzes veranlasst«, sagte McCall. »Ein Schiff jeden Pulks übermittelt die Sensorauswertung über Phasenfunk an ein Empfängerschiff der anderen Verbände. Dieses gibt die Daten daraufhin an die eigenen Raumschiffe weiter. Somit sind wir nicht auf die Übertragung der Plattformen angewiesen, wenn sich die feindlichen Raumer in direkter Umgebung der Schiffsverbände aufhalten.

Captain Fitzgerald ist auf dem Weg zu uns. Seine E.T.A. ist zwei Stunden und dreiundvierzig Minuten nach dem Eintreffen des feindlichen Verbandes. Captain Feng und sein Verband treten soeben in die Schlacht ein und Captain Coen trifft in geschätzten zwanzig Minuten auf seine Feindflotte.«

»Also gut.« Jayden atmete zitternd ein und wieder aus, straffte die Schultern und setzte sich kerzengerade auf. »Commander Akoskin, wie steht es um unsere Spezial-Shuttles.«

Commander Ishida runzelte die Stirn, dann erhellte ein Lächeln ihre Miene. »Sie wollen einen Kensington abziehen.«

»Nennt man das jetzt so?« Jayden schmunzelte.

In der ersten Schlacht der HYPERION gegen die Parliden hatte Lieutenant Kensington Shuttles, die mit Torpedos gefüllt waren, gegen den herannahenden Feind eingesetzt. Als die HYPERION ein rentalianisches Schiff, das das zweite Artefakt geladen hatte, in den Parlidenraum gefolgt war, hatte Commander Ishida einige Shuttles ebenso präpariert. Bisher war dies nicht rückgängig gemacht worden.

»Damit liegen Sie goldrichtig. Ich habe zwar keine Ahnung, ob es uns etwas nutzt, aber verzweifelte Situationen …«

»… erfordern verzweifelte Maßnahmen. Da haben Sie recht, Sir. Ich würde zudem vorschlagen, dass wir die Kiesel einsetzen.«

Jayden überdachte die Idee. Normalerweise wurden die kleinen Aufklärer-Drohnen direkt nach dem Eintritt in ein System ausgeschleust. Unter Ausnutzung der Restgeschwindigkeit beschleunigten sie kurz, wechselten in den Phasenraum und verteilten sich über das gesamte Sonnensystem. Die Aufklärungsdaten wurden per gerichtetem Phasenfunk an das Schiff gesendet. Im Gegensatz zu den stationären ÜL-Plattformen lieferten die Sonden eine einmalige Aufklärung für die Stellarkartographie, brannten dann aus und zerstörten sich selbst.

Sie hier einzusetzen war eine gute Idee. Zwar würden die Sonden nicht in den Phasenraum eintreten, doch sie lieferten im Vorbeiflug Aufklärungsdaten in Quasi-Echtzeit, selbst wenn die feindlichen Raumer die verbliebenen Sensorplattformen ausschalteten. »Tun Sie es.«

Seine I.O. gab Nurakow den entsprechenden Befehl, worauf dessen Finger flink über die Konsole glitten. »Kiesel sind abgesetzt«, meldete sie kurz darauf.

»Die Shuttles sind soweit«, sagte Akoskin. »Sie werden soeben in unserem Ortungsschatten ausgeschleust. Wir richten sie per Fernsteuerung auf den Anflugvektor der feindlichen Schiffe aus und deaktivieren dann all ihre Systeme. Mit etwas Glück werden die unbekannten Raumer sie nicht orten können. Die Torpedos sind an einen Annäherungsalarm gekoppelt.«

»Sir, wenn ich ebenfalls etwas vorschlagen dürfte«, sagte Lieutenant Nurakow. Auf ein Nicken von Jayden fuhr er fort: »Es gibt noch zwei Shuttles, die am Orbitaldock I von Pearl angedockt sind. Wenn wir diese mit einem unserer Täuschkörper bestücken, die wir andernfalls als Teil der Raketenabwehr einsetzen, können wir einen Kurs in die Shuttles programmieren und dadurch …«

»… zwei weitere HYPERIONS auf deren Sensoren erschaffen«, vollendete Jayden den Satz.

Ishida zog eine Braue in die Höhe. »Ob das so einfach funktioniert, ist fraglich, aber darauf kommt es wohl auch nicht mehr an. Die feindlichen Offiziere hinter den Konsolen werden sofort erkennen, dass da zwei Schiffe aus dem Nichts auftauchen, aber mit etwas Glück täuscht es die Suchköpfe der Torpedos.«

»Veranlassen Sie das, Lieutenant«, sagte er. »Commander Akoskin, ich will Ihre taktische Einschätzung und das geplante Vorgehen auf meiner Konsole.«

Mit grimmiger Miene blickte er den fünf Schiffen entgegen, die als winzige Icons im Holotank auf die Position der HYPERION zuflogen.

*

Forschungsstation CAVE, Kuiper-Gürtel, Sol-System, 24. Januar 2266, 17:00 Uhr

Admiral Juri Michalew beobachtete interessiert die Reaktion von Sjöberg. Über einen Kamera-Feed sah er seinem Erzfeind zum unzähligsten Mal dabei zu, wie dieser seine Frau, die noch immer in der Parlidenrüstung steckte, besuchte. Das Entsetzen war groß gewesen, als Juri die Wahrheit enthüllt hatte. Sjöberg hatte lange geschwiegen und dann verlangt, dass er zu seiner Frau gebracht wurde. Die übrigen Offiziere waren nicht weniger entsetzt gewesen.

In den vergangenen Tagen hatte es vier Treffen des Rates der Admiralität gegeben, bei denen die Präsidentin jedes Mal zugegen gewesen war. Kartess hatte außerdem mehrere Sondersitzungen ihres Kabinetts einberufen und konferierte dauernd mit dem Verteidigungs- und dem Innenminister. Nicht einmal Juris Informanten konnten ihm erzählen, was dort besprochen wurde.

Natürlich war das auch nicht notwendig. Es war klar, worauf die Sache hinauslief. Die Präsidentin hatte keine Wahl, musste einfach aktiv gegen die Parliden vorgehen. Wie sollte sie es der Öffentlichkeit verkaufen, dass sie nichts unternahm und ihre eigenen Bürger den verdammten Sternköpfen überließ?

Nur noch wenige Admiräle sprachen sich gegen einen Krieg aus. Sogar Sjöberg war überraschend still geworden, wenn es um dieses Thema ging. Das Argument, dass der Angriff auf Schiffe der Parliden schließlich die Leben von Menschen kosten würde, hatte Juri recht schnell ausgehebelt. Genau genommen waren die versklavten Offiziere Geiseln. Und eine Regierung durfte sich von Geiselnehmern nicht erpressen lassen. Eine andere Möglichkeit als den direkten Angriff gab es schlicht und einfach nicht. Die Zweifler waren endlich in der Minderheit.

Und dabei hatte Juri noch nicht einmal seine schärfste Waffe gezückt. Er warf einen Blick auf das mobile Pad, das vor ihm auf der Konsole lag. Er hatte den Bericht erneut gelesen, den Randall ihm über einen Mittelsmann beim Geheimdienst besorgt hatte. Darin wurde die ganze Wahrheit offenbar, die die Präsidentin noch immer unter Verschluss hielt.

In den vergangenen vier Jahren waren drei Kolonien in den Randgebieten der Solaren Union quasi entvölkert worden. Die Bewohner: spurlos verschwunden. Eine geheime Ermittlungseinheit versuchte die Sache aufzuklären, bisher vergeblich. Um die Angelegenheit offiziell zu erklären, hatte man den Erios-Virus zu Hilfe genommen. Dieser sich durch die Luft verbreitende Erreger war absolut tödlich und es gab bisher kein Gegenmittel. Erstmals auf der Kolonie Erios aufgetreten, hielt er nun als Ausrede her und erklärte offiziell das Verschwinden der Kolonisten.

Juri wusste es besser. Die Parliden waren dafür verantwortlich, es gab keine andere Erklärung. Dass die Regierung nicht längst gehandelt hatte, war ein Armutszeugnis. Doch jetzt, mit dem Wissen um die Versklavung und die psychische Folter von unzähligen Terranern, musste Kartess aktiv werden.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Sjöberg zu, der gerade einen Monitor nahm und gegen die Wand warf. Juri schüttelte den Kopf. Beim ersten Besuch hatte der Admiral fast das gesamte Labor demoliert. Sein Feind verlor nicht oft die Fassung, doch in dieser Situation konnte Juri es nachvollziehen.

Er selbst hatte seine Großeltern im Parlidenkrieg verloren, seine Eltern im Kampf gegen den Eriin-Bund und seine Frau sowie seinen einzigen Sohn – Ironie des Schicksals – an das echte Erios-Virus. Der Inkompetenz der bisherigen Regierungen war es zu verdanken, dass noch keines der drei Probleme gelöst war.

Gerade brach Sjöberg schluchzend über dem Stasetank zusammen, in dem seine Frau lag. Juri schaltete ab, wollte dieses erbärmliche Schauspiel nicht länger mit ansehen müssen.

Zugegeben, allein der Gedanke, dass Offiziere der Space Navy – bei vollem Bewusstsein! – als Sklaven dienten, auf ihre eigenen Schiffe schossen und zu was auch immer noch missbraucht wurden, machte ihn krank. Gedanklich hatte er bereits die Flotte zusammengestellt, die dem Hauptsystem der Sternköpfe einen Besuch abstatten sollte. Die HYPERION konnte mit ihrem Interlink-Antrieb in das System fliegen und die Phasenstörer beseitigen, die Hauptflotte folgte und legte die Hauptwelt der Parliden in Schutt und Asche.

 

Er lächelte bei dem Gedanken.

*

Büro der Präsidentin, Paris

Ione Kartess hatte längst aufgehört, ihre ViKo-Drinks zu zählen. Seit mittlerweile achtundvierzig Stunden war sie auf den Beinen und traf sich abwechselnd mit Spezialisten des Geheimdienstes, dem Verteidigungsminister und Yoshio Zhang von der Admiralität der Space Navy. Dazwischen wurden immer wieder Sitzungen des Admiralitätsrates anberaumt, der die verschiedenen Szenarien einer militärischen Intervention durchspielte.

»Also gut, was können Sie mir berichten, Collin«, wandte sie sich an ihren Verteidigungsminister.

Collin O'Sullivan gehörte zur eher gemäßigten Fraktion des Kabinetts, und genau deshalb hatte sie ihn auf diesen Posten gesetzt. Der untersetzte Rotschopf, dessen Gesicht von Sommersprossen übersät war, dachte zuerst nach, bevor er handelte. Gleichzeitig behielt er die Space Navy eisern im Griff.

»Überraschenderweise ist bisher noch kein Gerücht nach außen gedrungen – und mit ‚außen‘ meine ich die Presse«, sagte O'Sullivan bedächtig. »Zhang hat seine Leute unter Kontrolle, die Mehrheit des Kabinetts ist ebenfalls noch ahnungslos und die Presseheinis haben noch nichts bemerkt.

Das gab uns die Möglichkeit, diverse Strategien auszuarbeiten. Ich habe alle Dokumente in Ihren persönlichen Speicher übertragen.«

»Geben Sie mir eine Zusammenfassung.«

»In einem Satz ausgedrückt: Wir können es mit der Parlidenflotte nicht aufnehmen. Der Geheimdienst hat unter Hochdruck die neuesten Schätzungen abgeliefert. Ich muss leider sagen, dass wir die Aliens bisher nicht ausreichend im Blickfeld hatten. Nachdem die Rentalianer uns jedoch ihre Daten aus dem Kartas-System geliefert haben, sind wohl ein paar Bürohengste erschrocken aufgewacht und haben sich mit ihren Kollegen bei den Rentalianern in Verbindung gesetzt.« O’Sullivan verzog abschätzig die Mundwinkel. »Unsere eigenen Bemühungen, eine solide Überwachung des Parlidenraums zu etablieren, waren bisher ja relativ erfolglos. Laut den ersten Schätzungen sind wir, was die Gesamtsumme der Schiffstonnage angeht, 1:2 unterlegen.«

Ione fuhr ein eisiger Schreck in den Magen. »So übel sieht es aus?!«

»Ich fürchte ja, Madame Präsident«, sagte O'Sullivan. »Selbst mit der Unterstützung der Rentalianer sitzen wir verdammt tief in der Scheiße. Eine Gesamtflotte hätte eine annähernd ausgeglichene Schlagkraft, jedoch nur, wenn wir den Eriin-Bund auf unsere Seite ziehen können.«

Ione schüttelte entschieden den Kopf. Dieses Szenario gefiel ihr gar nicht.

Nach dem ersten Parlidenkrieg hatten sich einige Welten von der Solaren Union abgespalten und ihre Unabhängigkeit erklärt. Daraufhin hatte der Präsident jener Zeit diese Kolonien von jedwedem Handel abgeschnitten – mit katastrophalen Folgen. Die reichen und stolzen Kolonien verwandelten sich innerhalb kürzester Zeit aufgrund einer zusammenbrechenden Wirtschaft und Staatsstreichen zu Hochburgen der Piraterie. Handelsfrachter wurden von Schiffen des Bundes aufgebracht, geplündert und keine Überlebenden zurückgelassen. Kinder wurden entführt und von ihnen aufgezogen, alle anderen umgebracht.

Nach einem Regierungswechsel in den Solaren Welten hatte die nachfolgende Präsidentin sofort reagiert. Sie schickte Diplomaten, sicherte Hilfen zu und löste das Embargo auf. Doch es war längst zu spät: Die entfremdeten Welten schlossen einen Handelspakt.

Die Navy hatte reagiert und eine Streitmacht entsandt. Doch nachdem die ersten Kolonien besiegt worden waren, hatten sich die übrigen Welten zu einem Verteidigungsbündnis zusammengeschlossen. Die Flotte der Solaren Welten war, zu dem Zeitpunkt noch vom Krieg gegen die Parliden geschwächt, der neuen Einheit unterlegen. Über die Jahrzehnte entwickelte sich dieses Bündnis zum Eriin-Bund.

»Ich werde keinen Pakt mit Piraten eingehen, die Handelsschiffe aufbringen und Offiziere der Solaren Union meucheln«, stellte Ione klar. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

»Das hängt vom Zeitrahmen ab«, sagte O'Sullivan. »Wenn wir den Flottenetat um die Hälfte aufstocken … », er bedeutete dem Finanzminister, der bisher schweigend gelauscht hatte und nun entsetzt den Mund aufriss, sich noch zurückzuhalten, und fuhr fort: »… und die Rüstungsindustrie ausbauen, könnten wir die notwendigen Schiffe innerhalb von drei Jahren in Betrieb nehmen. Wir müssten weitere Schiffswerften bauen, den Nachwuchs schneller ausbilden und gleichzeitig unsere Systeme stärker bewaffnen. Besonders Kreuzer der Interlink-Klasse könnten das Rückgrat einer Invasionsflotte bilden.«

»Das mag ja schön und gut sein«, warf Trevor Holden aufgebracht ein. Der glatzköpfige Finanzminister stand augenscheinlich kurz davor, O'Sullivan an die Gurgel zu gehen. »Aber wir haben das Geld einfach nicht. Woher wollen Sie all die Unions-Dollar nehmen? Das geht nur durch Kürzungen in anderen Bereichen. Und wir sprechen hier von Kürzungen im Milliarden-Bereich. Soll ich die Subventionen für die Randsysteme streichen? Es von der Bildung abziehen? Oder der Rente? Was glauben Sie, geschieht dann? Außerdem würde die Presse es bemerken, wenn so viel Geld in den Verteidigungsetat fließt!«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Ione. »Ein Problem nach dem anderen. Wir könnten also innerhalb von drei Jahren kriegsbereit sein?«

O'Sullivan nickte zögerlich. »Wenn wir den Etat aufstocken, ja. Mir wäre wohler, wenn wir vier Jahre veranschlagen, aber ich denke, drei könnten ausreichen.«

Sie nippte nachdenklich an ihrem ViKo. Innerhalb von drei Jahren konnte viel geschehen. Möglicherweise fanden die Wissenschaftler bis dahin eine Möglichkeit, diese Sklavenrüstungen von den Opfern zu lösen, was die Sache noch einmal vereinfachen würde.

»Was geschieht, wenn es zuvor zu einem Krieg kommt?«, fragte Svea Christensen, die Informationsministerin. Mit ihren langen blonden Haaren und dem Bambi-Blick wurde sie oft unterschätzt, obwohl sie ihr Ministerium fest im Griff hatte.

»Den ersten Parlidenkrieg konnten wir durch die Zerstörung ihrer zentralen K.I. für uns entscheiden«, sagte O'Sullivan. »Hätten wir diese Möglichkeit erneut, wäre die Sache, dank der HYPERION, schnell erledigt. Wir gehen jedoch davon aus, dass es mittlerweile entweder mehrere Backup-Systeme gibt oder die K.I. dezentral verteilt wurde. In diesem Fall stünde uns ein Kampf bevor, den wir innerhalb von ein bis zwei Jahren verlieren würden.«

Ione massierte sich ihre Schläfen, da sich die zunehmende Müdigkeit in einen stetig anwachsenden Kopfschmerz verwandelte.

»Einstweilen kann ich noch einen Deckel auf der Sache halten«, sagte Christensen. »Aber machen wir uns nichts vor: Das Ganze fliegt uns um die Ohren, sobald wir den Etat verändern. Die Opposition wird Antworten wollen und uns mit Freuden der Presse zum Fraß vorwerfen.«

»Wie sieht es in Ihrer Ecke aus, Michael?«, fragte Ione den Innenminister.

Der breitschultrige Mann Mitte vierzig, auf dessen Gesicht keine Falte zu sehen war, schüttelte den Kopf. »Bisher ist alles ruhig. Ein paar Republikaner kochen wie immer ihr Verschwörungssüppchen, aber ansonsten gibt es noch keine ernst zu nehmenden Probleme. Wie sich die Bekanntgabe dieser Sklavengeschichte auswirkt, lässt sich aber schwer sagen. Ich halte den Verfassungsschutz auf Trab, aber ein solcher Skandal wird sicher ein paar radikale Kräfte hervorrufen.«

Iones Gedanken richteten sich einem Fadenkreuz gleich auf Admiral Juri Michalew. »Behalten Sie unseren speziellen Freund im Auge, Michael. Wenn er auch nur mit einer Wimper zuckt, will ich das wissen.«

Der Admiral mochte die Situation durchaus für sich ausnutzen. Andererseits bekam er genau das, was er schon so lange wollte: einen Krieg – wenn auch mit ein wenig Verzögerung.

»Also gut.« Kartess blickte die Anwesenden der Reihe nach an. »Collin, Sie bekommen Ihren Verteidigungsetat aufgestockt und leiten alle Vorbereitungen für einen möglichen Krieg ein. Trevor, schichten Sie um, streichen Sie Ausgaben, von mir aus plündern Sie die Staatskasse bis auf den letzten Unions-Dollar, aber machen Sie es möglich, dass wir im Falle eines zweiten Parlidenkrieges nicht die Tontauben sind, die niedergeschossen werden. Svea, konstruieren Sie langsam und stetig einen Informationsfluss, der das Parlidenproblem aufbauscht – noch kein Wort von der Versklavung. Erwähnen Sie die Schlacht im Elnath-System. Nutzen Sie diesen Captain aus, dem wir einen Orden verliehen haben – wie hieß er noch?«

»Jayden Cross«, warf die Ministerin für Öffentliche Information ein.

»Genau! Er hat dort gekämpft und sein Name hat in der öffentlichen Meinung noch immer einiges an Gewicht. Machen Sie ihn zu einer Ikone, einem leuchtenden Vorbild. Wenn das Schiff wieder im System ist, zerren Sie ihn vor die Kameras. Und graben Sie ein paar Leute aus, die bei Tikara ihre Familien verloren haben. Ich will, dass die Menschen langsam, aber stetig einen Hass gegen die Parliden entwickeln. Michael, Sie behalten alle Bewegungen der rechten und linken Szene im Auge. Wenn da jemand einen Pulser zieht, will ich vorbereitet sein.«

Holdens Gesicht färbte sich rot, während er im Kopf vermutlich schon die Finanzen durchrechnete, Zahlen verschob und Ausgaben umschichtete. Er hatte wirklich die undankbarste Aufgabe. Kurz sah es so aus, als würde er noch einmal widersprechen wollen, doch er besann sich eines Besseren.

»Dann ist unsere Sitzung hiermit beendet.«

*

IL HYPERION, Alzir-System, 24. Januar 2266, 20:25 Uhr

Mittlerweile war jedes Crewmitglied in einen Skinsuit geschlüpft und saß, mit aktiviertem Prallfeld und aus dem Sitz gefahrenen Gurten, in seinem Konturensessel. Jayden starrte auf den Holotank, während sich die übrigen Offiziere auf der Kommandobrücke leise unterhielten oder emsig beschäftigt waren.

Die feindlichen Raumer flogen in aufgefächerter Formation heran, bildeten eine breite Sichel. Tatsächlich kollidierte der erste der fünf mit einem der Bomben-Shuttles, was in Jayden die wahnwitzige Hoffnung aufflammen ließ, dass sie eine Chance besaßen. Doch die übrigen Raumschiffe flogen, von der Explosion unbeeindruckt, weiter auf sie zu und wichen den anderen Bombenshuttles aus.

»Sir, die Kiesel haben die feindlichen Einheiten soeben passiert, die Daten gehen ein«, sagte Lieutenant McCall. Ihr niedergeschlagener Blick sprach Bände. »Ich fürchte, die Sensoren konnten die Hülle des Feindes nicht durchdringen. Das verbaute Material ist – abgesehen von dem Duspanit-Anteil – unbekannt. Die Tonnage der Raumer entspricht drei Leichten Kreuzern und zwei Dreadnoughts, eine Aussage über die tatsächliche Bewaffnung, Schildstärke, Zusammensetzung oder Personenzahl an Bord ist nicht möglich.«

»Das wäre auch zu schön gewesen«, murmelte seine I.O. neben ihm.

»Sir, die Schiffe ignorieren die ausgesandten Shuttle-Doubles«, sagte Akoskin von der Taktikkonsole. »Ich fürchte, ihre Sensoren sind den unseren ebenbürtig oder überlegen. Täuschkörper können sie scheinbar problemlos erkennen.«

»Passen Sie unsere Nahbereichsabwehr an«, befahl Jayden.

Neben den Offensivwaffen, die bei der Nahbereichsverteidigung eingesetzt wurden – also Lasercluster, Röntgenstrahlen und Flechette-Partikel –, kamen auch Täuschkörper-Torpedos zum Einsatz. Deren Anteil betrug etwa zwanzig Prozent der in einer Minute abgesetzten Sprengköpfe. Wenn die Fremden aber derart einfach auf eine solche Entfernung Täuschkörper erkennen konnten, hielt er es für sinnvoll, bei der Abwehr eher auf Offensivmittel zu setzen.

»Habe ich bereits veranlasst, Sir«, sagte Akoskin lächelnd. Jayden vergaß ab und an, dass der Offizier aus dem spanischen Sektor nicht nur jedes Detail des Waffensystems in- und auswendig kannte, sondern auch ein Taktik-Ass war.

»Zeit bis zum Kontakt?«

»Zwanzig Minuten«, sagte Akoskin.

»I.O., veranlassen Sie den Start des Kurierbootes.« Ishida bestätigte. Ihre Finger glitten über die Oberfläche der Kommandokonsole.

Jayden selbst überprüfte noch einmal die Klar-Meldungen der einzelnen Abteilungen, insbesondere der Krankenstation, der Schadenskontrolle, des Maschinenraums und der zweiten Kommandobrücke. Letztere würde im Falle einer Zerstörung der Primärbrücke die Kontrolle über das Schiff übernehmen.

Viel zu schnell näherte sich der Countdown der Null.

 

Bereits eine Minute, bevor sie die maximale Gefechtsdistanz erreichten, meldete Lieutenant Commander Akoskin: »Sir, einer der feindlichen Raumer eröffnet das Feuer.«

Damit wurde klar, dass die Raketenreichweite des Feindes über jener der HYPERION lag. »Nur einer?«, hakte Jayden nach.

Akoskin bejahte. »580 Torpedos befinden sich im Anflug.«

Der Interlink-Kreuzer besaß auf beiden Seiten fünf Bug- und fünf Heck-Torpedowerfer. Pro Minute konnten damit sechzig Torpedos in eine Richtung gefeuert werden. Schossen alle zehn Bug- oder Heckwerfer parallel, waren dies 600 Sprengköpfe pro Minute.

»Commander Akoskin, feuern Sie nach eigenem Ermessen«, sagte Jayden und übergab damit seinem Taktik- und Waffenoffizier die Totalkontrolle über Angriff und Abwehr des Feindes.

»Zwei der Schiffe scheren aus und gehen auf einen neuen Vektor«, meldete Lieutenant Nurakow. »Hochrechnung läuft.«

Auf dem Holotank erreichten die feindlichen Torpedos die HYPERION. Die Nahbereichsabwehr wurde aktiv und spie gerichtete Mikrowellenstrahlung, Flechette-Partikel, Röntgen- und Gammastrahlen aus. Lasercluster aktivierten sich und ein paar Täuschkörper leuchteten auf.

Innerhalb von Sekunden begriff Jayden, dass ihre Abwehr den Feinden hoffnungslos unterlegen war. Denn während diese die simulierten Signaturen scheinbar problemlos erkennen konnten, versagten die Systeme der HYPERION dabei katastrophal. Die Abweichungen in der Energiesignatur oder im Wärmebild des Antriebs der feindlichen Sprengkörper waren so minimal, dass es Lieutenant Commander Akoskin und seiner neuen Sekundäroffizierin – Lieutenant Rena Grady – kaum gelang, manuelle Korrekturen vorzunehmen. Rasend schnell flogen ihre Finger über die Konsolen und Jayden bewunderte beide für diese überragenden Reflexe.

Doch sie konnten dieses Mal nicht viel ausrichten. Von den 580 feindlichen Torpedos kamen fünf durch den Abwehrschirm und begannen zu wüten. Laserfinger brannten sich in meterdicken Stahl, Gammastrahlen verdampften jedes Hindernis.

Wenige Sekunden später – Jayden wunderte sich, dass sie noch immer existierten – erreichten die ersten Meldungen der Schadenkontrolle seinen Monitor. Commander Devgans Trupp handelte effektiv und schnell.

Zahlreiche Hüllenbrüche wurden durch automatischen Siegelschaum abgedichtet, ausgefallene Leitungen manuell umgangen, Paramedics zu den Sektionen der Einschläge gerufen.

Sie hatten bei dieser ersten Welle auf einen Schlag zwei Bug- und einen Hecktorpedowerfer verloren. Der Helix-Konverter war schwer beschädigt, konnte jedoch nach der Einschätzung von Commander Lorencia aus Bordmitteln repariert werden. Neben diesen neuralgischen Systemen war auch das Erholungsdeck vollständig zerstört worden; natürlich hatte sich dort, da sie sich in einer Kampfsituation befanden, niemand aufgehalten.

Akoskin richtete das Gegenfeuer auf jenen Raumer, der sie angegriffen hatte, und feuerte ab, was die Bordmittel hergaben. Die 540 Torpedos der Bug-Werfer schossen dem feindlichen Schiff entgegen, flankiert von einem Blitzlichtgewitter aus Laserstrahlen, die den Schutzschild des gegnerischen Raumschiffs in die Knie zwingen sollten.

»Sir, es feuert nach wie vor nur einer der beiden Raumer«, sagte Nurakow und markierte dabei jenes Schiff als Bandit I im Taktik-Holo. »Der zweite macht keinerlei Anstalten, in den Kampf einzugreifen.« Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: »Ich konnte den Kurs der anderen beiden Raumer berechnen. Sie befinden sich auf einem Vektor zur PI-RA-SO-MA-FE.«

»Was?!«, entfuhr es Ishida überrascht. Sie sah so aus, als wollte sie am liebsten aus ihrem Konturensessel springen. »Sollten die nicht längst weg sein?«

»Die haben mitten im Flug ihren Vektor geändert, ich kann nicht sagen, warum«, erklärte Nurakow. »Der vorherige Vektor wäre der vernünftige gewesen. Ich hatte das Schiff allerdings auch nicht ständig im Blick. Und einen Check der Sensor-Logs sollten wir uns für später aufheben. Die PI-RA-SO-MA-FE hat einen Vorsprung, doch die beiden Verfolger sind ihr dicht auf den Fersen. Laut meiner Berechnungen wird das rentalianische Schiff es noch rechtzeitig schaffen, aber es wird verdammt eng und es darf nichts mehr schiefgehen.«

Im Holotank trafen die blauen Lichtpunkte der Torpedos auf den feindlichen Raumer. Jayden starrte gebannt auf die Anzeige.

»Multiple Treffer«, meldete Akoskin. »Ihre Schilde sind durch den Laserbeschuss auf zweiundfünfzig Prozent gefallen. Zur Kühlung werden die Laser jetzt abgeschaltet.

Von den Torpedos konnten zwei die Abwehr durchdringen.« Er schluckte. »Keinerlei Beschädigung feststellbar.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, fauchte Ishida.

Ein Icon auf Jaydens Konsole kündete von eingehenden Laserstrahlen, die die Bug-Schilde innerhalb weniger Augenblicke auf dreißig Prozent fallen ließen. Gleichzeitig war die nächste Salve der feindlichen Torpedos heran.

*

»Sir, die Flotte von Captain Feng existiert nicht mehr«, meldete Ivos Ortungsoffizierin. »Sein Verbund konnte den Feind auf zwei Schiffe dezimieren, die nun Kurs auf uns setzen.«

Captain Ivo Coen versuchte nicht an Feng zu denken, den er bei einem Landgang auf Pearl einmal getroffen hatte. Der Mann war ihm, als er ihm bei einem feuchtfröhlichen Abend in einem der Lokale von Nova Landing begegnet war, äußerst sympathisch gewesen.

»Wie viele Feinde halten auf uns zu?«

»Insgesamt sieben Raumer«, kam es von seinem Taktikoffizier. »Sie sind uns zahlenmäßig um zwei Schiffe unterlegen, die Tonnage ist jedoch relativ gleich.«

»Ich fürchte, das hat sowieso nicht viel zu sagen.« Ivo überdachte verzweifelt seine Optionen. Das NOVA-System durfte auf keinen Fall in die Hände der Unbekannten geraten – wer auch immer sie waren.

Sein Taktikoffizier ließ die kleine Flotte in einer Zangenbewegung auf den Feind zufliegen, der seine Schiffe in einer Kugelschalenformation herannahen ließ. Die letzten Sensorübermittlungen vom Kampf zwischen Feng und dem Feind hatten zumindest ein wenig Aufschluss über die Art und Stärke der Bewaffnung geliefert.

Täuschkörper waren nutzlos, die Laser der Feinde überlegen und ihre Hüllenpanzerung zu solide, als dass ein paar wenige Torpedos sie durchdringen konnten. Welche Möglichkeit blieb ihnen also noch?

Sein Taktikoffizier schlug einen Punktbeschuss vor. Dabei bildeten die Schweren Kreuzer ihres Verbandes einen Schutzwall gegen die ankommenden Torpedos, während die Dreadnoughts ihre überragende Offensivkraft auf jeweils einen Raumer konzentrierten und die Leichten Kreuzer ihre Wendigkeit einsetzten, um sich dem Feind auf anderen Vektoren zu nähern.

»Sir, die HYPERION meldet Feindkontakt«, sagte sein Ortungsoffizier mit belegter Stimme.

Ivo schloss für einige Sekunden die Augen. Er hatte gewusst, dass ein Mann wie Jayden Cross dem Gefecht nicht aus dem Wege ging, obwohl er damit sein Schicksal besiegelte. Sie konnten der Kolonie vielleicht einige Minuten erkaufen, hatten jedoch keine Chance gegen eine solche Übermacht. Ohne die Verteidigungsplattformen oder Entsatz war der Interlink-Kreuzer dem Untergang geweiht. Sollten sie das hier überleben, würde die Admiralität Ivo dafür mit einem gewaltigen Tritt in den Arsch hinauswerfen, so viel war sicher. Die HYPERION war zu wertvoll, als dass man sie in eine ausweglose Situation schicken durfte, würden sie sagen. Ivo allerdings sah die zahlreichen Menschenleben auf Pearl. Die waren wichtiger!

Die ersten Raketen starteten auf beiden Seiten, worauf Ivos Aufmerksamkeit sich wieder auf den Taktik-Screen richtete. Der Kampf begann.